: Juntamitglieder von 1980 kommen vor Gericht
TÜRKEI Putschisten wegen gewaltsamer Absetzung der Regierung und des Parlaments angeklagt
AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH
Gut 30 Jahre nach dem letzten blutigen Militärputsch im September 1980 in der Türkei müssen die Putschisten jetzt vor Gericht. Von den damals fünf Juntamitgliedern leben allerdings nur noch zwei: Juntachef Kenan Evren, 94 Jahre alt, und der damalige Chef der Luftwaffe, Tahsin Sahinkaya.
Die Anklage war möglich geworden, nachdem durch eine Verfassungsänderung im Herbst 2010 die Immunität der Putschisten aufgehoben worden war. Seitdem bereiteten Staatsanwälte gegen Evren und Sahinkaya eine Anklage vor, die das Gericht für schwere Straftaten in Ankara nun angenommen hat.
Beide Putschisten sollen jeweils lebenslänglich ins Gefängnis. Angeklagt werden sie wegen der gewaltsamen Absetzung der Regierung und der gewaltsamen Auflösung des Parlaments. Die jetzige Anklage beinhaltet jedoch noch nicht die Verbrechen, die im Namen der Junta in den Jahren nach dem Putsch begangen wurden.
Dabei hat dieser Putsch das gesamte Land über Jahre traumatisiert und wirkt bis heute nach. Mehr als 650.000 Menschen wurden inhaftiert, 517 zum Tode verurteilt und 50 von ihnen auch tatsächlich hingerichtet. Rund 300 weitere Gefangene starben darüber hinaus an Folter und Misshandlungen in der Haft.
Es ist ein historischer Schritt, dass Evren, der nach dem Putsch auch noch fünf Jahre als Präsident eine zivile Regierung kontrollierte, und Sahinkaya jetzt angeklagt werden. Doch für eine politische Katharsis kommt der Prozess wahrscheinlich zu spät. Evren ist heute ein Greis, dessen Verhandlungsfähigkeit erst noch geprüft werden muss. Es ist ohnehin unwahrscheinlich, dass er, selbst wenn er verurteilt wird, noch ins Gefängnis müsste.
Außerdem hat das politische Klima in der Türkei sich mittlerweile gedreht. Das Militär ist nicht mehr die allmächtige und unantastbare Institution, die es mehrere Jahrzehnte lang war.
Trotzdem kann der Prozess eine sinnvolle Funktion erfüllen. Wenn er die damaligen Opfer rehabilitiert und wenn dann klar werden wird, welche gesellschaftlichen Gruppen, angefangen von wichtigen Unternehmern bis hin zu religiösen Führern, die Putschisten damals unterstützt haben.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen