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Zurück nach Stalingrad

„Auf Stalin war Verlass, Putin ist wankelmütig“, sagt ein Vierzigjähriger

aus WolgogradKLAUS-HELGE DONATH

Nur die weißen Zopfbändchen bewegen sich, die exerzierenden Mädchen verziehen unterdessen keine Miene. Auch nicht, als sie auf Kommando in zackigem Stechschritt und mit präsentiertem Gewehr vor dem Mahnmal des Unbekannten Soldaten aufeinander zu marschieren.

Jeder zwölfjährige Schüler in Wolgograd muss dieses zehntägige Exerzitium einmal absolviert haben, Höhepunkt der Unterweisung ist eine einmalige Ehrenwache vor einem Kriegerdenkmal. Russlands sonst so modebewusste Mädchen tragen einfachste Uniformen, die selbst auf den bescheidenen Zierrat der Nachkriegszeit – Sterne und Litzen – verzichten. Nur die Schleifchen im Haar erinnern an einen feierlichen Anlass.

Das Mahnmal des Unbekannten Soldaten steht in der Wolgastadt am Platz der gefallenen Krieger, auf dem seit Tagen Arbeiter weiße und rote Lamellen in ein riesiges Gerüst hängen. Steckelemente statt großflächiger Plakate werden hier benutzt, weil in Wolgograd häufiger der Vergangenheit gedacht wird als anderswo. Wenn die Arbeiter nach drei Tagen ihr Werk getan haben, wird hier zu lesen sein: „1943–2003 – 60 Jahre Stalingrad“. Vor dieser Kulisse werden die Honoratioren der Stadt und Russlands Präsident Wladimir Putin sprechen, auf dessen Zusage die Stadtväter schon ungeduldig warten. Der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, Alexej II., hat seine Teilnahme am 60. Jahrestag der Schicksalsschlacht des Zweiten Weltkriegs schon fest zugesagt.

In der Wolodarskijstraße, die nach einem bolschewistischen Revolutionär der ersten Stunde benannt ist, befindet sich der „Posten Nummer 1 für patriotische Erziehung“ in einem Kellergeschoss. Ein tiefrotes gewienertes Schild hängt an der Hauswand. Unten öffnet ein uniformierter Schüler salutierend einen Türspalt. Dann kommt der Lehrer. Seit vier Jahren leitet der pensionierte Militär Wladimir Reschetnikow den Hort der Vaterlandsliebe, durch den seit Gründung 1966 über 200.000 Kinder geschleust wurden. Seit Wladimir Putin die militärisch-patriotische Erziehung an den Schulen wieder zum Pflichtprogramm erklärt hat, sind die Erfahrungen des „Postens Nummer 1“ sehr gefragt. Der hoch gewachsene Militär, ein ruhiger Typ, kein chauvinistischer Heißsporn, legt Wert darauf, dass die Kinder keine Kriegsausbildung erhalten. „Disziplin, Moral, Anstand. Kurzum: Zum Bürger eines freien Landes sollen die Kinder erzogen werden“, sagt er. Nur, Patriotismus ohne Militarismus in Russland – gibt es so etwas überhaupt?

Den Kindern gefällt es jedenfalls. In einer Wandzeitung schreibt die sogenannte „Pressesekretärin“ des letzten Kurses: „Danke für die schönsten Tage meines Lebens“, ein anderer Kursteilnehmer kommt schon etwas altklug daher: Er schreibt über die Zeit, die sich tief eingeprägt hätte, und die Verpflichtungen, die Erinnerung wach zu halten. Nun ja.

Am 23. August 1942 warf die deutsche Luftwaffe 1.000 Tonnen Bomben auf die sozialistische Musterstadt ab. Heinkel-Bomber, Stukageschwader und Junkers verwandelten sie in ein Flammenmeer. 40.000 Frauen und Kinder starben in einer Nacht. Fünf Monate später ging die 6. Armee General Paulus’ in Gefangenschaft und mit ihr der Mythos des unbesiegbaren Nazideutschland unter. Auf den Schlachtfeldern blieben Millionen Tote zurück – zwei bis drei Mal mehr sowjetische als deutsche Soldaten –, deren Gebeine mit jeder Schneeschmelze noch heute an die Oberfläche gespült werden. Danach begann der Marsch der Roten Armee auf Berlin. Stalingrad steht seither für den Sieg, die Rettung der Heimat, Mut und Opferbereitschaft. Daran änderte auch die Umbenennung 1961 in Wolgograd nichts. In den Köpfen seiner Bewohner lebt Stalingrad weiter, überall mahnt die Erinnerung, die auch die nachwachsenden Generationen nicht entlässt. Der Totenkult verbindet.

Einigen reicht das nicht. Besonders nicht den Kommunisten, die in Wolgograd noch das Sagen haben. Aber auch die Veteranen und ein beträchtlicher Teil der älteren Generation sind nicht zufrieden. Wladimir Andropow, der stellvertretende Vorsitzende der Gebietsduma, gründete mit Gleichgesinnten das Komitee „Geben wir der Mutter Heimat Stalingrad zurück“. Im Russischen schwingt da Ressentiment mit, als hätte jemand – vermutlich der Westen – dem Land die Erinnerung gestohlen. Das Komitee ist zuversichtlich, noch in diesem Jahr die Umbenennung zu erreichen. Andropow hat alte Mitsteiter in sein weiträumiges Büro in der Duma geladen, die heute nur noch an der Propagandafront kämpfen. Veteran Fjodor Fjodorowitsch (78) hat die militärisch-patriotische Ausbildung in Wolgograd aufgebaut und hält ein ausführliches Referat über die Rolle des Staates bei der Bildung der jungen Persönlichkeit. An seiner gepflegten blauen Uniformjacke und der des Majors a. D. Drupin prangen zahlreiche Auszeichnungen und Medaillen. Mit von der Partie ist auch der Vorsitzende des internationalen Kuba-Komitees, der als Einziger so aussieht, als würde er bei allem Patriotismus auch gerne mal eine gute Zigarre schmauchen. Zwischen den Männern sitzt noch die fast 80-jährige Proskowa Geraschtschenka, die als Sanitäterin 1945 bis nach Wien gelaufen ist. Sie ist noch immer eine Schönheit, die die Frontkämpfer um den Verstand gebracht haben muss. Ob sie deren Avancen erwiderte? Sie scheint nur einen wirklich geliebt zu haben: Josef Dschugaschwili, der sich später Stalin nannte und dessen Namen die Stadt seit 1925 trug. Für Proskowa war der sowjetische Diktator ein untadeliger Kommunist, der die Menschheit vor der Verderbnis rettete. Was ihm vorgeworfen würde, hätten deutsche Geheimdienste verübt. Punkt, fertig, aus. Die Gulag-Lüge steht. Hier weht ein eisiger Wind, so eisig wie damals vor 60 Jahren, als 91.000 Wehrmachtssoldaten bei Temperaturen von minus 35 Grad auf ein Ende warteten. Das Feindbild hat sich in diesem Kreis gehalten, ganz anders als sonst in Russland, das keinen Hass kennt und sehr genau zwischen Nazis und Deutschen zu unterscheiden weiß, zu genau manchmal – das Mitläufertum, die Obrigkeitshörigkeit vieler Deutscher ist verziehen.

Dass Wladimir Putin im Dezember vor Militärangehörigen und Veteranen in Moskau der Umbenennung erst zustimmte und dann einen Rückzieher machte, bringt ihm keine Sympathien ein. Der Komiteevize Alexander Pantschenko, auch ein ehemaliger, dem Auftreten nach hartgesottener Offizier Mitte vierzig, meint kurz und bündig: „Auf Stalin war Verlass, Putin ist wankelmütig.“ Die Runde stimmt nickend und schnaufend zu. Nur KP-Politiker Andropow regt sich nicht, für ihn ist das ganze eher ein Spektakel, ein PR-Gag, um seiner Partei Aufmerksamkeit zu sichern.

Für den ganzen demokratischen Klimbim von Gesetzesvorlagen, Verfahren, gar Referenden hat diese nichts über. 1961 hatte KP-Chef Nikita Chruschtschow Stalingrad per Dekret in Wolgograd umbenannt. So soll es Putin nun auch machen, mit einem Federstrich, und die Sache wäre vom Tisch.

Am Ufer der Wolga im Stadtzentrum steht nur noch eine als Mahnmal erhaltene Ruine neben dem Panorama-Museum, das ein monumentales, rundläufiges, 2.000 Quadratmeter großes Schlachtengemälde beherbergt. Die unzähligen Leichen lassen sich nicht nach Freund oder Feind identifizieren, dafür aber einige Helden der Roten Armee, die Legende geworden sind. Ansonsten duldeten weder die sowjetische Geschichtsschreibung noch die des Gegners individuelles Heldentum. Die Russen erklärten pauschal alle Soldaten, die in die Kämpfe verwickelt waren, zu Heroen. Schwer umkämpfte Städte erhielten den Titel „Heldenstadt“. Meist verbarg sich dahinter das Geständnis, dass die Befreiung kolossale Opfer gekostet hatte. Opfer, die hätten vermieden werden können, wenn Menschenleben etwas gezählt hätten.

In den Köpfen seiner Bewohner lebt Stalingrad weiter – trotz Umbenennung

Gerade die kollektive Heroisierung, die Auszeichnung, die nicht an selbstloses und vorbildliches Handeln des Individuums geknüpft ist, garantiert den Mythos um den Vaterländischen Krieg und dessen nachhaltiges Hineinwirken in die Gegenwart.

Swetlana Argaszewa, die stellvertretende Museumsdirektorin, hält den erbitterten Streit um die Umbenennung für ein Altersproblem. „Die abtretende Generation hat Angst vor dem Vergessenwerden.“ Die Ängste sitzen indes tiefer. Es ist eine böse Ahnung, das Sakrale der kulturellen Erinnerung könnte eines Tages von der nüchternen Geschichtswissenschaft erobert werden. Mit der haben die Museumsmacher arge Probleme, deutet die Expertin für Schlachtengemälde vorsichtig an. Sie wollen zum Jahrestag erstmals zeigen, dass und wie Westalliierte der bedrängten Sowjetunion geholfen haben.

Einer, der die Debatte um die Rückbenennung ein für alle Mal beenden möchte, ist Boris Pylin. Der Sozialdemokrat und Mitstreiter Michail Gorbatschows ist ebenfalls ein pensionierter Militär. Mit ein paar Getreuen sammelte der ehemalige Pilot 3.500 Unterschriften für ein Referendum. Wenn das zu einem eindeutigen Ergebnis kommt, könnte Wolgograd ein ganz normales Leben beginnen, meint er.

Vor der ewigen Flamme des Unbekannten Soldaten findet wieder ein Wachwechsel statt. Ob die jungen Wachen manchmal auch an das Schicksal der Menschen im zerbombten Grosny denken? Dann allerdings hätte sich die patriotische Erziehung für Russland schon heute ausgezahlt.

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