: Der größte Händler von Gewalt
Gerade die Kakophonie, die Widersprüchlichkeit all der verschiedenen Meinungen, überraschte freundlich: Am vergangenen Wochenende, am hoch symbolischen Martin Luther King Day, gab es die bislang größte Friedensdemonstration in Washington
von TOBIAS RAPP
Vielleicht lag es ja an Martin Luther King, dass die Friedensdemonstrationen des vergangenen Wochenendes auch in den amerikanischen Mainstream-Medien ein Echo fanden. Alle großen Fernsehsender berichteten, in allen überregionalen Zeitungen fanden sich ausführliche Berichte. Das hatte in den vergangenen Monaten bei ähnlich großen Demonstrationen noch ganz anders ausgesehen. Aber der dritte Montag im Januar ist Martin Luther King Day, und es dürfte ein cleverer Schachzug der Organisatoren gewesen sein, sich das Motto der samstäglichen Antikriegsdemonstration – „Der größte Händler von Gewalt in der heutigen Welt ist meine eigene Regierung … um der Menschheit willen kann ich nicht weiter schweigen“ – ausgerechnet bei King zu borgen. Er ist immer noch einer der Säulenheiligen der amerikanischen Politik, ein Status, der die US-Öffentlichkeit gerne übersehen lässt, dass er wahrscheinlich auch an seinem 74. Geburtstag noch ein unbequemer Zeitgenosse gewesen wäre.
Weit über 100.000 Menschen (die Organisatoren sprachen gar von einer halben Million) waren trotz klirrender Kälte in die amerikanische Hauptstadt gekommen, um durch die Straßen zu ziehen, immer wieder „This is what democracy looks like“ zu skandieren und unzählige Gründe anzuführen, warum sie gegen den drohenden Irakkrieg sind.
Weil Krieg nie eine Lösung ist. Weil für Öl kein Blut fließen soll. Weil man nicht töten darf. Weil es ein Krieg ist, der bloß von den innenpolitischen Schwierigkeiten in den USA ablenken soll. Weil man keine Angriffskriege führen darf. Weil die Völker dieses Kontinents lange genug geknechtet worden sind. Weil man es nicht zulassen kann, dass George W. Bush in seiner Vendetta-Mentalität zu Ende führen will, was seinem Vater nicht gelang. Weil dieser Krieg gegen das Völkerrecht verstößt. Weil man das viele Geld besser in das Bildungssystem stecken sollte und nicht in noch mehr Waffen. Weil die patriarchalen Konstruktionen von Geschlecht dekonstruiert gehören und nicht durch Krieg bestärkt. Weil die USA die Welt da draußen in Ruhe lassen sollten.
Es war ein vielstimmiger Meinungscluster, der sich auf der Wiese vor dem Capitol versuchte Gehör zu verschaffen; für jeden der genannten Gründe und für noch einige mehr hatte sich die jeweilige Splittergruppe eingefunden. Man reichte sich Tee aus Thermoskannen, nahm Flugblätter entgegen und versuchte warme Ohren und einen kühlen Kopf zu behalten. Doch gerade diese Kakophonie, die Widersprüchlichkeit und Lautstärke all dieser verschiedenen Meinungen, überraschte einen höchst freundlich. Denn wenn in den vergangenen Wochen und Monaten in der linken US-Öffentlichkeit über das Für und Wider eines möglichen Irakkrieges diskutiert worden war, konnte man sich oft genug des Eindrucks nicht erwehren, hier würden lauter alte Männer lauter alte Schlachten schlagen.
Begonnen hatte es im Oktober mit der spektakulären Ankündigung des britischen Publizisten Christopher Hitchens, er werde seine Tätigkeit als Kolumnist für das linksliberale US-Wochenmagazin The Nation einstellen, da er keine Lust verspüre, weiter für eine Zeitung zu schreiben, „die sich mehr und mehr zu einer Echokammer für Leute entwickelt, die tatsächlich glauben, John Ashcroft sei eine größere Gefahr als Ussama Bin Laden“. Ohne große Sympathien für die US-amerikanische Regierung zu entwickeln, halte er einen Krieg für den Irak für notwendig, und er habe sich für das Frühjahr bereits mit Genossen aus der irakisch-kurdischen Opposition verabredet, um im befreiten Bagdad einige Flaschen Champagner zu öffnen. Für das Magazin der New York Times ließ er sich hemdsärmelig fotografieren und mit den Worten zitieren: „Du willst ein Märtyrer werden? Ich kann dir weiterhelfen.“
Hitchens war nicht der Einzige, der in das Lager der Bellizisten wechselte. Auch der amerikanische Pop-Papst Greil Marcus gab in der kleinen New Yorker Zeitschrift First Of The Month zu Protokoll: „Es ist die Pflicht der Linken, in diesen Zeiten nicht nur eine, sondern die maximalistische Kriegspartei zu sein. Die Feindseligkeiten dürfen sich nicht nur auf den Irak und den Sudan beschränken, sondern müssen auf einige Lieblinge unserer Rechten ausgedehnt werden: Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Pakistan.“
Marcus’ und Hitchens’ Wut richtete sich nicht zuletzt gegen die beiden großen alten Männer der amerikanischen Linken: Noam Chomsky und Gore Vidal. Beide hatten nach dem 11. September Bücher und Artikel veröffentlicht, in denen sie die US-amerikanische Politik der letzten fünfzig Jahre mehr oder minder direkt für den Terrorismus verantwortlich machten, der nun auf die USA zurückschlage. Beide sind selbstverständlich scharfe Gegner der US-Pläne, den Irak anzugreifen.
Mit dieser Meinung sind Chomsky und Vidal nicht allein. Auch Ramsey Clark, der Begründer des International Action Centers – unter dessen Dach auch die International Answer Coalition firmiert, die die große Friedensdemonstration am Wochenende in Washington organisierte –, ist ein Verfechter dieses Antiimperialismus, für den nationale Selbstbestimmung das höchste Gut ist. So hoch, dass sich Clark auch schon mit Gestalten wie Slobodan Milošević oder Robert Mugabe solidarisierte.
In einigermaßen geordneter Formation liegen sich diese Lager gegenüber: auf der einen Seite der am Vietnamkrieg geschulte Antiimperialismus, für den keine Öltonne umfallen kann, ohne dass die US-Administration ihre blutigen Hände im Spiel hat; auf der anderen Seite eine liberale Befreiungsrhetorik, die sich am Zweiten Weltkrieg orientiert. Für sie gehören totalitäre Herrscher entmachtet, koste es, was es wolle; in einem hegelianischen Glauben an die List der Vernunft ist ihr ziemlich gleich, wer diesen Job unternimmt und warum. Am Ende kann schließlich nur ein weiterer Schritt in Richtung Freiheit stehen.
So weit, so übersichtlich. Tatsächlich treffen Marcus’ und Hitchens’ Attacken die Antiimperialisten an einem empfindlichen Punkt. Sowohl Chomsky als auch Vidal bemühen sich nachzuweisen, dass so gut wie jede Ungerechtigkeit, die irgendwo auf der Welt passiert, dem imperialistischen Streben der US-Administration geschuldet ist, dass es überall um Ölinteressen und die geopolitische Beherrschung der Welt geht. Dabei ist ihnen völlig entgangen, dass die Welt sich verändert hat. Ihrem Antiimperialismus ist das revolutionäre Subjekt vor Ort verloren gegangen. Übrig geblieben ist nur eine fatalistische Weltsicht, die nichts als die Machenschaften der amerikanischen Regierung sieht.
Schaut man genau hin, so liest sich ihre Kritik der US-amerikanischen Politik auch dementsprechend herrschaftsorientiert. Großartige Perspektiven hat dieser Antiimperialismus keine, das Einzige, was er zu sagen hat – und das tatsächlich mit einiger Stringenz und Stärke –, ist: Wir glauben der US-Regierung ihre Kriegsgründe nicht. Einen Begriff von Befreiung oder Emanzipation findet sich hier jedoch keiner mehr. Wer nach einem Ersatz für den Vietcong sucht, wird in der irakischen Opposition nur Kriegsbefürworter finden.
So übersichtlich, so unbefriedigend aber auch. Denn so sehr man sich Saddam Hussein unter die Erde, vor Gericht oder ins Exil wünscht: Was berechtigt zu der Annahme, die irakische Opposition würde einen demokratischen Staat aufbauen, oder, um es in den Worten von Michael Massing zu sagen, einem der Nation-Redakteure: „Die irakische Opposition hat bei ihrer Arbeit im Exil eine dreißig Jahre währende Chance gehabt, umfassende demokratische Organisationen zu schaffen, und sie hat es nicht geschafft. Und nun wollen sie von Rumsfeld und Cheney etwas über Demokratie lernen?“ Woher auch der Glaube, die US-Regierung hätte ein tatsächliches Interesse an einem nachhaltigen „nation-building“ im Irak? Ganz zu schweigen von der zentralen Frage, was für ein Amerika das sein wird, das sich in einem permanenten Kriegszustand befindet? Denn so wichtig der drohende Krieg gegen den Irak ist, ist er nicht nur ein Teil des viel beschworenen „war on terror“? Ein Krieg, der eben auch einen massiven Abbau der Bürgerrechte mit sich brachte?
Als hätte die Linke verstanden, dass man diese Fragen nicht mit Penisfechtereien zwischen Großintellekuellen lösen kann, eröffnete die Nation Anfang dieses Monats eine Artikelreihe, die sich der formierenden Protestbewegung widmet. Der Auftakttext – ein Artikel unter dem schönen Titel „Tausend Friedensbewegungen sprießen“ (www.thenation.com) – ist eine Bestandsaufnahme von dem, was sich in den Gewerkschaftshäusern, auf den Uni-Campus, bei den Treffpunkten linker Gruppen, in den amerikanischen Kirchen, Moscheen und Synagogen, bei den Migrantenorganisationen und an vielen anderen Orten im Augenblick tut. Er liest sich wie eine vorwegnehmende Beschreibung jener Menschenmenge, die man am Samstag auch in den Straßen der amerikanischen Hauptstadt sehen konnte.
Vielleicht ist es tatsächlich sinnvoller, andere Fragen zu stellen als die, ob es wichtiger ist, einen Krieg zu verhindern oder einen Diktator zu stürzen. Sie wird ohnehin an anderer Stelle entschieden werden. Vielleicht ist es wichtiger zu fragen, woran es liegt, dass es in keiner Bevölkerungsgruppe der USA eine so niedrige Zustimmung zu einem möglichen Irakkrieg gibt wie unter den Afroamerikanern (sie liegt bei lediglich 19 Prozent), diese unter den Demonstranten von Washington aber auffallend unterrepräsentiert waren. Martin Luther King hin, Martin Luther King her.
Denn der Krieg gegen den Irak wird irgendwann vorbei sein, mit welchen Folgen auch immer. Die Regierung Bush wird den Amerikanern jedoch erhalten bleiben, und mit ihr wird auch der „war on terror“ noch eine ganze Weile weitergehen. Mit all den innenpolitischen Konsequenzen, die die muslimischen Communities schon jetzt zu spüren bekommen.
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