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Türkei hält ihn nur für armen Irren

Das deutsche Gerede vom „Staatsfeind Nummer eins“ entspricht nicht der türkischen Wirklichkeit

ISTANBUL taz ■ In der Türkei sind das Urteil gegen und das anschließende Verschwinden von Metin Kaplan bislang eher zurückhaltend zur Kenntnis genommen worden. Alle großen Zeitungen begnügten sich gestern mit kurzen Agenturberichten, die lediglich vermelden, dass Kaplan nunmehr im Prinzip abgeschoben werden darf. Auch dass der Islamistenführer abtauchte, hat hierzulande noch keine Reaktionen hervorgerufen – niemand beschuldigt die deutschen Behörden, sie hätten den Mullah absichtlich laufen lassen.

Das Desinteresse in der Türkei hat verschiedene Ursachen. Zunächst einmal ist das juristische Verfahren – die unterschiedlichen Prozesse vor dem Strafgericht, die Verhandlungen über eine Auslieferung und zuletzt das Hin und Her um eine Abschiebeerlaubnis – in der Türkei kaum nachvollziehbar. Auch jetzt ist ja die Abschiebung noch nicht endgültig, sodass man hier erst einmal abwartet, bis Kaplan tatsächlich im Flugzeug Richtung Ankara sitzt.

Doch selbst dann wird das deutsche Gerede vom Staatsfeind Nummer eins der Wirklichkeit in der Türkei kaum mehr entsprechen. Das überwältigende Interesse von Otto Schily, zu demonstrieren, dass die Bundesregierung in der Lage ist, jemanden wie Kaplan loszuwerden, korrespondiert längst nicht mehr mit einem gleich großen Interesse in der Türkei, Kaplan auch zu bekommen. Das hat damit zu tun, dass sich das öffentliche Klima hier seit dem Regierungswechsel im November 2002 sehr geändert hat. Die Auseinandersetzung mit und um Kaplan stammt aus dem Jahr 1998. Damals soll der militante Islamist den Befehl gegeben haben, den jährlichen Staatsakt zum Todestag von Kemal Atatürk am 10. November vor dem Mausoleum, wo die gesamte Staatsspitze versammelt war, mit einem Sportflugzeug anzugreifen. Dieses Attentat hat der türkische Geheimdienst angeblich im letzten Moment vereitelt.

Eine Reihe verdächtiger Islamisten wurde damals wegen des Attentatsversuchs verurteilt, die Türkei fordert seitdem die Auslieferung von Metin Kaplan. Für die damalige Regierung und den damaligen Generalstab war der Attentatsversuch ein weiterer Beweis für die Gefährlichkeit der Islamisten und entsprechend massiv wurde der Anschlagsversuch propagandistisch aufbereitet. Bis zuletzt wurden aber auch immer wieder Zweifel laut, ob ein Anschlag wirklich so wie von den Sicherheitskräften behauptet geplant war. Denn die Kaplan-Bewegung ist eigentlich ein reines Exilphänomen, das in der Türkei selbst über keinerlei Rückhalt verfügt. Keine der verschiedenen islamischen oder islamistischen Gruppen hängt mit Kaplan zusammen. Man traute dieser Gruppe deshalb schon aus logistischen Gründen eigentlich ein Attentat dieser Größenordnung nicht zu.

Zwar hat sich diese Einschätzung seit dem 11. September und vor allem den Attentaten in Istanbul im November vergangenen Jahres geändert, doch mittlerweile haben sich in der Türkei die Vorzeichen der politischen Auseinandersetzung gedreht. Der amtierenden Regierung, die selbst ursprünglich aus den Reihen des politischen Islam kommt, ist überhaupt nicht daran gelegen, Islam und Terror immer wieder zusammenzubringen. Für sie sind Leute wie Kaplan arme Irre, denen man nicht allzu viel Aufmerksamkeit entgegenbringen sollte. Wird Kaplan tatsächlich in die Türkei ausgewiesen, wird die amtierende Regierung alles dafür tun, dass der Prozess so unspektakulär wie möglich über die Bühne geht. Und ganz sicher wird man sich nicht ausgerechnet wegen Kaplan vorwerfen lassen wollen, es gäbe in der Türkei immer noch keine fairen Prozesse. JÜRGEN GOTTSCHLICH

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