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DasTal,woFriedenwohnt

Immer mehr Israelis verlassen gerade ihr Heimatland. Einige von ihnen suchen in Italien ein neues Zuhause – trotz postfaschistischer Regierung. Warum?

Die Brücke zum Dorf Varallo in Valsesia, Norditalien

Aus Varallo Judith Poppe (Text)und Florian Bachmann (Fotos)

Wenn man schon emigriert, ist Ugo Luzzatis Büro ein guter Hafen, um anzukommen. Draußen regnet es im Dorf Varallo am Fuße der italienischen Alpen, der Herbst hat begonnen. Im Büro ist es warm. Die Holzmöbel, der massive Schreibtisch, der Schrank mit den bunten Glasfenstern – all das vermittelt Geborgenheit. Eine Glocke klingelt hell, als ein junges Paar aus dem Innenhof in Luzzatis Büro tritt. Ihr Baby schläft vor der Brust des Mannes in der Trage. Die beiden ziehen ihre vom Regen feuchten Mützen ab, begrüßen den Mann hinter dem Schreibtisch, setzen sich auf die Holzbank, reiben ihre Hände und sehen sich um.

Ugo Luzzati schlägt die Beine übereinander und lächelt sie an. „Wir suchen ein Haus“, bricht es aus der jungen Frau hervor. Als sei sie endlich bei einem Therapeuten angekommen, bei dem sie sich fallen lassen kann. Der schon verstehen wird. Der helfen kann. Doch Luzzati ist kein Therapeut. Er ist eher der Manager eines ungewöhnlichen Projekts: Exodus 2.0 könnte man es nennen und ihn einen Visionär. So reden zumindest einige über ihn. Etwas scherzhaft nennen sie ihn auch den Theodor Herzl von Italien.

So wie Herzl einst die Jü­d*in­nen ins historische Palästina geführt hat, führt Luzzati sie nun nach und nach wieder hinaus – und zwar nach Italien. Genauer gesagt: ins Tal Valsesia, einhundert Kilometer westlich von Mailand. Dabei hat er wenig Exzentrisches an sich, keinen langen Herzl-Bart, keine Intellektuellen-Allüren. Stattdessen trägt er eine Schirmmütze aus Filz und ein dunkles Vlies gegen die Kälte. Pragmatiker ist die wohl treffendere Beschreibung.

Die Zahl der Israelis, die aktuell ihr Land verlassen, wächst. Sie gehen nach Portugal, in die USA, nach Zypern oder Griechenland. Und eben auch hierhin: nach Valsesia in Italien. Wie viele es sind, weiß keiner genau. Auf die offiziellen Zahlen ist wenig Verlass. Eines der Probleme: Gezählt wurden bis vor Kurzem nur diejenigen Emigrant*innen, die für ein Jahr ununterbrochen außer Landes waren. Wer zwischendurch für einen Familienbesuch nach Israel kam, fiel aus der Statistik. Doch spricht man mit Luzzati, bekommt man ein Gespür für die massive Auswanderung, die derzeit stattfindet: Jeden Tag empfängt er in diesen Monaten mindestens eine neue israelische Familie in seinem Büro.

„Progetto Baita“ steht auf einem Blatt an der Tür zum Büro. „Baita“ – dass Luzatti diesen Namen ersinnen konnte, liegt an einem glücklichen Zusammenspiel von italienischer und hebräischer Sprache. „Nach Hause“ heißt „HaBaita“ auf Hebräisch. Auf Italienisch heißt „Baita“: Berghütte. Wer in Luzzatis Büro kommt, sucht beides: Ein neues Zuhause – und eine Zuflucht vor dem Weltgestürm.

Rund eine Dreiviertelstunde dauert es, mit dem Auto das Tal zu durchqueren, von Borgosesia unweit von Mailand bis hinauf in den Skiort Alagna Valsesia. Im Tal leuchten gelbe Schilder von Häuserwänden, „Vende“ steht darauf, „zu verkaufen“. Besonders groß ist der Leerstand in den Dörfern abseits der Landstraße, die kleinen Serpentinen hinauf. Wer hier wohnt, hat eine Aussicht, von der Ur­lau­be­r*in­nen träumen. Doch schon lange werden in Italien weniger Menschen geboren als sterben. Auch in Valsesia, dieser Sackgasse in den Alpen, gibt es wenig Babys. Und die, die doch geboren werden, zieht es für gewöhnlich spätestens mit dem Schulabschluss nach Mailand, Turin oder in andere Großstädte.

Auch das junge israelische Paar ist mit seinem Camper diese Straße entlanggefahren, auf dem Weg zu Luzzatis Büro in Varallo, dem zentralen Ort im Valsesia. Rund 7.000 Menschen wohnen hier, es herrscht ein anderer Vibe als in den umliegenden Gemeinden. In einer Rockerkneipe im Zentrum trinken die langhaarigen Männer des Ortes Keilerbier aus Bayern. In der Pinakothek hängen Werke von Tanzio da Varallo aus dem 17. Jahrhundert, einige nennen ihn den „Caravaggio der Alpen“. Es gibt Espressobars, Eisdielen und eine gut besuchte Stadtbibliothek.

„Ma Hainjanim?“ – Wie geht’s? Diese Begrüßung hört man immer öfter in den Straßen des Ortes. In einem Schuhladen diskutieren einige auf Hebräisch, welche Stiefel besser geeignet für den Winter sind. Jeden Tag, sagt ein Immobilienmakler im Zentrum des Ortes, erkundigen sich mindestens zwei neue israelische Familien nach Häusern im Tal. Längst nicht alle kaufen am nächsten Tag ein Haus. Aber Valsesia ist beliebt bei Israelis.

„Was ist die Agenda von ‚Baita‘?“, fragt die junge Frau in Luzzatis Büro.

„Denjenigen, die nicht in einer Diktatur leben wollen, zu helfen, ein neues Zuhause zu finden.“

Die junge Frau nickt. „Klingt vernünftig.“

Luzzati hat verschiedene Antworten auf die Frage. Eine für Israelis, eine für Italiener*innen. Denn das Projekt richtet sich an zwei Seiten. So wie Luzzati zwei Nationalitäten hat.

Luzzati ist in den 1960er und 1970er Jahren in Norditalien groß geworden. Schon früh verstand er sich als Linker, doch die italienische Linke war kein Ort, in der der junge Jude sich besonders wohl fühlte. Viele Linke versammelten sich nicht nur hinter der palästinensischen Sache, sondern oft auch hinter Gruppen, die Terror gegen Israelis ausübten. 1982 begann der Liba­non­­krieg. Immer öfter sah Luzzati Hakenkreuze an den Hauswänden und Schriftzüge wie „Tod den Juden“.

Im selben Jahr verübten palästinensische Terroristen einen Anschlag auf die Große Synagoge in Rom. „Es waren schwere Jahre“, sagt Luzzati. Seine Zukunft, davon wurde er immer überzeugter, läge in Israel. 1986 – er war 24 Jahre alt – wanderte er aus und ging nach Jerusalem.

„Welche Pässe habt ihr?“, fragt Luzzati das junge Paar in seinem Büro.

„Ich habe einen rumänischen.“

„Prima.“ Luzzati nickt.

Ohne europäischen Pass ist es komplizierter, sich dauerhaft in Italien niederzulassen. Möglich wäre es unter Umständen. Seit dem Ukrainekrieg gewährt Italien Ukrainer*innen, die vor dem Krieg fliehen, subsidiären Schutz. Luzzati versucht, diese Aufenthaltsgenehmigung auch für Israelis gültig zu machen. Doch die italienische Regierung hat noch nicht darüber entschieden.

Der Weg nach Valsesia ist also mit einigen Hindernissen gepflastert. Ein europäischer Pass erleichtert die Sache. Etwas Geld auch. Nicht alle können sich einen solchen Schritt leisten.

„Wir würden gerne wieder mehr als Künstler arbeiten“, sagt der junge Mann und wippt das Baby in der Trage auf und ab: „und daneben Geld verdienen. Aber die Löhne sind hier recht niedrig, richtig?“

Ugo Luzzati ist Manager eines ungewöhnlichen Projekts: Exodus 2.0

Luzzati nickt. „Aber die Lebenshaltungskosten sind es auch.“

Vor 40 Jahren hätte Luzzati sich wohl kaum vorstellen können, Israel wieder zu verlassen. Er war glücklich dort. Mit seinem eigenen kleinen Laden für Schilder verdiente der Grafikdesigner in Jerusalem seinen Unterhalt. Später eröffnete er einen Schmuckladen in Ein Kerem, einem Ausflugsziel in den Bergen vor der Stadt. Er verliebte sich, seine Frau und er bekamen fünf Kinder und zogen in den Norden, wo sie am Wochenende mit der ganzen Familie wandern gingen.

Und doch: Er sah das schleichende Sterben der israelischen Friedensbewegung nach der Ermordnung Jitzchak Rabins im Jahr 1995, seine Kinder zog er im zweiten Libanonkrieg Mitte der nuller Jahre groß. Es folgte ein Gaza-Krieg nach dem anderen, und Luzzati sah, wie das ganze Land immer weiter nach rechts driftete.

Schon vor Netanjahus extrem rechter Regierung konnte er die Warnungen nicht mehr übersehen. Vor fünf Jahren riefen er und seine Frau ihre Kinder im Wohnzimmer zusammen, einige von ihnen sollten bald anfangen zu studieren. Dort gab er ihnen unter Tränen einen Rat fürs Leben. „Ihr habt keine Zukunft in Israel“, sagte er. „Bitte denkt darüber nach, etwas zu studieren, was euch erlaubt, ein Leben woanders aufzubauen.“

So tat auch er es. Er verliebte sich in das italienische Tal, in dem er heute lebt. Eine Lehrerin erzählte ihm vom dortigen Bevölkerungsschwund. In Dörfern, wo früher über 1.000 Menschen lebten, seien es heute nur noch einige Hundert. Immer weniger Kinder würden eingeschult, sagte die Lehrerin. Bald müssten sie auch Krankenhäuser schließen. In diesem Moment hatte Luzzati eine Idee. Vor zwei Jahren, im Oktober 2022, gründete er das Projekt „Baita“, um zwei Probleme gleichzeitig zu lösen. Er würde junge Menschen aus dem Ausland ins überalterte Tal bringen – und Israelis ein neues Zuhause geben.

Seitdem kann Luzzati die politischen Entwicklungen in Israel an dem Facebook-Account des Projekts ablesen. Als Benjamin Netanjahu Ende 2022, einen Monat nach der Gründung von „Baita“, ein weiteres Mal die Wahlen gewann und die rechteste Regierung in der Geschichte Israels einsetzte, hagelte es Anfragen. Als die Debatte um den ­autoritären Staatsumbau begann, flogen immer mehr Israelis ein, um sich das Tal anzusehen. „Für den Fall“, hörte man sie sagen. Man wisse nie, wie es weitergeht.

Und dann kam der 7. Oktober. Innerhalb weniger Tage trafen 30 Familien, die bereits Mitglied von „Baita“ geworden waren, in Valsesia ein, suchten sich eine Unterkunft und schickten ihre Kinder in die dortigen Schulen. Für die allermeisten von ihnen war klar: Es gibt kein Zurück.

Tamar Zekbach, 45, ist eine von ihnen, eine der ersten Generation, könnte man sagen. Sie trägt einen roten Wollpullover und Ohrringe, helle Steine, die von goldenen Blüten umrankt sind. Ihr ältester Sohn schläft auf dem Sofa im Wohnzimmer den Schlaf eines Teenagers, der Lärm seiner Geschwister stört ihn nicht. Nicht das Aufprallen des Fußballs, mit dem der Jüngste vor der Garage spielt. Und auch nicht die Gespräche seiner Schwester Naomi.

Im vergangenen Jahr, erzählt die Teenagerin, war sie noch das einzige israelische Kind in ihrer Klasse. Das war schwer am Anfang, sagt sie, ohne ein Wort Italienisch. Heute, ein Jahr später, spricht sie die neue Sprache fließend; ihre neuen Freundinnen heißen Alice und Giorgia. Seitdem das neue Schuljahr angefangen hat, fühlt sie sich verpflichtet, den anderen israelischen Neuankömmlingen den Start in der Schule zu erleichtern. Nicht immer einfach, sagt Naomi und zuckt mit den Achseln. Mittlerweile sitzen vier weitere israelische Kinder mit ihr in der Klasse.

Viele junge Ita­lie­ne­r*in­nen ziehen aus der abgelegenen Alpengegend weg. Es fehlt unter anderem an Ärz­t*in­nen

Naomi steht mit ihrer Mutter auf dem Balkon. Der zieht sich vorne und seitlich ums Haus und gibt den Blick frei auf eine Postkartenaussicht: Schäfchenwolken, die vielleicht nirgendwo so wattig aussehen wie hier, Häuserdächer, deren Dachziegel mit Flechten bewachsen sind. Dazu der gestochene Kontrast zwischen dem Grün der Berge und dem Blau des Himmels.

Zekbach zeigt auf das Nachbarhaus.

„Hier lebt nun eine israelische Familie. Und hier, auf der anderen Straßenseite, wohnt Ronit. Sie war die erste Israelin hier im Tal.“

In der Garage dreht ihr Mann Ohad Zekbach Schrauben in dunkelbraun lackierte, gebogene Holzteile. Sie gehören zu zwei Sesseln, die vor wenigen Wochen auf einem Containerschiff den Weg von Israel zu ihnen fanden. „Etwas Sentimentales“, sagt er und lacht, als würde er sich dafür schämen. Die Sessel wurden ihnen von den Eltern seiner Frau vermacht. Seitdem haben sie sie in jede neue Wohnung mitgenommen, bei ihren Umzügen innerhalb von Jerusalem und später, als sie nach Kerem Maharal, in der Nähe von Haifa, zogen. „Sie waren einfach zu schön, um sie nicht auch hierherzuholen“, sagt er.

Unter dem Haus fließt ein Quellbach, das Haus ist als Brücke darüber gebaut. Das Wasser fällt über mit Moos bewachsene Felsen in die Tiefe und zieht dann unter ihrem Haus weiter zum Fluss. Eine Wandergruppe kommt den Berg herunter, lacht und plaudert auf Italienisch.

Ein Haus in Italien. Pittoresker geht es kaum. Fühlen sie sich zu Hause hier?

„Ja“, sagt Tamar Zekbach, „meistens. Irgendwie.“

Sie meditiert jeden Tag. Seit Jahren. Sie kann mit Ambivalenzen umgehen.

Schon einmal hatte sie sich mit ihrer Familie aufgemacht, um zu erkunden, ob sie ein Zuhause außerhalb von Israel finden könnten. 2019 nahmen sie eine Auszeit in Indien. Dann kam Covid. Sie wollten eigentlich nur kurz Israel besuchen, aber blieben dann pandemiebedingt dort hängen. Als sie 2022 von Luzzatis „Baita“-Projekt hörte, wurde sie Mitglied. Sie reisten nach Valsesia, es gefiel ihnen. Aber sollten sie tatsächlich umziehen, Freund*innen, Familie, Arbeit hinter sich lassen? Die Idee blieb abstrakt – bis zum 7. Oktober.

„Ma Hainjanim?“– Wie geht’s? Diese Begrüßung hört man immer öfter in den Straßen von Varallo. In einem Schuhladen diskutieren einige auf Hebräisch, welche Stiefel besser geeignet für den Winter sind

Ohad Zekbach hatte die Nacht im Süden des Landes in der Negev-Wüste verbracht, wenige Kilometer von der Grenze zum Gazastreifen entfernt. Gemeinsam mit anderen Or­ga­ni­sa­to­r*in­nen des Midburn, der israelischen Variante des Burning-Man-Festivals, hatte er die Gegend als potenziellen Austragungsort für das Festival erkundet.

Dann kamen die Sirenen. Nach und nach verstanden die Zekbachs, dass die Ereignisse größer und grauenvoller waren, als sie dachten. Ohad Zekbach hing in seinem Camp fest, wusste nicht, in welche Richtung er fliehen sollte, also blieb er mit den anderen, wo sie waren. Irgendwann rief er seine Frau an und sagte: „Es ist so merkwürdig, es ist so ein heißer Tag, aber hier laufen Leute wie verrückt die Straße herunter, und ich verstehe nicht, warum.“ Es dauerte eine Weile, bis den beiden klar wurde, wer diese Menschen waren: die Festivalbesucher vom nahegelegenen Nova-Festival. Die radikalislamische Hamas hatte allein dort am 7. Oktober 364 Menschen getötet.

Ohad Zekbachs Geschichte ging gut aus. Gegen sieben Uhr abends war er zurück zu Hause. Doch dem Paar wurde an diesem Tag klar, dass jegliche Hoffnung auf Frieden verloren gegangen war, für sehr lange Zeit. Der Krieg, davon waren sie überzeugt, würde lange dauern. Und sie sorgten sich, dass die vom Iran gelenkte Hisbollah im Libanon in den Krieg mit einsteigen könnte. Am 10. Oktober warfen sie die wichtigsten Sachen in einen Koffer und flogen nach Italien.

Tamar Zekbach läuft die Treppe hinunter zur Garage. Dort legt ihr Mann den Akkuschrauber zur Seite, dreht den Sessel um und stellt ihn auf die Beine. „So“, sagt er und nickt zufrieden: „Jetzt haben wir dieses Stück Zuhause wieder bei uns.“ Dann klopft er auf die Lehne. So wie man einem alten Freund auf die Schulter klopft, den man lang nicht gesehen und sehr vermisst hat. Seine Frau sieht ihm dabei zu, wie er den Stoff des zweiten Sessels durch die Laschen zieht.

Kann sie ganz zu Hause sein, wenn sie die Sprache nicht spricht? Wenn sie nicht spontan am Abend ins Theater gehen­ kann und alles versteht? Wird sie sich je zugehörig fühlen?

Wenn niemand spricht, hört man nur den Bach unter dem Haus entlang­rauschen, Vogelgezwitscher. Manchmal Rufe vom Wanderweg.

„Das Ganze hier erinnert mich an das Jerusalem meiner Kindheit“, sagt Tamar Zekbach. An das Jerusalem der 1980er Jahre. An die Zeit, in der es nur eine Sorte Mayonnaise gab und man in den Bussen mit Papiertickets zahlte.

Ugo Luzzati kam vor ein paar Jahren ins Tal. Heute hilft er israelischen Familien, hierher auszuwandern

Tamar Zekbach hatte eine idyllische Kindheit, den politischen Konflikt mit den Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen spürte sie nicht. Sie spielte mit Freun­d*in­nen in den Straßen der Nachbarschaft, manchmal gingen sie auf den arabischen Markt in Ostjerusalem, um Hummus zu essen. Sie wusste, sie lebte in einer besonderen Stadt, im Zentrum von drei Religionen. Und war stolz darauf.

Doch dann begann das, was sie als „Ära der prägenden Ereignisse“ bezeichnet: die erste Intifada ab 1987, später die Busse, die explodierten. Es war die Zeit des Misstrauens und der Angst. Doch es war auch die Zeit der Friedensbewegung. Ihre Großmutter hatte 1939 hatte einem der letzten Schiffe der Jugend-Alijah gerade noch aus Österreich fliehen können; nun stand sie in den ersten Reihen, um für den Frieden zu demonstrieren, ihre Enkelin nahm sie mit. Bald wurden die Demonstrationen ihr zweites Zuhause, Tamar Zekbach wurde Mitglied in der sozialistischen Pfadfinderorganisation Hashomer Hatzair und später in der Jugendorganisation der linken Partei Meretz. „Die Möglichkeit von Frieden wachzuhalten“, das wurde ihre Mission.

Tamar Zekbach kann viel akzeptieren. Dass Zuhause ein kompliziertes Konzept ist. Dass sie die Ruhe und Abgeschiedenheit hier genießt und doch immer wieder auch die Rauheit und Quirligkeit Israels vermisst. Dass sie sich manchmal zu Hause fühlt und manchmal ins Zweifeln gerät.

Doch eines, sagt sie, kann sie nicht hinnehmen: ein Leben auf fauligem Boden zu führen. So nennt sie es. Sie meint die faschistischen Tendenzen in Israel, den unverblümten Rassismus, die inhärente Gewalt. All das war schon lange da, sagt sie, nun ist es für alle sichtbar. Ihr ist bewusst, dass in Italien eine postfaschistische Regierung an der Macht ist, aber es ist nicht ihre, sagt sie. Für sie macht das einen Unterschied. Der Grad der Gewalt sei in Israel um ein Vielfaches höher. „Im Übrigen“, sagt sie, „bin ich nicht nach Italien gezogen, sondern ins ‚Baita‘-Projekt.“

Ebenso inakzeptabel ist für Tamar Zekbach, das Leben ihrer Familie aufs Spiel zu setzen. Ihr ältester Sohn ist 17 Jahre alt. Wären sie nur wenige Monate später gegangen, wäre er dem Militärdienst nur schwer entkommen.

Sie hat gekämpft. Auch später, im Erwachsenenalter, als sie Projektmanagerin bei der NGO New Israel Fund war und sich für soziale Gleichheit und gegen die Besatzung eingesetzt hat. Manchmal ist sie zornig und verzweifelt, und manchmal sitzt sie in der Küche in Varallo und weint. Darüber, dass sie gezwungen wurden, das Land zu verlassen.

„Wir wurden überstimmt“, sagt sie. „Die anderen haben gewonnen.“

Tamar Zekbach kann viel akzeptieren. Dass Zuhause ein kompliziertes Konzept ist. Dass sie die Ruhe hier genießt und doch auch immer wieder Israels Quirligkeit vermisst. Doch eines, sagt sie, kann sie nicht hinnehmen: ein Leben auf fauligem Boden zu führen

Ohad Zekbach stellt den zweiten Sessel auf die Füße und klopft zufrieden auch auf dessen Lehne. Tamar Zekbach trägt ihn die Treppen hinauf ins Wohnzimmer. Manchmal kommen ihr Zweifel, aber La Baita, die Berghütte, ist ihr Haus geworden.

Die israelische Migration ist auch unter den Ita­lie­ne­r*in­nen des Tals Thema. Das Wort „Israel“ fällt in den Bars, in denen sie ihren Morgenespresso trinken, man hört es an den Straßenecken vor Zeitungsständen. Es geht nicht um den Krieg im Gazastreifen, um den Konflikt mit den Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen – auch wenn die italienische Bevölkerung im Großen und Ganzen bekannt dafür ist, für Palästina Partei zu ergreifen. Es geht um die israelischen Kinder, die in den Schulen lernen, Vanille-Eis in den Cafés kaufen, und um die Hoffnung, die Valsesia in die Israelis setzt. „Ärzte und Krankenschwestern aus Israel für das Krankenhaus von Borgo“, titelte die Lokalzeitung Notizia Oggi vor einigen Tagen. Rund ein Dutzend Stellen, darunter auch in der Kardiologie, sind seit Langem unbesetzt. Zum vergangenen Stichtag war nicht eine einzige Bewerbung eingegangen.

Dass nun israelische Ärzte für das Krankenhaus Borgosesia angeheuert werden sollen, geht natürlich auf Luzzati und sein Projekt zurück. Dafür arbeitet er mit dem Bürgermeister der Stadt Borgosesia, Fabrizio Bonaccio, zusammen.

„Für uns ist es völlig selbstverständlich, die Israelis mit offenen Armen zu empfangen“, sagt der. Er sitzt in seinem Büro vor einem gerahmten Madonnenbild und drückt einen Anruf nach dem nächsten weg, um nicht unterbrochen zu werden.

„Es ist doch gut, wenn Menschen hier arbeiten wollen. Hier, wo es schön ist, aber doch sehr abgelegen.“

Tatsächlich ist es schwer vorstellbar, dass in einem Dorf in Deutschland ein großer Schwung Israelis so offen empfangen würde wie hier. Nicht bei den jüngsten Wahlergebnissen und derzeitigen Trends. Allerdings: Italien wählt noch rechter. Weit über die Hälfte der Wahlberechtigten in Borgosesia haben bei den Europawahlen ihr Kreuz bei rechten und extrem rechten Parteien gesetzt.

So abgeschieden das Tal in seiner Geschichte war und auch heute noch ist – die Weltoffenheit, so sagen viele, stecke in der DNA der Menschen im Tal

Hat Bonaccio keine Angst vor einem antisemitischen Backlash?

„Das ist Netanjahus Schuld“, grätscht er in die Frage: „Bis vor Kurzem gab es keinen Antisemitismus. Der Genozid in Gaza mit tausenden toten Kindern hat dieses Gefühl hervorgerufen, und ich würde es nicht Antisemitismus nennen, sondern Antipathie gegenüber der israelischen Regierung.“

Kein Antisemitismus, nirgends? In dieser Absolutheit schwer vorzustellen. Doch zumindest auf Valsesia bezogen sagt auch Luzzati, dass er dort keinen Antisemitismus spüre.

Woran das liegt, ist schwer zu beantworten. Die politische Gemengelage ist komplex. Auf der einen Seite gibt es die eher propalästinensische Stimmung in der Bevölkerung, auf der anderen Seite steht Meloni Netanjahus rechtsextremer Koalition durchaus nahe. Sie bemüht sich seit Langem, ihr Image von jeglichen Antisemitismusvorwürfen zu befreien – und einen Umgang mit der Jugendorganisation ihrer Partei zu finden, aus deren Reihen Antisemitismus nicht wegzudenken ist. Vielleicht ist es einfach so: Die Menschen im Tal wissen, dass die Israelis, die ins Tal kommen, weder Netanjahu-Befürworter*innen noch Ultraorthodoxe sind und ihre Unterstützung brauchen. Die geben sie gerne.

An einen Backlash glaubt er dementsprechend auch nicht, trotz der postfaschistischen Regierung Giorgia Melonis – und trotz der Tatsache, dass Luzzati allen Grund zum Misstrauen hätte. Denn seine Familie hat unter den Fa­schis­t*in­nen gelitten. In den 1940er Jahren, erzählt er, wollte sein Großvater gemeinsam mit dessen Cousin über die Grenze in die Schweiz fliehen. Als sie den Schleuser trafen, sagte sein Großvater, er traue ihm nicht. Er ging zurück nach Genua und versteckte sich in den Bergen. Der Cousin jedoch versuchte es, gemeinsam mit seiner Frau und seinen kleinen Kindern und Eltern. Der Schleuser verriet sie an die Deutschen. Sie wurden in Auschwitz vergast. Luzzatis Großvater überlebte.

Familie Zekbach in ihrem neuen Haus. Ein paar Möbel aus ihrem alten Leben haben sie sich nachschicken lassen

Luzzati trägt diese Geschichte in sich, aber er glaubt an die Stärke der italienischen Demokratie – und vor allem an Europa als Korrektiv. Ein Italien ohne Europa würde zusammenbrechen, sagt er. „Das weiß jeder, auch hier in Italien.“

Egal, mit wem man spricht: Valsesia ist für die Menschen ein besonderer Fleck Erde. Das sagt Luzzati, das sagen die Israelis, die hierherkommen. Und auch Gianni Tognotti, der Vizepräsident des Projekts „Baita“, ist davon überzeugt. Er hat sich zu Luzzati ins Büro gesellt und scherzt mit seinem Projektpartner.

Wenn er von den Menschen im Tal spricht, schiebt er, der zu einer alteingesessenen Familie gehört, ein Wir vor „Valsesianer“. „Wir Valsesianer sind ein Volk von Emigranten“, erklärt er. In dem gebirgigen Gelände war es schwer, etwas anzubauen. Also zogen die Leute aus, um Geld außerhalb zu verdienen, als Kirchenbauer, Tischler, Bildhauer, Restauratoren, sie gingen nach Frankreich, Deutschland, in die Schweiz und kamen mit neuen Eindrücken wieder zurück nach Hause. So abgeschieden das Tal in seiner Geschichte war und auch heute noch ist – die Weltoffenheit, so sagen viele, stecke in der DNA der Menschen im Tal.

Und doch: Als würden sie kein Unheil heraufbeschwören wollen, legen die Israelis eine große Vorsicht an den Tag, passen auf, immer höflich und zuvorkommend zu sein, bitten ihre Kinder lieber einmal zu viel als zu wenig, doch besser etwas leiser zu sein. Nicht alle von ihnen sind bereit, mit mir zu sprechen. Viele sorgen sich, dass ein Zeitungsartikel mehr Israelis anlocken könnte, dass sie zu viele werden könnten – zu viel für die Gastfreundschaft der Menschen in Valsesia.

Luzzati läuft durch die Gassen Varallos zum Bürgertreff des Ortes. Zweimal in der Woche mietet das „Baita“-Projekt dort einen Freizeitraum und nutzt es für Aktivitäten der israelischen Community. Er zieht einen Rollladen nach dem anderen hoch. „Baita“ ist ein Vollzeitjob. Luzzati hilft bei Visumsanträgen und Wohnungssuche, spricht mit Lokalpolitikern, Lehrerinnen. Leitet interessierte Israelis durchs Tal. Für jedes Haus, das eine der Immobilienagenturen an Israelis verkauft, bekommt Luzzati Prozente. Viel komme dabei jedoch nicht rum, sagt er, nicht mehr als eine kleine Aufwandsentschädigung.

Bürgermeister Fabrizio Bonaccio setzt große Hoffnung in die Neu­ankömmlinge

Hat er eine Vision? Luzzati winkt ab. Wirklich nicht? „Ich will einfach nur helfen“, sagt er. Aber während Luzzati die Rollläden hochzieht und die ersten Kinder begrüßt, fragt man sich doch, ob das wirklich alles ist. Ist das Projekt nicht vielleicht auch sein Versuch, sich selbst, dem binationalen Juden, ein Zuhause zu schaffen? Ein Zuhause, das seine beiden Nationalitäten miteinander verbindet?

Eine Handvoll Kinder stürzt sich auf den Kicker, ein kleines Mädchen wirft einen Schaumstoffball zu ihrem Vater und quietscht vor Lachen. Luzzati führt in einen Raum im Keller und schaltet das Licht an, das grell auf ein Dutzend Tische fällt, die über den Raum verteilt sind. Stühle liegen mit der Stuhlfläche nach unten darauf. Hier feiern die Israelis manchmal ihre Feste. Pessach. Rosch Haschana, Sukkot.

„Wenn jemand möchte. Wir sind ja kein Kibbuz“, sagt Luzzati und löscht das Licht.

Aufgedrückt werden soll hier nichts. Keine Gemeinschaft, keine Feste, vor allem keine religiösen. Mit Religion will fast keiner der Israelis in Valsesia etwas zu tun haben. Für die meisten ist jüdische Religion mittlerweile untrennbar mit Israels rechtsreligiöser Regierung verbunden. Als die jüdische Gemeinde in Mailand und Turin auf Luzzati zukam und sich vorstellen wollte, blockten sie ab. Sie wollen ein Leben aufbauen jenseits der Netanjahu-Regierung, jenseits der Kriege und Konflikte in ihrem Heimatland eine neue Heimat finden.

Die junge Frau, die vor einigen Stunden noch müde und durchnässt in Luzzatis Büro gesessen hat, kommt aus dem Bürgertreff. Sie lächelt.

„Ich bin verwirrt“, sagt sie. Sie war neugierig auf das Projekt und das Tal, aber ihre eigentliche Idee war nicht, Israel zu verlassen, um sich dann in einer israelischen Community wiederzufinden. Doch in diesem Bürgertreff in Varallo war sie innerhalb von Sekunden in persönlichen Gesprächen mit anderen Israelis, die sie nie zuvor gesehen hat, erzählt sie. „Es scheint so einfach hier.“ Sie schlendert mit ihrem Partner und dem Baby zusammen zurück in die Innenstadt. „Aber vielleicht kann es auch stören beim Versuch, sich in die lokale Bevölkerung zu integrieren?“

Wohin, wenn die alte Heimat verloren ist? Ugo Luzzati und Tamar und Ohad Zekbach haben ihre Antwort gefunden. Viele andere sind noch auf der Suche. So wie das junge Paar, das jetzt zu seinem Camper zieht, um Pasta zu kochen und darüber nachzudenken, wo es leben will. Vielleicht in Valsesia.

Judith Poppe, 45, ist Redakteurin im Auslandsressort. Bis 2023 hat sie für die taz aus Israel und den palästinensischen Gebieten berichtet.

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