: Suche nach den Schuldigen
Die Schockwelle an den Börsen nach dem Scheitern des US-Rettungspaketes ist am Dienstag am deutschen Aktienmarkt weitgehend vorbeigegangen. Der DAX gab bis zum frühen Nachmittag vergleichsweise geringe 0,5 Prozent auf 5.776 Punkte nach. „Es gibt die Hoffnung, dass das Paket am Donnerstag doch noch verabschiedet wird“, sagte ein Händler. Am Morgen hatte der DAX noch mehr als zwei Prozent auf 5.658 Punkte verloren, den tiefsten Stand seit August 2006. Allerdings berichteten Marktteilnehmer von einer hohen Nervosität, unter der besonders Finanztitel litten. Der Eurostoxx-50 gab 0,3 Prozent nach. Der CAC-40 in Paris stieg sogar leicht um 0,3 Prozent; der FTSE-100 in London stand am Nachmittag 0,6 Prozent im Plus. In die Knie gegangen war dagegen der Aktienindex in Japan: Der Nikkei fiel um rund 4 Prozent. RTR
AUS WASHINGTON ADRIENNE WOLTERSDORF
Er wirkte saftlos und klein. Als US-Präsident George W. Bush am Dienstagmorgen vor die US-Presse trat, um erneut sein machtvolles Gewicht in die Waagschale der Washingtoner Krisenlage zu werfen, passierte – nichts. Wie schon einige Stunden zuvor ermahnte Bush den rebellischen US-Kongress erneut eindringlich, das von Finanzminister Henry Paulson erdachte 700 Milliarden Dollar teure Rettungspaket für den gebeutelten Finanzsektor zu bewilligen.
Zuvor hatte Bush am Montagnachmittag die deutlichste Quittung für seine von Anmaßungen und Vertrauensbrüchen charakterisierte Amtszeit erhalten. Zwei Drittel seiner republikanischen Parteigenossen ließen am Montag trotz seiner mehrmaligen deutlichen Bitten den Rettungsplan scheitern. Ein unmissverständliches Anzeichen dafür, dass der Präsident so kurz vor der November-Wahl nicht nur eine lahme, sondern bereits eine tote Ente zu sein scheint.
Da nützte es wenig, dass Bush müde aussehend versuchte, Optimismus zu verbreiten. Das Rettungspaket sei noch nicht gescheitert, wiederholte er mehrmals. Das Gesetzgebungsverfahren sei noch nicht beendet. Dann versuchte er es erneut mit Drohungen. „Wir befinden uns an einem kritischen Punkt für unserer Wirtschaft.“ Falls die Nation diesen Kurs fortsetze, werde der wirtschaftliche Schaden „schmerzhaft und dauerhaft“.
Solche Drohungen waren aber bereits am Montag wirkungslos verpufft. Von aufgebrachten Wählern mit E-Mails, Drohungen und Beschimpfungen bestürmte Abgeordnete stimmten mehrheitlich für Nein. Republikanische Organisationen und sogar Privatpersonen hatten in den letzten Tagen mobil gemacht und ganzseitige Anzeigen in den großen US-Zeitungen geschaltet. Eine Leserin beschimpfte in der New York Times die Befürworter der staatlichen Finanzspritze für die Wall Street am Montag sogar rundheraus als „Stalinisten“. Zum großen Entsetzen aller Beobachter stimmten am Ende dann 228 Abgeordnete gegen das Rettungspaket – und nur noch 205 dafür.
Die Verwirrung war so groß, weil noch am Sonntag die führenden Vertreter beider Parteien optimistisch verkündet hatten, dass das politische Tauziehen um den von US-Finanzminister Henry Paulson vorgelegten Notplan mehr oder minder beendet und Kompromisse eingearbeitet worden seien.
Paulson, der Architekt des umstrittenen Plans, schien am Montag zunächst sprach- und ratlos zu sein. „Wir müssen etwas neu zusammenstellen, was funktioniert – so schnell wie möglich“, sagte er bleich. Ob der Minister, der erwiesenermaßen ein fähiger Wall-Street-Manager, in der Krise aber ein lausiger Verhandler war, beim zweiten Anlauf das politische Feingefühl besitzt, um einen neuen, kompromissfähigen Plan zu schmieden, das bezweifelten Beobachter am Dienstag. Paulson war während der emotional aufgeladenen Verhandlungen mit dem Kongress kaum bereit gewesen, von seinen ursprünglichen Forderungen – 700 Milliarden US-Dollar zum Aufkauf fauler Kredite und bloß keine Fragen – abzuweichen.
Wie jetzt weiter?
Die Umverteilung des Geldes funktioniert kaum noch. So parkten die Banken in der Euro-Zone 44 Milliarden Euro überschüssiges Geld über Nacht bei der EZB – anstatt es sich gegenseitig auszuleihen. In normalen Zeiten belief sich das Volumen hier meist auf einen unteren dreistelligen Millionenbetrag. Zugleich mussten Banken, die offenbar über den Geldmarkt keine Mittel fanden, bei der EZB knapp 15,5 (Vortag 6,8) Milliarden Euro aufnehmen. Seit Dezember 2002 hatten die Banken sich nicht mehr so viel Geld bei der EZB leihen müssen. Dennoch lechzen die Banken weiter nach Liquidität. So teilte die EZB beim wöchentlichen Hauptrefinanzierungsgeschäft 190 Milliarden Euro zu, obwohl nach ihren eigenen Berechnungen die Banken einen Mittelüberschuss von 40 Milliarden Euro haben. 419 Banken und Sparkassen hatten dafür Gebote über 228 Milliarden Euro abgegeben. RTR
Da am Dienstag in Washington aufgrund des jüdischen Neujahrs Rosch ha-Schana keine Verhandlungen geführt wurden, blieb die Frage „Wie weiter?“ zunächst den TV-Sendern überlassen. Nur so viel war zu hören: Die Kammer werde am Donnerstag wieder zusammentreten, erklärte der demokratische Mehrheitsführer Steny Hoyer. Unklar blieb aber, ob das Hilfspaket der Bush-Regierung auf der Tagesordnung stehen werde.
Auf das Washingtoner Debakel reagierend, schlug der demokratische Präsidentschaftskandidat Barack Obama vor, zunächst die staatliche Einlagenversicherung für US-Konteninhaber von 100.000 auf 250.000 Dollar zu erhöhen. Das sei ein Schritt, so Obama, der Kleinunternehmern in der gegenwärtig von Banken auferlegten Kreditsperre helfen könne und das US-Banksystem verlässlicher machen würde. Obama, der vergangene Woche in Anspielung auf den Aktionismus seines Rivalen John McCain mehrmals gesagt hatte, es sei besser, sich als Kandidat aus den Washingtoner Verhandlungen herauszuhalten, kündigte an, umgehend nach Washington reisen zu wollen, um mit Kongressabgeordneten zu sprechen.
Kaum war das Scheitern des Rettungsplans bekannt geworden, begannen sich Obama und McCain gegenseitig heftigst die Schuld an der Misere zu geben. Während der Demokrat McCain vorwarf, seit 20 Jahren gegen eine dem gesunden Menschenverstand naheliegende Regulierung des Finanzsystems zu kämpfen, beschimpfte McCain seinerseits Obama als einen Politiker, der seine persönlichen Ziele vor das Wohl des Landes setze.
Zuvor hatte McCain seinen Wirtschaftsberater Doug Holtz-Eakin in die Spur geschickt, um Obama und den Demokraten die Schuld an der Misere zu geben, ungeachtet der Tatsache, dass zwei Drittel der Republikaner gegen das Paket gestimmt hatten. Obama sagte auf einer Wahlkundgebung, dass McCain allein in diesem Jahr getreu der republikanischen Hardliner-Philosophie zwanzigmal gefordert habe, weniger Regulierungen zu schaffen. Kürzlich – referierte Obama genüsslich – habe sein Konkurrent sogar gesagt, Deregulierung habe dem Wirtschaftswachstum geholfen. „Senator, von welcher Wirtschaft sprechen Sie?“, rief Obama der daraufhin johlenden Menge zu.
Während die Börsenkurse am Dienstagmorgen – nach dem historischen Fall des Dow-Jones-Indexes um 777 Punkte am Montag – vorsichtig um gut 2 Prozent stiegen, gab es weitere besorgniserregende Wirtschaftsdaten. Der Standard & Poor’s/Case-Shiller-Hauspreisindex meldete, dass der Preisverfall bei US-Wohnimmobilien im Juli an Geschwindigkeit zugenommen habe und in manchen Regionen ein Minus von 16,3 Prozent erreicht habe, ein Rückgang wie nie zuvor. Zur Erinnerung: Es war der Rückgang der Immobilienpreise, der die Finanzkrise vor einem Jahr losgetreten hatte. Analysten befürchteten zudem, dass der in den kommenden Tagen erwartete neue Job-Index ebenfalls nichts Gutes verheißen werde und die Arbeitslosenrate einen neuen Höchststand erreichen werde.
Seit der Weltwirtschaftskrise in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist es in den USA immer wieder zu staatlichen Rettungsaktionen für Privatfirmen gekommen.1932: Die Regierung gründet die Gesellschaft Reconstruction Finance, um die Wirtschaft über eine erleichterte Kreditvergabe anzukurbeln. 1933: Die Regierung kauft den Banken 3 Milliarden Dollar fauler Hypothekenkredite ab, unterstützt von Zwangsversteigerung bedrohte Hauseigentümer. 1979: Die Regierung verschafft Chrysler subventionierte Kredite über 1,2 Milliarden Dollar, um eine drohende Insolvenz zu verhindern. 1984: Die Continental Illinois National Bank and Trust wird verstaatlicht. 1989: Der Kongress gründet die Gesellschaft Resolution Trust, die nicht mehr einlösbare Immobilienkredite in Milliardenhöhe übernimmt. Die Rettungsaktion kostet den Steuerzahler 125 Milliarden Dollar. 1998: Die Regierung vermit- telt eine Notfinanzierung von 3,6 Milliarden Dollar für den Hedgefonds Long Term Capital Management (LTCM). AP
Hoffnung auf den Senat
Im Washingtoner Kapitol richteten sich unterdessen die Hoffnungen und Gebete auf den US-Senat. Unter den 100 Senatoren, hieß es von Kommentatoren, herrsche größere Disziplin und mehr Zustimmung für das ideologisch umstrittene Rettungspaket. Führende Demokraten, darunter Parlamentspräsidentin Pelosi und der Vorsitzende der demokratischen Fraktion, Emanuel, meinten auch, dass eine zuvor erlangte Senatsmehrheit beim zweiten Anlauf genügend Druck auf die rebellischen Abgeordneten ausüben könne. „Der Senat soll jetzt abstimmen, dann schicken wir den Gesetzentwurf zurück ins Repräsentantenhaus“, sagte Emanuel.
Wie unter den beiden Präsidentschaftskandidaten setzte auch im Kongress umgehend das erboste Fingerzeigen ein. Während die Demokraten John McCains ergebnislosen Krisengipfel am vergangenen Donnerstag verantwortlich fürs Scheitern machten, beschuldigten die Republikaner Nancy Pelosi, die mit einer politisch aufgeladenen Rede kurz vor der Abstimmung den Gesetzentwurf „gekillt“ habe. Dieser Vorwurf kam vom frustrierten republikanischen Minderheitenführer John Boehner, der sich schlicht von seiner Fraktion hintergangen fühlte. Noch am Sonntag hatte Boehner verkündet, seine aufgebrachten und verunsicherten Republikaner auf Linie gebracht zu haben. „Die Administration muss nun überprüfen, ob sich die philosophischen und ideologischen Differenzen zwischen dem Paulson-Plan und der Parteibasis noch überbrücken lassen“, sagte Boehner sichtlich erschöpft.
Während die Demokraten nach den Untreuen in ihren eigenen Reihen Ausschau hielten – es sollen vor allem hispanische und afroamerikanische Abgeordnete aus konservativ-demokratischen Wahlkreisen ausgeschert sein –, hagelte es bitterböse Vorwürfe auf die republikanischen Rebellen. In wütenden Kommentaren räsonierten sogar konservative US-Medien, dass die republikanischen Neinsager ohne Rücksicht auf die Einheit ihrer Partei den „Weg des geringsten Widerstandes und des kurzzeitigen Wohlgefallens“ gewählt hätten. Die meisten derjenigen, die am Montag mit Nein stimmten, müssen sich im November zur Wiederwahl stellen – angesichts der landesweiten Frustration könnte es für die meisten unter ihnen verdammt knapp werden.
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