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Die letzten Wärmespuren

RUSSKIJ BERLIN Die Ausstellung „Berlin Transit“ im Jüdischen Museum wandelt auf den Spuren jüdischer Migranten, die in den 20er Jahren aus Osteuropa nach Berlin kamen. Gern gesehen waren sie auch hier nicht

Schon in den 1920er Jahren hielten viele alteingesessene deutsche Juden ihre östlichen Glaubensgenossen für rückständig

VON BARBARA KERNECK

Nichts wie weg! Diesem Impuls folgten nach dem Ersten Weltkrieg Zehntausende von Juden aus Städten und Dörfern in den zerfallenden Reichen der Habsburger und des Zaren. Zumindest als Zwischenstation auf der Flucht peilten sie Berlin an: das Scheunenviertel für die Ärmeren oder – für die Intellektuellen und Wohlhabenden – Charlottenburg, das bald den Spitznamen Charlottengrad trug.

„Berlin Transit – Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren“ heißt die gestern gestartete Ausstellung im Jüdischen Museum, die den Alltag der jüdischen Migranten in dieser Stadt lebendig macht. Gleich im Treppenaufgang zeigt eine Riesenkarte die monatelange Anreise und erzwungenen Umwege von sechs Familien über Tausende von Kilometern, teils auf Fuhrwerken und Schlitten. Vergrößerte Zeitungsmeldungen mit Titel wie „Blutiges Judenpogrom in Lemberg“ demonstrieren, wovor sie flohen. Allein in der Ukraine wurden zwischen 1918 und 1921 etwa 1.500 Pogrome verübt, Hunderttausende Juden kamen dabei ums Leben.

Projekt Charlottengrad

Der Ausstellung voran ging das Forschungsprojekt „Charlottengrad und Scheunenviertel – Osteuropäisch-jüdische Migranten im Berlin der 1920/30er Jahre“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Leitung liegt am Osteuropa-Institut der FU Berlin bei der Historikerin Gertrud Pickhan. Gemeinsam mit ihrer wissenschaftlichen Mitarbeiterin Verena Dohrn hat sie vor zwei Jahren einen Sammelband zum Thema herausgegeben.

„Russkij Berlin“, das Leben der bürgerlichen und intellektuellen russischen Emigranten in den 1920er Jahren ist bekannt. Doch das wahre Scheunenviertel verschwand aus den Berlinvorstellungen. Seine letzten Wärmespuren fixierten Verena Dohrn und die Kuratorin der Ausstellung, Leonore Maier, gemeinsam mit ihrem Team wie mit einer Infrarotkamera. In den kleinen Altbauten in Nähe des Alexanderplatzes lebten bloß an die 20.000 Einwohner, sie bildeten eine weder sozial noch politisch homogene Gruppe. Doch an diesem Fremdkörper mitten in der Stadt erhitzte sich die Nazi-Propaganda mehr als an den akkulturierten deutsch-jüdischen Familien.

Bekannt sind die Fotos des Viertels aus einem quasiethnografischen Blickwinkel: Männer mit Schläfenlocken, Auslagen koscherer Lebensmittel. Aber auch hier gab es Erfolgsgeschichten: Auf Privatfotos posieren zwei Händlerfamilien aus der damaligen Grenadierstraße (heute Almstadtstraße) im lockeren 1920er-Jahre-Chic, die Kinder mit Zuckertüten, genau wie deutsche Mittelständler.

Als besonders fortschrittlich empfand die junge Weimarer Republik zum Beispiel den 1850 in Brest-Litowsk als Sohn eines Fischhändlers geborenen Chaim Kahan. Er begann mit Öl aus dem Kaukasus zu handeln und ließ zwei seiner Söhne in Deutschland studieren. Diese gründeten 1922 die Firma Nitag, bald Deutschlands drittgrößter Ölimporteur. Mein Urgroßvater war vorausschauend, sagt Chaim Kahans Nachfahre Eli Rosenberg. Seine Eltern und Verwandten gehörten zu jener Minderheit von etwa 5.000 osteuropäischen Juden in Berlin, die sich um den Kurfürstendamm herum ansiedelten.

Prachtvolle Bücher

Ein ganzer Museumsraum ist mit ihren Leihgaben gefüllt. Als Prunkstück steht da eine Silbermenagere in Elefantengestalt. „An den Feiertagen kamen manchmal bis zu 50 Gäste“, erinnert sich Eli Rosenberg. „Merkwürdig“ sei es ihm als Kind erschienen, fährt er fort, „dass mein Vater mit seinen Verwandten russisch sprach, „besonders, wenn wir Kinder sie nicht verstehen sollten“. Russisch und Deutsch waren den meisten osteuropäischen Juden in Berlin als Amts- und Kultursprachen geläufig, bei den Migranten aus Polen und der Ukraine kam Jiddisch hinzu, manche propagierten das Hebräische als Sprache der Zukunft.

Der Kahan-Familie gehörten neben ihrem Ölgeschäft auch einige hebräisch- und russischsprachige Verlage. Prachtvoll illustrierte Bücher aus jüdischen Verlagen wurden auch für die Ausstellung aufgetrieben. An deren Präsentation schließt sich ein Raum der Töne an. Wer sich hier in eine Nische setzt, hört Dispute und Lieder zu verschiedenen Themen. „Gefährliche Gäste – Ostjuden im Blick ihrer deutschen Glaubensgenossen“, verspricht eine andere Nische. Schon in den 1920er Jahren hielten viele alteingesessene deutsche Juden ihre östlichen Glaubensgenossen für rückständig. Die Kahan-Familie aber empfing und förderte viele der armen Neuankömmlinge, vor allem Schriftsteller.

Eli Rosenberg verließ Berlin 1933 im Alter von fünf Jahren. Heute ist der studierte Geologe selbst im Ölgeschäft tätig. Seiner Heimatstadt hat er sich sehr allmählich wieder angenähert. Der erste Besuch im Berlin der 1960er Jahre sei ihm „sehr schwer“ geworden, erinnert er sich: „Meine Mutter hat in Israel mehrere Jahre gebraucht, um Hebräisch zu lernen. Zu Hause sprachen wir weiter deutsch. Aber auf der Straße haben wir Kinder es immer vermieden, uns mit ihr zu unterhalten.“

Im Raum mit den Exponaten der Kahans ist dieser Tage ein Gruppenfoto mit 40 Nachfahren geplant. „Fast meine ganze Familie ist hier“, sagt Eli Rosenberg. „Einer meiner Enkel wurde zu diesem Zweck sogar vom Militär beurlaubt. Ich habe das Gefühl, dass diese Ausstellung gerade für die jüngeren Generationen unserer Familie sehr wichtig ist. Sie können hier etwas erfahren, was sie sonst nicht so gefühlt und gewusst hätten.“

■ „Berlin Transit“, bis 15. Juli, Jüdisches Museum. www.charlottenburg-scheunenviertel.de

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