: Genosse Redlich und Herr Fuchs
aus Berlin ULRIKE WINKELMANN
Nach der einen Sendung muss Horst Seehofer schon zur nächsten. Er greift nach der Dokumentenmappe, schlüpft in die Jacke, nicht hastig, zügig. Noch nicht einmal Zeit für ein Glas Wein mit der Moderatorin Gabi Bauer und seinem Gesprächspartner Ottmar Schreiner hat er. Schreiner dagegen hat noch ein halbes Stündchen. „Bleiben Sie doch auch“, sagt er. Seehofer kann nicht, aber er macht den Abschied noch ordentlich, ergreift Schreiners Hand und Oberarm und wünscht ihm weiter „alles Gute“. Sie duzen sich, seit sie in den Achtzigerjahren gemeinsam im Ausschuss für Arbeit und Soziales saßen, bevor Seehofer dann Staatssekretär und Minister wurde. Beide lachen, der CSU-Mann aufmunternd, der Sozialdemokrat verlegen. Seehofer muss jetzt wirklich los.
Vorher, in der Sendung, war zu erleben, wie der Widerständler der SPD den Widerständler der CSU in der denkbar höflichsten Form korrigierte. „Also das tut mir jetzt wirklich furchtbar Leid“, erklärte Schreiner, „es ist leider falsch, was Sie sagen.“ Es war ihm unangenehm, die Sache mit den überbordenden Ausgaben für Qualifizierungsmaßnahmen zurechtzurücken. Aber das war bloß ein Detail. Ansonsten waren sie sich einig: „Politiker sollten nur die Dinge tun, die man sich selbst auch zumuten würde“, sagte Horst Seehofer, und Schreiner nickte und fügte an: „Mir hat ein Satz von Herrn Seehofer besonders gut gefallen: Man muss sich immer in die Situation der Betroffenen hineinversetzen.“
Schreiner und Seehofer. Der eine wird morgen im Bundestag nach wochenlangem Ausharren auf der Minderheitenposition Gerhard Schröders Gesetzen zur Arbeitsmarktreform doch noch zustimmen – mit schlechter Laune zwar, aber einigen Zugeständnissen des Kanzlers. Der andere wird heute Nachmittag vor den CSU-Abgeordneten im Bundestag dagegen angehen, dass seine Kollegen die Privatisierung des Sozialstaats so gutheißen, wie es CDU-Chefin Angela Merkel will.
Für ihre Widerspenstigkeit gelten sie den dankbaren Medien in den letzten Wochen als Ritter der sozialen Gerechtigkeit. „Parteirebellen“ hat die Redaktion von Gabi Bauer sie genannt: „Zwei Sozialpolitiker auf Crashkurs“. Wenn sie in der Fernsehöffentlichkeit auftreten, sprechen sie beide betont ruhig, fast leise, ohne dramatische Betonung und Erregung. Keinesfalls soll ihnen nachgesagt werden, sie seien bloß populistisch oder unsachlich. Rebellen ja, aber keine Neurotiker und schon gar keine Radikalen, vor allem aber: Menschen. „Eine Seele von Mensch“, sagt Seehofer über Schreiner. „Absolut zuverlässig“, sagt Schreiner über Seehofer.
Ein Unterschied ist, dass Seehofer über Ämtermacht verfügt. Er ist Vizechef der CSU und der Unionsfraktion im Bundestag. Schreiner ist nur Abgeordneter aus Saarlouis und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen – der zwar viele Arbeitnehmer in der SPD angehören, von der man aber nicht so viel hören würde, wenn dies nicht der einzige Titel wäre, der dem 57-Jährigen im Bundestag noch anhängt.
Das war einmal anders. Bundesgeschäftsführer der SPD war Ottmar Schreiner bis 1999, was dem heutigen Generalsekretär, also dem Posten eines Olaf Scholz, weitgehend entspricht. Dann schmiss Oskar Lafontaine seine Ämter hin – auch für seinen saarländischen Vertrauten Schreiner gänzlich überraschend –, und ein halbes Jahr wurde im Kanzleramt getüftelt und intrigiert, bis nach der verlorenen Landtagswahl im Saarland die Gelegenheit gekommen war, Schreiner loszuwerden.
Am Tag vor der SPD-Fraktionssitzung über die umstrittenen Hartz-Gesetze sitzt Ottmar Schreiner in seinem Berlin-Mitte-Lieblingscafé. Er gibt sich gelassen. „Ich ruhe vollkommen in mir selbst“, sagt er. Kette raucht er auch sonst. „Postenschieberei und Funktionsgedöns ist mir sowieso egal“, sagt er. Immer schaut er über die Brille hinweg, deren Steg auf dem unteren Nasenfünftel sitzt. Vielleicht eine Maßnahme, müde und traurige Tränensäcke zu verbergen. Er will nicht traurig wirken, obwohl das zu der Rolle des Sozialstaatlers passen könnte. Schreiner arbeitet redlich, mit Argumenten. Inhalte fordert er und kein Geschwätz über Personen. „Und jetzt lassen Sie doch diesen Boulevard-Mist, dass ich dem Schröder noch eine verlorene Juso-Vorsitz-Wahl von vor 25 Jahren nachtrage! Demnächst sagt man mir auch noch Vielweiberei und einen Gehirntumult nach!“
Horst Seehofer ist da anders. Er lässt seine Biografie wirken. Eine Herzmuskelentzündung hätte den großen, massiven Ingolstädter Anfang 2002 beinahe das Leben gekostet. Seine Rückkehr in die Politik feierte der 54-Jährige als doppelter Kenner: Der Exgesundheitsminister war nun auch Ex-Intensivpatient. „Nach der Krankheit habe ich mir vorgenommen, mir Sachen nicht mehr so zu Herzen zu nehmen und mir den Schlaf nicht mehr rauben zu lassen“, sagt er. „Das geht jetzt mit den Herzog-Vorschlägen nicht mehr. Jetzt schlafe ich wieder schlecht.“
Dafür, dass er seine Krankheit einsetzt, muss er auch in Kauf nehmen, dass seine Gegner sie gegen ihn verwenden. Selbst Unionspolitiker zweifelten halböffentlich an der geistigen Gesundheit des Parteifreundes. Als er sich im Frühsommer zur grünen Idee der Bürgerversicherung bekannte, über „Privatisierungsorgien“, gar über „Neoliberale“ schimpfte, die frisch gegründete Herzog-Kommission verließ und sich auch sonst nicht wie ein Parteisoldat verhielt, mutmaßten CDU-Führungskräfte über Spätfolgen seines Krankenhausaufenthalts.
Seehofers Hauptverbündete sind die Medien. Er weiß das. Als er nach dem zweiten Fernsehauftritt schon wieder auf dem Weg zum Auto ist, legt er den Kopf schief. „Ihr seid schon mächtig, ihr Medien“, sagt er, wohl wissend, dass er gerade eine weitere Fernsehredakteurin mit koketter Bescheidenheit eingewickelt hat. Spätfolgen? Nun, seine innere Unabhängigkeit sei gewachsen, sagt Seehofer. „So eine Krankheit verändert einen“, meint er und lächelt.
Als Einzelgänger war er allerdings schon vorher bekannt. Und ein Gesundheitsexperte, der erst gegen, dann für die organisierte Ärzteschaft Politik gemacht hat, erst für, dann gegen die Positivliste für Arzneimittel gekämpft hat, erst gegen die Privatisierung des Zahnersatzes polemisiert, sie dann in den Reformgesprächen mit der SPD vertreten hat, muss schon mehr als eine Verwandlung durchgemacht haben.
Nie aber hat Seehofer den Grundsatz der gesetzlichen Krankenversicherung, dass Reich für Arm, Jung für Alt und Gesund für Krank zahlt, bezweifelt. In einer Union unter Helmut Kohl wurde diese Frage allerdings auch nicht gestellt. Doch weiß Seehofer im Kampf gegen Angela Merkels Kopfpauschale nicht nur seinen Chef Edmund Stoiber hinter sich, sondern auch – laut Umfragewerten – die meisten Bundesbürger.
Mühelos gelingt es ihm, einflussreiche Leitartikler in Gesprächen so einzunehmen, dass sie täglich Kommentare im O-Ton Seehofer schreiben: dass die mächtigste Lobby im Land die Privatversicherer sind, dass all die Politiker und Professoren selbst von den Reformen nie betroffen sein werden, die sie verlangen. „Ich ja auch nicht“, sagt Seehofer im Auto. Aber er werde nie vergessen, „wie wir als Kinder jeden Freitag immer zu der Baufirma mussten, wo unser Vater arbeitete. Wir mussten den Vater mit der Lohntüte abholen, damit die nicht zusammen in die Gastwirtschaft wanderten.“ Er reicht dieses biografische Detail herüber wie eine Serviceleistung.
Einem Ottmar Schreiner, der mit weniger Einfluss, aber einem umso größeren Etikett als Nestwärme-Politiker ausgestattet ist, fällt das Bekenntnis zu einer Kleine-Leute-Herkunft dagegen überraschend schwer. Außerdem wollte er ja über Inhalte reden. „Meine Mutter musste für uns wirklich jeden Pfennig umdrehen nach dem Krieg“, sagt er. „Jeden Pfennig, nicht etwa jede Mark.“
Auch er fühlt sich nicht nur daheim im Saarland, sondern bei der Mehrheit der Bevölkerung aufgehoben. „Hier im politischen Berlin ist man manchmal isoliert“, gibt Schreiner zu. Dennoch besteht er darauf: Aus der Fraktion stimmten ihm viele zu darin, dass die Kaufkraft der Bürger gepäppelt werden müsse, nicht die gute Laune der Wirtschaft.
Dieses „Gequatsche von Lohnnebenkosten“, jetzt regt er sich doch auf, „das sind doch Plastikwörter“. Plastikwörter, diese Prägung des Freiburger Professors Ulf Pörksen gefällt ihm gut, Plastikwörter werden beliebig genutzt, sind ungenau und verwandeln wissenschaftliche Zusammenhänge in Politsprache.
Nicht mit Schreiner. Er hat jederzeit Zahlen und Daten im Kopf, weicht Thesen und Vermutungen aus, will lieber wissen, welche Beweise es gibt. „Subventionsmentalität im Saarland? Die Subventionen sinken doch seit Jahren!“ Steuerlast in Deutschland? „Am niedrigsten in Europa!“ Zu hohe Sozialausgaben? „Die Sozialleistungsquote ist stabil bei dreißig Prozent!“ Nein, er will diese Balkendiagramme im Spiegel nicht mehr sehen, die vom „Schlusslicht Deutschland“ zeugen, „es gibt bessere, belastbare Statistiken, wonach Deutschland im moderaten Mittelfeld ist“.
Er kann nicht verstehen, wie ein seriöser Politiker das nicht erkennen kann. So wenig wie Seehofer will Schreiner leistungsfähige soziale Sicherungssysteme preisgeben, nur weil die Wirtschaft es verlangt. Gerade dass er immer nur über Zahlen und Argumente reden will, macht ihn zur ehrlichen Haut. Dafür klopfen ihm viele Menschen auf die Schulter, nicht nur zu Hause in seinem Wahlkreis in Saarlouis.
In der Harmlos-Ecke zu stehen, kann Horst Seehofer sich nicht leisten. Er hat keinen Wahlkreis, in dem ihm alle sagen, er mache alles richtig. Seehofer kumpelt grundsätzlich nicht. Er dosiert. Ein Fuchs.
Seehofer schaut aus dem Autofenster. „Wissen Sie“, sagt er, „jetzt ist halt die Wirtschaft der Trend. Vor gar nicht langer Zeit war’s das Soziale.“ Er schüttelt den Kopf. Wenn es altmodisch ist, über kleine Leute zu reden, ist es eben altmodisch. Er weiß genau, dass die meisten Wähler kleine Leute sind. Wähler, die die Union im Bundestagswahlkampf 2006 brauchen wird.
Jetzt muss er schnell zum nächsten Termin. „Gute Zeit“, lautet sein Abschiedsgruß, und sein Händedruck ist ein bisschen zu fest, um nicht absichtsvoll eingesetzt zu sein.
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