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Wenn der Staat schrumpft

In Deutschland zeichnen sich für die nächsten Jahre gesellschaftliche Trends ab, die den Bestand der staatlichen Ordnung verändern werden. Dabei geht es nur vordergründig darum, dass wir immer älter werden und damit unsere eigenen sozialen Sicherungssysteme zerstören. Der demographische Wandel wirkt deshalb so bedrohlich, weil wir uns räumlich neu organisieren. Ehemals zusammenhängende Siedlungsräume verlieren dramatisch an Einwohnern, weil vor allem die jungen Menschen abwandern. In ganzen Regionen brechen die Versorgungsnetze zusammen, Gebiete werden abgekoppelt und stehen in der Gefahr, politisch „aufgegeben“ zu werden.

Die deutsche Infrastrukturpolitik steht also in den nächsten Jahren vor bisher nicht gekannten Herausforderungen. Die Herstellung von Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse gehört zum Kernbestand des deutschen Staatswesens. Jeder Bundesbürger hat ein Recht auf die Versorgung mit Strom und Wasser, dass die Post zugestellt wird, dass es Telefon gibt und dass der Bus fährt, und das alles unabhängig von der Tatsache, wo man wohnt. Die Infrastruktur schafft die Voraussetzung für den zentralen Eckpfeiler staatlicher Integration. In Deutschland herrscht der grundgesetzliche Anspruch auf die Gleichheit der allgemeinen Lebensgrundlagen: Ein politisches Postulat, das kaum treffender das „Modell Deutschland“, wie es im Westen viele Jahrzehnte lang bestens funktioniert hat, beschreibt. Auf der Tradition der staatlichen Daseinsvorsorge aufbauend, die ein sehr umfassendes und materiell substanzielles Engagement des organisierten Gemeinwesens bei der Gestaltung und Gewährleistung der individuellen Lebensumstände festschreibt, garantiert der Staat den Zugang zur gesellschaftlichen Teilhabe.

Die Versorgungsnetze wurden auf der Basis dieses prominenten staatlichen Auftrages sehr dicht geknüpft und vielfach redundant ausgelegt, sie sind primär auf Sicherheit ausgelegt und damit fast zwangsläufig auch von autoritärem Charakter. Eine hohe Versorgungsqualität verlangt eindeutige Strukturen und flächendeckend gültige Standards. Wichtige Regelwerke dieser Infrastrukturpolitik wie das Energiewirtschaftsgesetz oder auch das Personenbeförderungsgesetz – alle entstanden Mitte der 30er-Jahre – haben bis heute diesen dominanten Zugriff nicht verloren. Der Geltungsbereich ist umfassend: kein Mensch, kein Haushalt, keine Siedlung, egal ob in den Alpen oder am Bodden gelegen, kann sich vom staatlichen Anschlusszwang lösen. Die Versorgung mit Strom und Wasser, der Anschluss an die Be- und Entwässerung erfolgt auf jeden Fall und wird als kommunalpolitische Maßnahme durchgeführt. Varianten, Spielarten, Optionen sind in diesem Politikansatz nicht vorgesehen; es herrscht im Interesse des geregelten Zugangs Betriebspflicht für die Versorger und Anschlusszwang für die Verbraucher.

Diese Politik des infrastrukturellen Anschlusszwanges lässt sich Deutschland sehr viel kosten. Alleine im Zeitraum von 1991 bis 1998 sind rund 465 Milliarden Euro so genannter „raumwirksamer Bundesmittel“ verausgabt worden. Ausgaben, die zum Abbau von Disparitäten beitragen und die „innere Einheit“ herstellen sollten, um das Stadt-Land-, aber eben auch das West-Ost-Gefälle abzubauen. Denn das Versprechen auf die Gleichheit der Lebensverhältnisse gilt natürlich auch für die Beitrittsländer. Konkret handelt es sich dabei um Verkehrsprojekte, um Fördermaßnahmen für die gewerbliche Wirtschaft, die Städtebauförderung sowie um den Hochschulbau und die Forschungsförderung. Der Anteil der Mittel, die in die Neuen Länder geflossen sind, lag mit über 50 Prozent überproportional hoch. Die Gelder des Länderfinanzausgleiches und die der Bundesagentur für Arbeit, schließlich auch die Ergänzungszuweisungen nach dem Solidaritätspakt sind in der oben genannten Summe noch nicht berücksichtigt. Grob geschätzt haben damit alle Maßnahmen zur Herstellung der Gleichheit insgesamt die astronomische Summe von mehr als 1 Billion Euro erreicht.

Besonderes Augenmerk gilt bei der Infrastrukturpolitik natürlich dem Verkehr: „Eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur ist wesentlicher Bestandteil eines starken und dynamischen Wirtschaftsstandortes Deutschland sowie zentrale Voraussetzung für Wachstum und Beschäftigung. Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur sichern die Wettbewerbsfähigkeit der Regionen und Sorgen für die Stärkung strukturschwacher Räume. Sie schaffen die Grundlage für eine nachhaltige Mobilität von Menschen und Unternehmen mit besserer Erreichbarkeit und höhere Lebensqualität“ heißt es im Vorwort zum neuen Bundesverkehrswegeplan der Bundesregierung. Bis 2015 will der Bund für die Modernisierung aller Verkehrsträger über 150 Milliarden Euro bereitstellen.

Dabei ist das Verkehrsnetz in Deutschland bereits jetzt sehr leistungsfähig: Deutschland hat gemeinsam mit Belgien und den Niederlanden das dichteste Fernverkehrsnetz Europas. Jeden Tag sind mehr als 30.000 Züge alleine im Personenverkehr auf mehr als 41.000 Kilometer Schienengesamtlänge (Fern-, Nah- und Stadtverkehre) unterwegs, die an rund 5.500 Bahnhöfen halten. Hinzu kommen noch mehr als 3.200 Schienenkilometer, die vom örtlichen Personennahverkehr für S- und U-Bahnen sowie für Straßenbahnen genutzt werden. Beim Straßenverkehr addieren sich zu den mehr als 11.000 Kilometer Autobahnen ein überörtliches Straßennetz von rund 230.000 Kilometer Gesamtlänge.

Mit diesen staatlichen Vorleistungen ist in der Tat ein international beachtlicher Erreichbarkeitsstandard geschaffen worden. Das Versprechen auf die politische Teilhabe, die unabhängig vom Wohnort gewährt wird, ist praktisch eingelöst. Denn nahezu alle Bundesbürger können in weniger als 30 Minuten Pkw- Reisezeit einen Autobahnanschluss und innerhalb einer Stunde einen IC/ICE-Bahnhof erreichen, und zwar unabhängig davon, ob er oder sie auf dem Lande oder in der Stadt wohnt.

Doch die viele Jahre funktionierende Zauberkraft der sozialen Integration durch neue Straßen und andere Infrastrukturleistungen ist offenkundig verflogen. Ein sich selbst tragender Wirtschaftsaufschwung will sich insbesondere im zwischenzeitlich sehr gut ausgebauten Ostdeutschland nicht einstellen. Und es kommt noch schlimmer. Moderne Infrastrukturen senken den Widerstand des Raumes und erhöhen die Mobilität der Bevölkerung. Diese ja durchaus beabsichtigte Wirkung verkehrt sich aber immer mehr in ihr strukturpolitisches Gegenteil. Die Unterschiede zwischen West und Ost generell und die zwischen einzelnen Regionen werden nämlich seit einigen Jahren wieder größer. Vergleiche der Kaufkraftentwicklung zeigen, dass die östlichen Stadt- und Landkreise nicht nur weiterhin die letzten Plätze einnehmen, sondern dass die Abstände zum Westen seit gut drei Jahren wachsen. Der Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung hat die besonders betroffenen Gegenden identifiziert: „Benachteiligt sind zumeist peripher ländliche Gebiete, wobei in Ostdeutschland eine Entleerungszone im Abstand von 60 bis 120 Kilometer um Berlin auffällt. Der Landkreis Oberspreewald-Lausitz erreichte mit rd. 10.500 Euro Primäreinkommen je Einwohner nur knapp 30 Prozent des Wertes des Landkreises Starnberg.“ Der teuer angeschaffte Erreichbarkeitsstandard hat also keine Angleichungen geschaffen, sondern die Unterschiede in den Primäreinkommen eher verschärft. Ähnlich große Unterschiede in der Lebensqualität lässt auch der von der Prognos AG erstellte „Zukunftsatlas 2004“ erahnen. Bei den Regionen mit hohen Entwicklungspotenzialen finden sich ausschließlich westdeutsche Kreise und Landkreise wie die Stadt und der Landkreis München, Starnberg, Darmstadt oder Freising, während bei den Kreisen mit erheblichen Zukunftsrisiken ausschließlich Ostkommunen aufgelistet sind: Nordvorpommern, Görlitz, Elbe-Elster-Kreis und Hoyerswerda bilden die Schlusslichter.

Die Unterschiede in der Einkommensentwicklung werden deshalb wieder größer, weil immer mehr Menschen aus strukturschwachen Gebieten abwandern. Vor allem junge Menschen, insbesondere Frauen im Alter zwischen 20 und 30 Jahre verlassen die ländlichen Regionen im Osten. Die Geburtenrate sinkt damit noch weiter und die Folgen des demographischen Wandels werden zusätzlich verstärkt. Weite Teile von Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt sowie Gebiete in Thüringen und Sachsen werden in den nächsten 25 Jahren mehr als 50 Prozent Ihrer Einwohner verloren haben. Zuzüge finden praktisch nicht mehr statt.

Damit droht der modernen deutschen Infrastruktur die Katastrophe: Nicht nur, dass die modernen Straßen- und Schienenwege zum Verlassen der Regionen benutzt werden. Wenn keiner mehr da ist, der Wasser verbraucht oder Strom bezieht, brechen die Versorgungsnetze im wahrsten Sinne des Wortes zusammen. Ver- und Entsorgungsinfrastruktur implodieren.

Das deutsche Modell der Infrastrukturpolitik hat seine Grenzen erreicht: die Zwangsversorgung, insbesondere ihre Ausdehnung in die Neuen Länder ist nicht mehr finanzierbar, funktional nicht mehr zu legitimieren und steht überdies noch vor dem Problem, mit Schrumpfungsprozessen klarkommen zu müssen. Es mangelt an Flexibilität und an Bewirtschaftungsgrundsätzen, um mit den demographischen Veränderungen umzugehen: Die klassisch deutsche Infrastrukturpolitik ist auf Wachstum programmiert; das Prinzip ist die permanente Integration und Konsolidierung, um in immer größeren Verbünden die Skaleneffekte für die Verbesserung der Performance zu erwirtschaften. Nicht nur die Sicherung der technischen Funktionalität ist an eine bestimmte Grundlast gebunden, auch die politische Funktionalität benötigt das Wachstums- und Integrationsmodell, um das Versprechen des Staates glaubhaft einlösen zu können.

Schrumpfen kommt in diesem Modell nicht vor. Schrumpfen macht diese über lange Jahre gelebte Praxis kaputt. Die Politik der Sicherung der gesellschaftlichen Teilhabe, wie sie bislang vollzogen wird, ist nur durch Ausbau und Sicherung der Zugänge zu schaffen; bei einem Rückbau der Versorgungsnetzwerke fehlt der Plan zur analogen, maßstabsgerechten „Verkleinerung“ des politischen Anspruches. Die politische Aufgabe ist daher völlig neu gestellt: wie kann ohne die integrierende Kraft der Versorgungsnetze eine demokratische Teilhabe auch für die Gebiete sichergestellt werden, die von der alles regelnden und daseinsvorsorgenden Macht des Staates losgelöst werden?

Der Prozess des Schrumpfens – und dies stellt das eigentliche Problem dar – ist ja nicht durchgängig. Das alte Modell des Wachstums funktioniert ja noch: In den Wachstumskernen – vorwiegend im Westen und Süden angesiedelt – werden die klassischen Instrumente des vorsorgenden Staates weiterhin glaubhaft angesprochen. Infrastruktur schafft Arbeitsplätze und damit materiellen Wohlstand und sozialen Frieden. Dies gilt für Teile des Rhein-Main-Gebietes, für den Raum Stuttgart und auch die Region München. In den Entleerungsräumen ist daher ein schleichendes Gift am Werke, denn das Schrumpfen der Infrastruktur ist eben nicht nur ein technisches Problem. Das, was im Osten sichtbar und im Westen subtiler verläuft, ist nicht mehr und nicht weniger als der Rückbau der bisher gelebten Staatlichkeit: des zwangsweise organisierten Anschlusses an Versorgungsnetze als Plattform demokratischer Entwicklung. Denn das Versprechen des Staates, für die Gleichheit der Chancen zu sorgen, kann nicht mehr durchgängig gehalten werden. Es stellt sich also nicht nur die Frage, wie für die Zurückgebliebenen eines Entleerungsraumes die Wasserversorgung und der Nahverkehr zu organisieren sind, sondern aufgrund welcher gültigen politischen Philosophie und mit welchem normativen Verständnis dies geschieht: Alleine über den technischen Anschlusszwang an die großen Versorgungsnetze auch die soziale Integration und damit Ruhe und Ordnung zu organisieren, funktioniert sicherlich nicht mehr, wenn weite Teile hieran zukünftig nicht mehr teilhaben können.

Angesichts des demographischen Wandels und der wirtschaftsstrukturellen Verschiebung stellt sich schlichtweg die Frage, wie der mit dem alten Modell des vollintegrierten infrastrukturellen Anschlusszwangs verbundene Politikansatz und dessen technologisches Paradigma so zu modifizieren ist, dass auch mit dem Schrumpfen der Infrastruktur weder der Anspruch auf Versorgung noch der auf eine politische Teilhabe aufgegeben werden muss. Auf dieses Schrumpfen ist die Gesellschaft in Deutschland überhaupt nicht vorbereitet. Muss damit der Staat seinen sozialen Integrationsauftrag aufgeben, wenn er sich die teure und flächendeckende Infrastruktur nicht mehr leisten kann und weite Gebiete praktisch abgeschaltet werden?

Eine Implosion der Netze bringt daher auch neue, gleichsam doppelte Freiheiten; sie schafft Chancen und Optionen, aber auch Gefahren, wenn die staatliche Garantie des Zugangs mitschrumpft. Wenn man sich dessen bewusst ist, kann man auf die Suche nach neuen politischen, organisatorischen und technischen Lösungen für wachsende und schrumpfende Infrastruktursysteme gehen. Wenn man realisiert, dass technische Infrastruktur und politische und soziale Teilhabe zwei Seiten einer Medaille sind, und dass Schrumpfen und Wachsen zwei Entwicklungen auf einer zeitlichen Achse sind, eröffnen sich neue Perspektiven. Das durchgängig definierte und exekutierte Ordnungsrecht löst sich auf. Sicherlich wird man dabei Abschied nehmen von einem Staat, der umfassend und mit hoher Fertigungstiefe die Grundregeln des Gemeinschaftswesens bestimmt. Wenn der vorsorgende Staat nur flächendeckend glaubhaft ist, wird man den räumlichen und thematischen Geltungsbereich neu definieren müssen. Damit beginnen zivilgesellschaftliche Modelle eine hohe Relevanz zu gewinnen. Örtliche und regional begrenzte Entkopplungen schaffen endlich das, was viele Jahre lang immer wieder gefordert wurde: Raum für eine experimentelle Politik. Deren Ausgestaltung hängt von den vorhandenen und sich entwickelnden zivilgesellschaftlichen Potenzialen ab. Vorstellbar sind gleichermaßen neue konstruktive wie destruktive Tendenzen mit einer hohen Varianz organisatorischer und technischer Lösungen für örtlich und regional begrenzte Bediengebiete. Ganz entscheidend wird aber die Frage sein, wie die gesamte Gesellschaft auf die Brechung des Paradigmas vom flächendeckenden Versorgungsstaat umgehen wird und ob sich soziale Gerechtigkeit und rechtliche Integrität auch in zwangsweise deregulierten Räumen herstellen lassen.

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