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„Ich lasse sie nicht im Stich“

AUS BERLIN PLUTONIA PLARRE

Liebe Hannah, lieber Ibrahim,

falls ihr euch einmal fragt, wo ihr geboren seid und wer eure Mutter ist, dann könnt ihr hier etwas darüber erfahren. Wenn ihr diese Seiten im Internet ansehen könnt, seid ihr schon groß. Wie es heute aussieht, seid ihr dann ohne mich groß geworden.

Wann genau sie diesen Brief an ihre Tochter und ihren Sohn ins Netz gestellt hat, weiß die 39-jährige Informatikerin Hellen Sprecher nicht mehr. Es ist eine von ungezählten Aktivitäten einer verzweifelten Mutter auf der Suche nach einem Lebenszeichen ihrer Kinder, die seit vier Jahren verschwunden sind. Mutmaßlich entführt von ihrem Vater Mahmoud E., einem 40 Jahre alten Ägypter mit deutschem Pass, der nicht ertragen kann, dass sich seine Frau von ihm getrennt hat.

Vor dem Berliner Landgericht wird Mahmoud E. deshalb zurzeit der Prozess gemacht. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Angeklagte seine Kinder mit Hilfe von Freunden nach Ägypten verschleppt hat und dort bei Verwandten versteckt hält. Hannah war fünf Jahre alt, als sie spurlos verschwand, Ibrahim, genannt Ibi, zweieinhalb. Auf Kindesentziehung in besonders schwerem Fall steht eine Höchststrafe von zehn Jahren. Es gibt keine berechtigten Zweifel an der Schuld des Angeklagten. Aber der Mann, der seit einem Jahr in Untersuchungshaft sitzt, behauptet vor Gericht, er habe nichts mit dem Verschwinden seiner Kinder zu tun.

Vielleicht wollt ihr nichts mehr von mir wissen, weil man euch schlimme Dinge über mich erzählt hat.

Hellen Sprecher hat Hannah und Ibrahim zum letzten Mal am 28. Dezember 2000 gesehen. Zu dieser Zeit lebt sie bereits ein dreiviertel Jahr von Mahmoud E. getrennt. Beide haben das Recht zugesprochen bekommen, die Kinder zu gleichen Anteilen sehen zu können. Obwohl er in den sieben Jahren Ehe ein liebevoller Vater war, macht Mahmoud E. von dieser Möglichkeit immer weniger Gebrauch. Er nennt der Mutter seine neue Adresse nicht, verlangt, dass die Kinder an einem U-Bahnhof hin- und hergereicht werden. Als sie deshalb beim Jugendamt vorspricht, heißt es: Sie müsse sich halt mit ihm arrangieren.

Lange Zeit haben mich die vielen „hätte“ und „könnte“ und „sollte“ beschäftigt, da das Herz nicht wahrhaben wollte, was der Verstand längst wusste.

Die letzte Szene mit ihren Kindern hat sich der Mutter in Gedächtnis gebrannt. Es ist zwei Tage nach Weihnachten. Die Familie sitzt beim Frühstück, als das Telefon klingelt. Mahmoud E. ist dran. Im Gegensatz zu sonst ist er freundlich. Er wolle mit den Kindern bei Freunden das Ramadanfest feiern. Eigentlich hat Hellen Sprecher für den Tag einen Ausflug geplant. Aber Hannah drängelt. Papa hat ihr ein Päckchen von Tante Fatma aus Ägypten versprochen. Fatma ist eine seiner neun Geschwister. Mahmoud E. bittet, für die Kinder ein paar Sachen für die Nacht einzupacken. Die Kinder trödeln. Hellen Sprecher hat Angst, zu spät zu kommen, schimpft ein bisschen mit ihnen. Durch Schneematsch rennen sie zur U-Bahn. „Bis morgen,“ ruft die Mutter noch, bevor der Zug im Tunnel verschwindet.

Als ihr Mann mit den Kindern zur verabredeten Zeit nicht auf dem U-Bahnhof erscheint, greift Hellen Sprecher zum Handy. Es dauert, bis die Verbindung steht. „Wo seid ihr denn?,“ ruft sie ins Telefon. Die Antwort kann sie auch nach vier Jahren nahezu wörtlich wiederholen. „Tja, wo sind wir denn“, sagt Mahmoud gedehnt. Und dann: „Du wirst die Kinder nie wiedersehen. Nie mehr wirst du etwas von ihnen hören oder mit ihnen sprechen.“ Es ist ein Gefühl, als ob der Boden unter den Füßen wegbräche. Eine dunkle Vorahnung war schon lange da. Und dennoch, sie kann und will es nicht wahrhaben. Die Polizei ermittelt, dass Mahmoud E. am 29. Dezember nach Kairo geflogen ist. Allein. Mit großem Übergepäck. Seine Wohnung hat er gekündigt, das Auto verkauft.

Vielleicht denkt ihr, dass ich euch im Stich gelassen habe. Es gibt so viele dunkle „vielleicht“, und es tut weh, über sie nachzudenken.

Landeskriminalamt, Auswärtiges Amt, Deutsche Botschaft in Kairo, Privatdetektive, ägyptischer Anwalt, Medien, Internet – Hellen Sprecher lässt kaum etwas unversucht. Bis zu Außenminister Fischer und Bundeskanzler Schröder dringt ihr Hilferuf durch. Die beiden sprechen mit dem ägyptischen Staatspräsidenten Mubarak über den Fall. Aber auch das bringt der Mutter die Kinder nicht wieder. Rechtlich haben die deutschen Behörden keine Handhabe, weil Ägypten nicht dem internationalen Haager Kindesentziehungsübereinkommen angehört. Aus islamischen Ländern, deshalb auch countries of no return genannt, so die Erfahrung, kommt fast nie ein entführtes Kind zurück.

Eigeninitiative kann zuweilen die letzte Chance sein. Das Auswärtige Amt warnt Hellen Sprecher aber, auf eigene Faust zu recherchieren. Das sei zu gefährlich. Einmal fährt sie trotzdem nach Kairo und Kom El Nor, dem Heimatdorf ihres inzwischen geschiedenen Mannes – und stößt bei dessen großer Familie auf Schweigen.

Unbemerkt kehrt Mahmoud E. in der Zwischenzeit mehrfach nach Deutschland zurück – ohne die Kinder. Als er am 2. Februar 2004 in Bonn Sozialhilfe beantragt, wird er verhaftet. Von nun an kann sich die Mutter nicht einmal mehr mit der Vorstellung trösten: Die Kinder sind nicht allein. Ihr Vater ist bei ihnen. Eine lange Freiheitsstrafe für Mahmoud E. wäre deshalb überhaupt nicht in ihrem Sinne.

Ich habe euren Papa geheiratet, weil ich ihn geliebt habe. Ich habe ihn dafür bewundert, dass er sich aufgemacht hat, in einer für ihn fremden Welt ein neues Leben aufzubauen. Mit Freude habe ich mich auf seine Welt eingelassen. Aber wir haben uns wohl überschätzt.

Hellen Sprecher und Mahmoud E. heiraten 1993 in Bonn. Er ist nach Deutschland gekommen, um Elektrotechnik zu studieren. Sie ist in der EDV-Branche tätig. Beide sind groß und schlank, er dunkel, sie blond – ein augenfälliges Paar. Als die Kinder zur Welt kommen, macht er den Hausmann. Sie verdient das Geld. Es imponiert ihr, dass sich der traditionell erzogene Muslim auf diese Aufgabenteilung einlässt. Seine ägyptischen Freunde sollen allerdings nichts davon wissen. Er lernt Deutsch. Sie belegt Arabischkurse. Die Kinder wachsen zweisprachig auf.

1999 verlegt ihre Firma den Sitz nach Berlin. Die Familie zieht in die Hauptstadt. Hellen Sprecher ist für den Aufbau des Rechenzentrums verantwortlich, hat viel zu tun. Hannah und Ibrahim gehen in den Kindergarten. Mahmoud muss neue Freunde finden, hat keine richtige Aufgabe. In der Beziehung beginnt es zu kriseln. Ihre Urlaube verbringt die Familie in Kom El Nor. Der letzte ist eine einzige Katastrophe. Alles was Hellen macht, ist falsch. Das ist der Bruch. Ein untrügliches Gespür sagt ihr: „Da ist jemand, der sagt, er liebt mich. Aber eigentlich hat er keine Achtung vor mir.“

Am 20. März 2000 teilt sie ihm ihren Entschluss mit. Aber sie macht keinen harten Schnitt. Die Trennung soll nicht auf Kosten der Kinder gehen. Mahmoud E. soll das gleiche Sorgerecht haben wie sie. Der Auszug zieht sich in die Länge, weil erst ein zweiter Haushalt aufgebaut wird. Als er realisiert, dass es ihr ernst ist, rüstet er auf. Unterstellt ihr, sie habe einen anderen. Wirft ihr vor, die Kinder würden in Deutschland nicht nach seinen muslimischen Vorstellungen erzogen. Wird unberechenbar. An Karfreitag schlägt er sie zum ersten Mal. Das zweite Mal in der Nacht des 7. Mai. Diesmal prügelt er so auf sie ein, dass sie denkt: Hier kommst du nicht lebend raus. Zum Glück wacht Ibi auf. Am Morgen fährt sie ins Krankenhaus. Danach kehrt sie nicht mehr in die Wohnung zurück.

„Mein Wunsch war und ist, dass Ihr das Beste aus Eurem Vater- und Mutterland mitbekommen sollt. Man hat Euch die Wahl genommen, und das schmerzt mich für Euch.“

Vier Jahre im Leben von Kindern sind eine lange Zeit. Hannah ist heute neun, Ibrahim sechs Jahre alt. Wenn überhaupt, vermag sich nur Hannah an die Mutter zu erinnern. Aber vielleicht spricht sie mit Ibi darüber. Hannah. Das fröhliche Mädchen, das immer alles wissen wollte. Das der Mutter so ähnelt. Hannah, die nun wahrscheinlich streng nach islamischen Regeln erzogen wird, nie Schwimmen und Radfahren lernt. Vielleicht nicht einmal Hosen tragen darf.

Ich werde mein Leben weiterleben. Aber immer werdet ihr bei mir sein. Ich werde die Erinnerung an euch hüten wie meinen größten Schatz.

Hellen Sprecher überlebt, weil sie Freunde hat und Kollegen, die ihr zur Seite stehen. Sie wechselt die Wohnung, macht eine Psychotherapie. Bleich, mit dunklen Ringen unter den Augen sitzt sie im Gerichtssaal. Ihre Stimme ist leise, als sie aussagt, manchmal versagt sie ihr ganz. Die Konfrontation mit Mahmoud E. verlangt ihr viel ab. Hellen Sprecher empfindet keinen Hass auf den Mann, hegt keine Rachegefühle. Sie hat Angst. Angst davor, dass wieder eine Hoffnung zerstört wird. Ein ägyptischer Bekannter aus Bonn hat ausgesagt, die Kinder seien bei ihrer Tante Fatma in Kairo. Aber wenn Mahmoud E. nicht einlenkt, wird die Mutter Hannah und Ibrahim wohl kaum zurückbekommen.

Viel Zeit ist nicht mehr. Heute ist der vorerst letzte Prozesstag. Dann legt das Gericht bis zum 14. März eine Pause ein. Anschließend soll das Urteil verkündet werden. Für den Fall, dass das Unwahrscheinliche doch noch eintreten sollte, steht für Hellen Sprecher eines fest: Sie für ihren Teil wird den Kindern einen regelmäßigen Kontakt zum Vater ermöglichen.

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