Israelische Kriegsdienstverweigerer: Nicht mehr ihr Krieg
130 israelische Deserteure erklären in einem gemeinsamen Brief, warum sie sich weigern, weiter zu kämpfen. Die taz hat mit drei von ihnen gesprochen.
M ax Kresch will nicht mehr kämpfen. Der drahtige 28-Jährige steht auf dem Vorplatz des Tel Aviver Kunstmuseums. Statt Uniform trägt er Jeans und T-Shirt, vor dem nächsten TV-Interview steckt er sich eine gelbe Schleife an den Kragen: das Symbol für die Forderung nach einer Rückkehr der von der Hamas entführten Geiseln. „Für dieses Land und diese Regierung bin ich nicht mehr bereit mein Leben zu opfern“, sagt er. Zusammen mit ihm haben 129 andere Reservisten und Wehrdienstleistende Anfang Oktober einen Brief unterschrieben, so lange nicht mehr zum Dienst zu erscheinen, bis ein Abkommen zur Freilassung der Geiseln und für ein Ende des Krieges geschlossen wird. Seitdem hört das Telefon von Max Kresch kaum noch auf zu klingeln.
Dass 130 Soldaten ihren Dienst verweigern, während die Kämpfe gegen die Hisbollah im Libanon immer mehr an Fahrt aufnehmen und ein Krieg mit dem Iran jederzeit beginnen könnte, das sorgt für Diskussionen in Israel. Israelische Medien haben Vorrang bei Interviewanfragen, sagt Kresch in sein Handy. „Wir wollen laut sein und widersprechen, in einer Zeit, in der viele es sich nicht trauen.“
Für die Armee kommt das zur Unzeit. Nach einem Jahr Krieg verweigerten manche Reservisten im Stillen schon aus reiner Erschöpfung den Dienst, teilt die Organisation Misvarot mit, die Verweigerer unterstützt. Seit Kriegsbeginn sei die Zahl der Beratungsanfragen um das Vierfache gestiegen, das Militärgefängnis für Deserteure überbelegt. Und nun wollen 130 Kriegsdienstverweigerer über ihre Motivlage reden, davon 64 mit vollem Namen: über das, was sie erlebt haben und über die Krise, in der sie die Armee und deren Führung ein Jahr nach Kriegsbeginn sehen.
Die israelische Armee ist auf Reservisten angewiesen, 220.000 von ihnen wurden nach dem 7. Oktober mobilisiert. Zudem genießt sie über alle politischen Gräben hinweg Vertrauen. Debatten über die Armee sind in dem extrem militarisierten Land sensibel. Fast alle sind sich einig: Ohne die Armee würde Israel im Nahen Osten nicht lange existieren. Wer in den Monaten nach dem Hamas-Überfall mit Israelis egal welcher politischen Ausrichtung sprach, bekam oft zu hören: „Die Armee wird das Richtige tun.“
Doch genau daran zweifeln die Verweigerer nun. 130 Unterzeichner klingen nach wenig, doch sie lassen erahnen, dass viele andere über einen solchen Schritt zumindest nachdenken. „Für manche von uns ist die rote Linie bereits überschritten, für andere kommt sie näher“, heißt es in dem Brief.
Das bisherige Versagen der Regierung, die Geiseln zurückzubringen, sei nur „the straw that broke the camels back“, also in etwa: der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, sagt Kresch. Die Unterzeichner seien teils zermürbt von ihren Erlebnissen im Krieg, teils geschockt von der politischen Stimmung in ihren Einheiten oder auch schlicht desillusioniert von der Tatsache, dass das Ziel dieses Kriegs zunehmend schwer auszumachen scheint. „Wir, die wir mit Hingabe gedient und dabei unser Leben riskiert haben, geben hiermit bekannt, dass wir unseren Dienst nicht fortsetzen können“, schreiben sie.
Auf dem Platz vor dem Kunstmuseum lehnt sich Kresch, erschöpft wirkend, in den weißen Plastikstuhl zurück und schaut hinüber zu HaKirija, dem markanten Hochhaus des Verteidigungsministeriums, auf dessen Dach ein Hubschrauberlandeplatz thront. „Für mich ist nach dem 7. Oktober mein Glauben zerbrochen, dass die Regierung dieses Land zu einem besseren Ort machen will.“ Kresch ist nicht unbedingt der Prototyp eines linken Pazifisten: Aufgewachsen in den USA in einer religiös-zionistischen Gemeinde, zog er 2014 im Alter von 18 Jahren aus Überzeugung nach Israel, seine Eltern und Geschwister folgten. Er leistete seinen Wehrdienst in der Spezialeinheit Egoz und verpasste seither keinen einzigen Reservedienst.
„Am 7. Oktober wurden wir an die libanesische Grenze geschickt“, sagt Kresch. Er und seine Kameraden seien davon ausgegangen, binnen Stunden eine Invasion der Hisbollah abzuwehren. „Ich dachte damals, dass wir in ein paar Stunden nicht mehr am Leben sein könnten.“
Als der Angriff ausblieb und wieder Zeit für Gespräche war, sei er von den radikalen Ansichten seiner Kameraden schockiert gewesen. „Manche sagten, es sei nach dem Hamas-Überfall eine Mitzwa, eine religiöse Pflicht, palästinensische Kinder zu töten, weil sie zu Terroristen heranwachsen würden“, erinnert sich Kresch. Nicht nur, dass sie damit die Aussagen der extremsten israelischen Politiker übernahmen. Auch die Tatsache, dass kaum jemand von seinen Kameraden widersprach, habe ihn desillusioniert.
Roee Negbi, Infanterist und ein weiterer Unterzeichner des Briefes, erzählt von ähnlichen Erfahrungen. Nach dem 7. Oktober wurde der 24-Jährige mit dem roten Vollbart einberufen und in das Grenzgebiet zum Gazastreifen geschickt. Seine Einheit beschreibt er als „gemischt, ein bisschen was aus allen Teilen der israelischen Gesellschaft“. Mit 30 Soldaten war er auch am Ort des Nova-Festivals, wo fast 400 Israelis getötet wurden. „Mit all den Namen und Fotos der Ermordeten ist es ein Ort, der schwere Gefühle hervorbringt“, sagt Negbi. Die Kommentare einiger Soldaten hätten ihn dennoch geschockt: „Wir müssen Rache nehmen an diesen Hurensöhnen in Gaza, wir müssen jeden dort töten. Und keiner hat widersprochen, es gab keine Konsequenzen“.
Max Kresch in einem Facebook-Post
Am 12. Oktober schreibt Max Kresch bei Facebook: „Die Extremisten sagen, Gaza muss plattgemacht werden. Dass sie den Frieden aufgegeben haben, schmerzt am meisten.“ Er halte am Frieden fest: „Jetzt ist die Zeit, palästinensische und arabische Freunde zu unterstützen“, heißt es in dem Post weiter.
Einer von Kreschs Kameraden sieht den Text und zeigt ihn in der Einheit herum. Am Ende wird Kresch versetzt. „Einer aus meinem Zug hat mir gesagt, er wisse nicht mehr, ob er sich im Zweifel auf mich verlassen könne“, sagt er heute. „Dass ich und andere, die widersprechen, ausgeschlossen werden, lässt die Einheiten noch radikaler werden.“
Wozu die Radikalisierung innerhalb der Armee führt, weiß Yuval Green zu berichten. Der 26-jährige Medizinstudent und Reservesoldat der 55. Fallschirmjägerbrigade meldet sich am 7. Oktober bei seiner Einheit. Nach etwa zwei Monaten Training rücken sie in die dicht besiedelte Stadt Chan Junis im Süden des Gazastreifens vor. Doch die Zweifel wachsen bei Green: „Wir haben zu viel Zerstörung hinterlassen.“ Als er Ende Dezember im Armeeradio hört, die israelische Regierung würde ein neues Abkommen zur Freilassung der Geiseln hinauszögern, ist seine persönliche rote Linie überschritten. Trotzdem bleibt er.
„Ich kenne die anderen in meiner Einheit seit unserem Wehrdienst, das sind meine Freunde“, sagt Green. Als einziger Mediziner in seinem Zug will er sie nicht zurücklassen. Aber er berichtet von rassistischen Ansprachen eines offen religiös-nationalistischen Kommandeurs. Von Soldaten, die sich durch den zurückgelassenen Besitz palästinensischer Familien wühlen: „Unter ihnen hat sich daraus ein Wettkampf entwickelt, wer die schönsten muslimischen Gebetsketten findet.“ Er erzählt von Waffengebrauch im Team ohne militärischen Hintergrund. Am jüdischen Lichterfest Chanukka etwa habe der Bataillonskommandant alle seiner rund 300 Soldaten in die Luft schießen lassen. „Er wollte ein Feuerwerk“, sagt Green.
Er ist einer der Ersten, die öffentlich und mit Klarnamen sprechen. Fast alles, was Green berichtet, deckt sich mit dem, was man auch bereits seit Monaten online im Netz findet. Bereits kurz nach Kriegsbeginn häufen sich Videos und Fotos, gepostet von Soldaten selbst. In einem feuert einer aus einem Panzer eine Granate auf ein Gebäude und sagt dazu: „Das ist ein Geburtstagsvideo für Adi, wir feiern in Gaza.“ In einem anderen schießt ein Soldat, ohne zu zielen, ein ganzes Maschinengewehrmagazin auf ein Haus und zieht dabei scheinbar genüsslich an einer Zigarette.
Viele Fotos zeigen Soldaten mit Symbolen der religiös-nationalistischen Siedlerbewegung, die eine Vertreibung aller Palästinenser aus Gaza und die jüdische Besiedlung des Küstenstreifens fordert. Andere zeigen offensichtlich mutwillige Zerstörungswut: In einem zerschlägt ein Soldat der Givati-Brigade mit einem Vorschlaghammer die Küchenzeile einer palästinensischen Wohnung.
Recherchen israelischer Medien, darunter Ha’aretz und das Onlinemagazin +972, erheben unter Berufung auf die Aussagen von – allerdings anonymen – Soldaten noch schwerere Vorwürfe. Dort ist von Zivilisten die Rede, die systematisch erschossen worden seien, weil sie bestimmte Gebiete betreten hatten. Ein Soldat wird mit den Worten zitiert: Das „Gefühl der Bedrohung“ reiche als Begründung, das Feuer zu eröffnen. „Es ist erlaubt, jeden zu erschießen, ein junges Mädchen, eine alte Frau.“
In der Vergangenheit hat die Armee die seit Monaten berichteten Plünderungen durch Soldaten als solche benannt und Untersuchungen angekündigt. „Eine große Lüge“, sagt Green. „Ich glaube, dass die oberen Ränge der Armee das unterbinden wollen, aber sie haben schlicht nicht die Macht dazu.“ Zu einer ähnlichen Einschätzung kam der Militärsoziologie Yagil Levy schon Anfang des Jahres. In der Ha¹aretz schrieb er von einem „Zusammenbruch der Armee-Hierarchie“. Die Militärführung würde „die Rufe nach Rache, die Verstöße gegen die Disziplin und die missbilligende Haltung gegenüber den Schießvorschriften mitbekommen, aber fast nichts unternehmen“.
Yuval Green über das Verhalten von israelischen Soldaten in Gaza
Green sagt, die Soldaten wüssten, dass in derartigen Fällen kaum je Konsequenzen drohen: „Sie machen, was sie wollen.“ Die Kommunikation der Armee nennt er dabei eine „zynische Berechnung“. Alles, was in Gaza geschehe, werde mit militärischer Notwendigkeit erklärt. In vielen Fällen sei das der Fall, nur könne niemand wissen, wann nicht. Für internationale Journalisten hat Israel das Gebiet bereits seit Kriegsbeginn abgeriegelt.
Auf eine Weise könne er die Taten seiner Kameraden verstehen, sagt Green. „Viele von ihnen haben am 7. Oktober geliebte Menschen verloren.“ Er würde sich wünschen, dass sie darüberstehen könnten und trotz ihrer Wut und ihres Schmerzes auch die andere Seite sehen. „Auch unter den Palästinensern hat fast jeder geliebte Menschen durch die israelische Armee verloren.“
Green zögert, bevor er den nächsten Gedanken ausspricht: „Israels Rechte liegen gar nicht falsch damit, dass es in Gaza keine unbeteiligten Zivilisten gibt, bloß trifft das auf Israel genauso zu.“ Wenn Palästinenser, die mit der Hamas sympathisierten, nicht unbeteiligt seien, wieso sollten dann Politiker der israelischen Regierungsparteien, die in der Knesset von Vertreibung und Auslöschung sprechen, oder jene die sie wählen, unbeteiligt sein?
Die Menschen auf beiden Seiten seien so lange und so tief in einen blutigen Konflikt verstrickt, dass kaum jemand daran unbeteiligt sein könne. „Ich will durch mein Handeln zeigen, dass ich unsere Extremisten nicht unterstütze, als ausgestreckte Hand für jene Palästinenser, die die Gewalt der Hamas nicht unterstützen.“
Im Januar widersetzt er sich dem Befehl seiner Kommandeure, ein Wohnhaus anzuzünden, das die Truppe während eines Einsatzes als Basis genutzt hat. „Ihre Gründe dafür waren absurd“, sagt er. Sein Befehlshaber argumentierte, die Einheit dürfe keine Spuren hinterlassen. Greens Angebot, das Haus zu durchsuchen und alle militärischen Hinterlassenschaften zu beseitigen, wird abgelehnt. „Ich habe gedroht, dass ich gehen würde, wenn sie das Gebäude anzünden.“ Als sie es trotzdem tun, steigt Green auf einen Nachschubtransporter und verlässt den Gazastreifen.
Nun sammeln er und Kresch weitere Deserteure, um gemeinsam politischen Druck aufzubauen. Die Hürden sind hoch: Auf Kriegsdienstverweigerung drohen Gefängnisstrafen. Noch schwerer wiegt für viele aber der innere Bruch, nicht mehr zu gehen, wenn die Armee ruft. Andererseits hat dieses Mittel in Israel, wo auf Soldaten mehr gehört wird als auf Zivilisten, eine lange Geschichte.
Schon vor der Staatsgründung 1948 gab es Organisationen wie den 1925 gegründeten pazifistischen Zusammenschluss Brit Schalom. Die Gruppe setzte sich für jüdisch-arabische Verständigung in einem binationalen Staat ein, blieb aber politisch weitgehend wirkungslos. Bedeutung kam Refuseniks, den Verweigerern, zunehmend seit dem Sechstagekrieg 1967 zu. Die Zahl derer stieg, die nicht aus Pazifismus verweigerten, sondern um gegen die Besatzung des Westjordanlands und des Gazastreifens zu protestieren.
Bedeutend wurde die Verweigerung als politisches Mittel im Rahmen massiver Proteste gegen den Ersten Libanonkrieg 1982. Die Organisation Jesch Gwul („Es gibt eine Grenze“) gründete sich mit einem Schreiben an den damaligen Ministerpräsidenten Menachem Begin. Darin forderten hunderte Reservesoldaten einen Abzug aus dem Nachbarland und warnten, dort nicht als Reservisten zu dienen. Green und Kresch haben sich heute mit Yischai Menuchim, einem der Deserteure von damals, zusammengetan.
Die Gruppe der 130 aber trifft heute auf ein anderes Israel. Zum einen steht, anders als 1982, der Großteil der jüdischen Israelis hinter dem Krieg gegen die Hisbollah und laut einer Umfrage von Anfang Oktober knapp die Hälfte hinter einer Fortsetzung des Gazakrieges. Zum anderen ist die israelische Gesellschaft seitdem massiv nach rechts gerückt. Bei einer Konferenz der national-religiösen Siedlerbewegung an der Grenze zum Gazastreifen sagte May Golan, eine Ministerin der Likud-Partei von Regierungschef Benjamin Netanjahu, dass Siedlungen in Gaza die Sicherheit Israels befördern würden. Netanjahu selbst hat derartige Pläne bisher ausgeschlossen.
Die Radikalisierung geht auch am Militär nicht vorbei. Die national-religiöse Bewegung hat die Armee als politisch relevante Institution ausgemacht: 40 Prozent der Offiziersanwärter der Infanterie kommen heute aus ihren Kreisen – weit mehr als der Anteil der National-Religiösen in der Gesellschaft und weit mehr als die 2,5 Prozent Offiziersanwärter, die sie noch im Jahr 1990 stellten. Die National-Religiösen sehen in der jüdischen Besiedlung des Landes eine göttliche Pflicht, aufbauend auf den religiös-zionistischen Lehren von Abraham Isaac Kook, ab 1921 Oberrabbiner im vorstaatlichen britischen Mandatsgebiet Palästina. Für dessen Nachfolger sind damit auch das Westjordanland und der Gazastreifen gemeint, für manche gar Teile der Nachbarländer.
Ein Wendepunkt für die Bewegung war die 2005 vom damaligen Ministerpräsidenten Ariel Scharon beschlossene Räumung tausender israelischer Siedler durch die Armee und der einseitige Abzug Israels aus Gaza. Spätestens seitdem haben deren Anhänger viel darangesetzt, Einfluss auf säkulare Institutionen zu gewinnen. Bei der Polizei ist dieser Einfluss heute deutlich spürbar, seit der rechtsextreme Polizeiminister Itamar Ben-Gvir zahlreiche Führungspositionen neu besetzen konnte. Eine Beschränkung der Befugnisse des Obersten Gerichts hat die israelische Zivilgesellschaft 2023 mit Mühe verhindert. Bei der Armee läuft der Prozess sehr viel subtiler. Heute werden an rund zwei Dutzend religiöser Militärakademien in Israel junge Männer aus gläubigen Familien auf die Armee vorbereitet.
„Es gibt noch immer eine große Diskrepanz zwischen den oberen und unteren Rängen in der Armee“, sagt der Sicherheitsexperte Andreas Krieg vom Londoner King’s College. Der rechte Nachwuchs würde aber über die Jahre kontinuierlich mehr und höhere Positionen einnehmen. Krieg hat zwei Jahre in Tel Aviv gelebt und pflegt seit vielen Jahren gute Kontakte zu hochrangigen Armeekreisen in Israel. Er beschreibt die Militärführung als noch immer vorwiegend liberale und säkulare Elite. Die sei aber einerseits mit der gesamten Gesellschaft so sehr nach rechts gerückt, dass viele ihrer Positionen heute denen der Rechten vor 20 Jahren entsprächen. Andererseits gerate sie nun doppelt unter Druck: Durch die zunehmend extremistische politische Führung und durch immer größere Truppenteile, in denen nationalreligiöse Narrative zunehmen.
„Die Auseinandersetzungen zwischen führenden Militärs und der Regierung sind an einem historischen Tiefpunkt“, sagt Krieg. Immer wieder wurden im vergangenen Kriegsjahr Meinungsverschiedenheiten zwischen Armee und Regierung offen ausgetragen, etwa als Armeesprecher Daniel Hagari im Juni eine Zerstörung der Hamas als unrealistisch bezeichnete und sich prompt eine heftige Rüge von Netanjahu zuzog.
Extreme Empathielosigkeit
Manche Offiziere kritisieren laut Krieg, dass religiös-zionistische Ideen inzwischen die Leitlinien für den Einsatz und das Verhalten der Soldaten und Kommandeure am Boden beeinflussen würden. Im Januar forderten laut dem Militärsoziologen Yagil Levy 90 Kommandeure von Reservebataillonen die Armeeführung auf, in Gaza, im Libanon und im Westjordanland nicht zu stoppen, bevor der „Sieg“ erreicht wäre. Ihre Rhetorik trage zur Entmenschlichung von Palästinensern und zur Geringschätzung des Völkerrechts bei, sagt Krieg. Moderate Israelis würden dem oft wenig entgegensetzen, auch bei ihnen herrsche spätestens seit dem 7. Oktober extreme Empathielosigkeit gegenüber Palästinensern.
„All das ist nicht neu“, sagt Max Kresch auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv. Er habe sich während seiner Reservedienste vor dem Krieg als „Stimme der Vernunft“ gesehen, etwa bei Einsätzen im Westjordanland. „Ich habe nicht erst nach dem 7. Oktober das erste Mal jemand von ‚menschlichen Tieren‘ sprechen hören, wenn es um Palästinenser ging“, sagt Kresch.
Einmal, bei einem Einsatz vor zweieinhalb Jahren, holt seine Einheit festgenommene Palästinenser aus Ramallah ab. Die Männer sind gefesselt und tragen Augenbinden: „Wir wussten nicht, was sie getan hatten.“ Als Kresch einen der Gefangenen im Transporter umsetzt, weil ihm Wasser aus der Klimaanlage auf den Kopf läuft, fragt ihn einer der anderen Soldaten verwundert, warum er „dieses Tier“ so menschlich behandelt.
Eine Woche nach der Veröffentlichung des Briefs hat Kresch das Militär am Telefon. „Sie haben angefangen, mich und die anderen anzurufen“, sagt er. Er sei gefragt worden, ob er seine Entscheidung zurücknehmen wolle, andererseits könne es Konsequenzen haben. Manche habe das verunsichert. Ins Gefängnis sei bisher aber niemand gekommen, die Regierung wolle wohl nicht noch zusätzliche öffentliche Aufmerksamkeit generieren, vermutet Kresch.
Minister und Rechte hätten sie „erwartbar“ als Verräter beschimpft. Darüber hinaus aber sei ihnen viel Verständnis entgegengebracht worden. Kresch ermutigt das: „Nicht nur wir haben das Gefühl, dass mit der Ablehnung eines Waffenstillstands und der Rückkehr der Geiseln ein Versprechen zwischen der Regierung und den Menschen zerbrochen ist.“ Er habe dem Anrufer von der Armee gesagt, „dass sie uns ernst nehmen müssen und dass wir nur die Spitze des Eisberges sind“. Denn gefährlicher als jeder Gegner von außen seien Soldaten, die nicht mehr wüssten, wofür sie kämpfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Trumps Krieg gegen die Forschung
Byebye Wissenschaftsfreiheit
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Merz stellt Reform in Aussicht
Zarte Bewegung bei der Schuldenbremse
Altvordere sollen Linke retten
Hoffen auf die „Silberlocken“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten