: Künstler auf eigene Gefahr
Hartz IV zwingt freie Kunstschaffende dazu, Unternehmer zu werden. Sie gründen Ich-AGs und treten der Künstlersozialkasse bei
VON MARTIN REICHERT
Deutschland, das Land der Dichter und Denker, wird derzeit mit dem Dampfstrahler bearbeitet: Die rot-grüne Bundesregierung reformiert den Sozialstaat und dampft dabei – ob gewollt oder nicht – auch die zarten Pflänzchen und Moose zwischen den Gehwegplatten weg: Künstler, Schauspieler, Autoren, Kreative im weitesten Sinne, die bislang heimlich und leise mitgeschleppt worden waren, insbesondere vom Arbeitsamt: Mal ein Jahr arbeiten, und dann Arbeitslosengeld beziehen, um ein Buch zu schreiben – ein durchaus übliches Konzept, das sich irgendwann ganz einfach einge(bildungs-) bürgert hat, zum Teil, weil es bequem Sicherheit und Freiheit miteinander vereint, zum anderen, weil Festanstellungen im Kreativbereich immer seltener geworden sind.
Brauchen Künstler ein Atelier?
Das Herannahen von Hartz IV hat die Kreativabteilung der bundesrepublikanischen Gesellschaft in Aufruhr versetzt. Arbeitslosengeld II? Das bedeutet nicht nur weniger Geld, sondern auch, dass die große Atelierwohnung aufgegeben werden muss: Der ist doch arbeitslos, also braucht er auch kein Atelier. Und braucht der Musiker tatsächlich eine so teure Geige? Die Grafikerin einen teuren Mac?
Die allgemeine Unruhe kanalisiert sich bereits, die ausgegebene (Ausweich-)Wanderroute heißt: Ich-AG! Und die am besten in Verbindung mit einer Aufnahme in die Künstlersozialkasse, eines der letzten Biotope der alten Bundesrepublik. Anfang der 80er-Jahre von den Sozialdemokraten ins Leben gerufen, ist die in Wilhelmshafen beheimatete KSK zum Rettungsdampfer für vom Markt gebeutelte Kreative mutiert. Die KSK übernimmt sozusagen die Rolle des bei Künstlern und Publizisten oft nicht vorhandenen Arbeitgebers, sie zahlt die Hälfte der monatlich anfallenden Kosten für Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung. Waren dort zu Anfang tatsächlich fast ausschließlich bildende Künstler und Literaten versichert, so wird sie heute von Journalisten, Grafikern und Webdesignern bevölkert – Kreative, deren Leistungen Unternehmen gerne in Anspruch nehmen, ohne im Gegenzug Sozialleistungen zu erbringen. Waren es 1983 noch 12.000 Versicherte, 1999 knapp 107.000, so hatten sich Anfang dieses Jahres fast 134.000 Versicherte unter dem Dach der KSK versammelt. Der enorme Zuwachs erklärt sich nicht nur aus der Abnahme der festen Stellen, sondern auch aus einem immer ausgeprägteren Interesse an Berufen, in denen Selbstverwirklichung möglich ist: „was mit Kunst“ oder eben „was mit Medien“. Studiert wird häufig nicht unter Verwertungs- sondern Selbstverwirklichungsaspekten: Das ist mutig, aber riskant. Erst recht in Zeiten, in denen der Staat die Biotope trockenlegt, weil er sein Geld zusammenhalten muss.
„Die Lust auf Selbstverwirklichung wird größer, aber es wird auch schwieriger, diesen Traum zu leben“, warnt Olaf Zimmermann vom Deutschen Kulturrat. Glaubt man den Statistiken der KSK, verdienen freie Künstler im Schnitt 11.000 Euro im Jahr. Zimmermann: „Man muss den jungen Menschen die Wahrheit sagen, sie müssen wissen, worauf sie sich einlassen, und vor allem beachten, dass Selbstvermarktung ebenso wichtig ist wie die künstlerische Tätigkeit.“ Stattdessen bekommen kreative Geister oft den Schock ihres Lebens, wenn sie mit Anfang 30, also nach abgeschlossenem Studium, auf dem freien Markt ankommen: Steuererklärung, Selfmarketing, Rentenversicherung – nach Boheme hört sich das alles nicht gerade an.
Unfreiwillige Unternehmer
Der Berliner Künstler Matthias P. (40) bezieht seit geraumer Zeit Arbeitslosengeld. Er hatte bei einer Unternehmensberatung gearbeitet. Jetzt kellnert er schwarz und finanziert so seine eigentliche Tätigkeit. Es läuft ganz gut, er hat mehrere Ausstellungen auf die Beine stellen können. Sie haben ihm Ruhm eingebracht und wenig Geld. Sein Material muss er aus eigener Tasche zahlen. Er hat das Gefühl, kurz vor dem Durchbruch zu stehen, denn einige Galeristen sind auf ihn aufmerksam geworden – nach all den Jahren harter Arbeit. Aber dann ist da noch Hartz IV. Würde Matthias P. Bezieher des Arbeitslosengelds II, wäre der ganze persönliche Finanzplan gefährdet und auch die Wohnung, die er zugleich als Atelier nutzt. Der neue Plan: Er möchte sich selbstständig machen, eine Ich-Ag gründen, als Fotograf. „Ich möchte meine Haut retten“, sagt er, und das muss noch in diesem Jahr geschehen, denn im nächsten Jahr bekäme er Arbeitslosengeld II, eine Ich-AG-Gründung wäre dann nicht mehr möglich. So ist das Gesetz. Und natürlich schnellstmöglich in die KSK, der Krankenversicherung wegen. Allerdings müssen Ich-AGler den vollen Rentenbeitrag zahlen, die Künstlersozialkasse verweigert hier den Dienst. Ursprünglich sollten „Betreiber“ einer Ich-AG gar nicht in die KSK aufgenommen werden.
Matthias P. hat schon mal ein Gründerseminar besucht, es ist schließlich nicht unkompliziert, selbstständig zu sein, zudem muss ab dem 1. Januar nächsten Jahres ein Geschäftskonzept erarbeitet werden. Wird der Künstler es schaffen, sich mit Auftragsarbeiten am freien Markt etablieren zu können?
Künstler arbeiten für gewöhnlich nicht in Werbeagenturen, sie fahren Taxi oder arbeiten in der Gastronomie. Sie wollen sich den künstlerischen Zugang bewahren, ihre Fähigkeiten nicht in den Dienst des „Kommerz“ stellen, sich nicht „verbrennen“. Hochzeitsfotos schießen oder Hunde-Porträts erstellen, das wollen sie eigentlich gerade nicht. Selbstständige Unternehmer werden sie nicht freiwillig, die Ich-AG ist nur ein Notanker. Ein rettendes Schlupfloch vor den Zumutungen des Arbeitslosengelds II. Rettend?
Der deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) hat bereits einen sprunghaften Anstieg von Unternehmensgründungen durch Arbeitslose festgestellt. Allerdings warnt er auch, dass viele der angemeldeten Geschäftskonzepte „erschreckende Defizite“ aufweisen, viele Gründungen könnten scheitern. Laut Statistik der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit (BA) wurden zwischen Januar und September dieses Jahres 113.000 Anträge auf eine Ich-AG gestellt, über die Hälfte der Antragsteller gibt an, der Arbeitslosigkeit entfliehen zu wollen. Es ist nicht die unternehmerische Herausforderung, die reizt. „Es ist eben ein Problem, wenn man Menschen zu etwas zwingt, das sie gar nicht wollen“, findet Olaf Zimmermann vom Deutschen Kulturrat. Er fürchtet die Gründungsoffensive der freischaffenden Künstler: „Die Gründung eines Unternehmens ist mit Risiken verbunden, die von den so genannten Unternehmern nicht überschaut werden, sie sind eben Künstler. Das bisschen Geld vom Arbeitsamt reicht nicht für eine Unternehmensgründung. Das kann leicht in der Schuldenfalle enden“, warnt er.
Es gibt jedoch auch Menschen, die durch Hartz IV aus ihrer Lethargie gerissen wurden: Der 32-jährige Falk N. aus Brandenburg ist seit geraumer Zeit arbeitslos, er ist gelernter Innenarchitekt, nach der letzten Kündigung hat er keine neue Festanstellung finden können. Seine persönliche Rettungsstrategie vor dem Arbeitslosengeld II: Ich-AG, KSK. Er möchte ein Auftragsatelier für Wohnkultur eröffnen und sucht derzeit nach einem Ladenlokal in Berlin. Er beschäftigt sich mit Marketing, bildet sich als Polsterer fort.
Nach ausführlichem Jammern und Schreien ist ein großes Geschiebe und Gerucke entstanden in Deutschland, für manchen könnte sich der Zwang zu handeln als glückbringend erweisen, andere wird es aus der Kurve tragen.
„Diese Zeiten sind nur was für Harte“, sagt der bildende Künstler Steffen H. (38), der nebenbei auch schon mal in einer Fabrik arbeitet, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Wenn er es in den nächsten fünf Jahren nicht geschafft hat, will er sich einen „bürgerlichen“ Beruf suchen.
Unzählige junge Menschen, allen voran die Thirtysomethings, Kinder der Wohlstandsgesellschaft, versuchen den Traum eines künstlerisch-kreativen Daseins zu leben. Selbstverwirklichung gilt spätestens seit 1968 als Wert an sich. Der Wille des Staates, diese Selbstverwirklichung auf Kosten der Allgemeinheit zu verwirklichen, hat deutlich nachgelassen. Das Leben der Boheme wird so wieder authentischer, zwangsläufig allerdings. Durch den Wegfall staatlicher Subventionen, ob nun direkt oder indirekt, wird es nicht mehr reichen, „was mit Kunst“ oder „was mit Medien“ zu machen. Sich den Künsten zu verschreiben, in welcher Form auch immer, wird wieder eine tatsächliche Entscheidung fürs Leben. Eine, für die persönliche Haftung übernommen werden muss.
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