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Auf dünnem Eis

In der Nähe des indigenen Ortes Nuiqsut im Norden Alaskas entsteht eines der größten Erdölprojekte der USA. Es bedroht nicht nur die Wildbestände in der Region. Die Bewohner sind gespalten

Sam ­Kunaknana (mit Gewehr) auf dem Weg zur ­Karibu-Jagd

Aus Nuiqsut und Fairbanks Inga Dreyer und David Schmidt (Text und Fotos)

Jonahs Haus steht auf Stelzen, er deutet auf die Höhe des Holzbaus und sagt: „Früher war das Eis so dick.“ Dann hält der alte Mann die Hände in einem Meter Abstand voneinander: „Jetzt ist es nur noch so.“ Jonah lehnt an seiner Veranda, lächelt und zieht an einer Zigarette. Er ist Kapitän eines Walfangbootes, das hier in Nuiqsut liegt, einem Iñupiat-Dorf im Norden Alaskas. Jonahs Gesicht sieht aus, als hätte der Arktiswind tiefe Furchen hinein­gegraben. „Der Klimawandel ist real“, sagt er.

An kaum einem anderen Ort der Erde zeigen sich die Folgen der Klimakrise deutlicher als hier innerhalb des Polarkreises. Schon 2023 meldete die University of Alaska Fairbanks einen Allzeit-Hitzerekord in Teilen Kanadas und Alaskas, 2024 wurde er noch übertroffen. An Winter wie früher, in denen bis zu minus 40 Grad Celsius herrschten, erinnern sich hier nur noch die Alten.

Noch vor 50 Jahren lebten die indigenen Iñupiat halbnomadisch in Iglus und Zelten, heute verteilen sich die meisten auf eine Handvoll kleiner Gemeinden an der Polarmeerküste im Norden Alaskas und Kanadas. Eine davon: Nuiqsut.

Das 500-Menschen-Dorf liegt wie eine Insel inmitten der Tundra in einer der am dünnsten besiedelten Regionen der Welt. Wer im August mit einem der kleinen Flugzeuge hier hinkommt, sieht, wie sich die Mitternachtssonne in zahllosen Schmelzseen bricht, die die Landschaft zerfurchen. Im dunklen Winter verwandeln eisige Tempe­raturen das Land in eine weiße Landschaft.

Im Sommer 2023, als die taz Jonah besucht, ist es mit etwas unter 10 Grad Celsius für Nuiqsuts Verhältnisse warm. Jonah gehört zur Gründergeneration der Gemeinde. Seine Eltern zogen mit ihm durch die Arktis, folgten den Wanderrouten von Tieren. In den 70er Jahren bildete ihre Gemeinschaft ein Zeltdorf. In dieser Zeit entdeckte die Ölindustrie den Norden Alaskas, den sogenannten North Slope, für sich. Jonah war damals zwölf.

Nur eine Straße führt aus Nuiqsut hinaus – bis an das nahegelegene Ölfeld, markiert durch einen massiven roten Stahlturm, der aus der baumlosen Einöde ragt. Jonah sieht ihn von seinem Haus aus deutlich: Das „Alpine-Projekt“. Ganz in der Nähe davon entsteht das „Willow-Projekt“.

Es soll das größte Erdölprojekt in der Geschichte Alaskas werden: 8 bis 17 Milliarden Dollar könnte es dem Betreiber zufolge während seiner Laufzeit in Alaskas Staatskassen, den Bezirk und anliegende indigene Communities spülen. Das kleinere Alpine-Projekt läuft seit den Nullerjahren. Beide unterhält der Konzern ConocoPhillips, der siebtgrößte Erdölkonzern der Welt. In Deutschland, Großbritannien, Österreich und der Schweiz betreibt eine ConocoPhillips-Tochter das Tankstellennetz JET.

Vom Walfang erzählt Jonah gerne, von der Ölindustrie lieber nicht. Seinen vollen Namen will er nicht nennen. So ist es auch mit anderen hier im Dorf. Es herrscht Argwohn gegenüber der Presse. Der Ort ist durch das Willow-Projekt zur Bühne für ein nationales Klima-Politikum geworden, die Dorfgemeinschaft ist darüber gespalten.

Nuiqsut besteht aus fünf Häuserblöcken, einer Schule, dem Rathaus, zwei Kirchen und einer Klinik, einem Heizkraftwerk und der Gemeindehalle. Die flachen Wohnhäuser haben holzverkleidete Wände und wenige Fenster, sie stehen auf hohen Stelzen über dem sumpfigen Permafrostboden. Dazwischen alte Autowracks, neue Jeeps, Boote, Geweihe und Knochen, Schneemobile, Trampoline und Kinderspielzeug, Harpunen und Felle, die auf Gestellen trocknen. Auf die großen, grünen Müllsammelbehälter, die an jeder Kreuzung stehen, sind bunte Bilder und Botschaften gemalt: „Welcome to Nuiqsut“ steht auf einem, „No drugs, no alcohol, no abuse“, gezeichnet: „The children of Nuiqsut“. Ein paar Jugendliche düsen auf lauten Motorrädern über die Schotterstraße. Außerhalb der Siedlung in alle Richtungen kilometerweit nichts als die weite Tundra.

Am Dorfrand liegt ein Arbeitscamp mit Maschinenfuhrpark, blaue Ölfässer markieren den Weg. Nicht weit entfernt baut Ölkonzern ConocoPhillips an Pipelines, Fluglandebahnen und weiterer Infrastruktur. Im Sommer zieht sich der Permafrost mehrere Meter ins Erdreich zurück und hinterlässt eine schwammige, schwer passierbare Wüste. Die großen Maschinen, die für den Bau notwendig sind, können nur operieren, wenn der Grund gefroren ist. Dann werden Straßen ins Eis geschlagen, die mit der Frühjahrsschmelze wieder verschwinden.

Geg­ne­r*in­nen bezeichnen das Willow-Projekt als „Kohlenstoffbombe“ – laut einer Analyse der staatlichen Behörden würde es während seiner Lebensdauer rund 280 Millionen Tonnen Treibhausgase produzieren. Das entspricht den Emissionen von mehr als einer Milliarde Flüge von Berlin nach München.

Willow löste in den USA eine Kontroverse über die Klimapolitik aus, als dem Projekt im Frühjahr 2023 die Genehmigung ausgesprochen wurde. Die Biden-Regierung verabschiedete zwar Gesetze für den klimafreundlichen Umbau des Landes, unternahm jedoch wenig, um die Förderung von fossilen Brennstoffen zu reduzieren. Seit ein paar Jahren herrscht ein neuer Öl-Boom, es wird mehr gefördert als je zuvor. Zwar hat Biden auf die Proteste gegen das Willow-Projekt reagiert und die Ölförderung in Alaska stark eingeschränkt – aber Willow darf bleiben. Sollte Donald Trump im November zum Präsidenten werden, könnten die Regulierungen der Demokraten wieder fallen.

Die Anwältin Bridget Psarianos von der Kanzlei Trustees for Alaska vertritt eine Koalition aus Indigenen- und Umweltverbänden. Sie haben gegen Willow geklagt – während die Bauarbeiten schon laufen, warten sie derzeit auf den Urteilsspruch eines Berufungsgerichts. Der Vorwurf: Die Freigabe des Projekts durch das Bureau of Land Management (BLM) und andere Behörden habe Gesetze zum Umweltschutz und die Rechte von Selbst­ver­sor­ge­r*in­nen verletzt. „Verkehr, Lärm und Umweltverschmutzung werden massive Auswirkungen auf die Tierwelt, die Luft- und Wasserqualität, den Boden und die dort lebenden Menschen haben“, sagt Psarianos.

Geg­ne­r*in­nen bezeichnen das Willow-Projekt als „Kohlen-stoffbombe“

So steht es auch in einem offenen Brief von Anfang 2023, den Rosemary Ahtuangaruak unterschrieben hat, damals Bürgermeisterin von Nuiqsut. Durch den Bau und die Helikopter würden die Karibuherden vertrieben, heißt es darin. Doch auf Nachfragen dazu geben sich das Rathaus und auch Nuiqsuts Stadtrat verschlossen. Sämtliche E-Mails an die Man­dats­trä­ge­r*in­nen bleiben unbeantwortet.

Der offene Brief stammt aus einem Haus, vor dem ein Schild mit der Aufschrift „Native Village“ steht. Hinter der Eingangstür sind drei Frauen, ein Baby und ein kleines Mädchen, das seiner Mutter neugierig über die Schulter guckt. Eunice Brower ist Mitarbeiterin des Native Villages, einer Interessenvertretung der Iñupiat, und Umwelt-Expertin. Sie sitzt hinter einem mit Papieren überfüllten Schreibtisch. Sie habe keine Zeit, sagt sie, und fängt dann trotzdem an zu erzählen.

„Zuerst waren viele Leute gegen das Willow-Projekt, wegen seiner Auswirkungen auf die Karibujagd.“ Das Dorf habe sich immer wieder beraten, untereinander, aber auch mit dem Ölriesen ConocoPhillips. Die Erfahrungen, die die Gemeinde in den vergangenen Jahrzehnten mit Alpine, dem ersten Ölprojekt vor Nuiqsut gemacht hat, hätten gezeigt, dass sich die Ölbohranlagen auf die Routen der Karibuherden auswirken, sagt Brower. „Manche Älteste sagen, dass die alten Jagdgründe verschwinden.“

Das sei ein großes Problem für die Versorgung im Ort. „Andererseits gibt es eine Menge Leute, die Willow unterstützen, weil es Arbeitsplätze schafft. Es bringt dem gesamten North Slope viel Geld ein. Die Infrastruktur ist veraltet. Das Geld hilft dabei, sie zu verbessern“, sagt Brower.

Die Bodenschätze gehören den Indigenen zwar nicht. Das National Petroleum Reserve of Alaska ist Staatseigentum, indigene Firmen aber besitzen in der Region bestimmte Rechte. Im Fall von Alpine etwa Oberflächenrechte und damit das Recht auf Lizenzgebühren von ConocoPhillips. Die indigenen An­teils­eig­ne­r*in­nen werden über Dividenden an den Gewinnen aus den Geschäften beteiligt. Das sind in Nuiqsut vor allem Dorf-Gründer*innen wie Walfänger Jonah und deren Erben.

Die Kuukpik, die die Beteiligung organisiert, ist eine von mehr als 200 Village Corporations, die die indigenen Gemeinden Alaskas vertreten – und eine der erfolgreichsten. Die Unternehmen gehen auf den Alaska Native Claims Settlement Act (ANCSA) von 1971 zurück, ein Gesetz zur Klärung von Rechten im Zuge des beginnenden Öl-Booms. Indigene gaben Ansprüche auf von ihnen bewohnte Gebiete auf – dafür erhielten sie Wertpapiere über rund ein Zehntel der Fläche Alaskas. Für deren Verwaltung setzten die USA die Village Corporations ein und machten Indigene zu deren Teilhaber*innen.

Qapqan Patkotak ist gegen das Willow-Projekt. Den Konzernen gehe es nur um Profit

„Trotz der Gewinne aus dem Öl ist auch heute noch ein großer Teil unserer Gemeinschaft von der Subsistenz abhängig“, sagt Eunice Brower. „Wir jagen Fisch, Wale, Robben, Bartrobben. Das Karibu ist das Jahr über unser wichtigstes Grundnahrungsmittel. Aber die Mehrheit unserer Gemeinschaft isst viel Wal, das größte Säugetier, von dem wir leben“.

Brower guckt auf die Uhr, Feierabend. Eine ihrer Mitarbeiterin verabschiedet sich. Sie trägt einen Pullover mit dem Namen der Frauen-Walfang-Crew von Nuiqsut auf dem Rücken. In ein paar Tagen starten die Boote – über den breiten Fluss hin zu einer kleiner Insel im Arktischen Ozean, von der aus die Jagd beginnt.

Sind die Wal­fän­ge­r*in­nen zurück, wird nach alter Sitte geteilt. Auch, wer selbst nicht arbeiten kann, wird versorgt. Zwei Wale genügen, um die kleine Gemeinde ein Jahr lang mit Fleisch zu versorgen. Früher konnte ein erfolgloses Jahr Hunger und so genannte Senizide auslösen, bei denen Stämme ihre Älteren zurückließen, um schneller voranzukommen und mehr zu essen zu haben. Entstanden sind solche Nöte meist infolge der Ausbeutung von Tierbeständen im industriellen Maßstab. Durch Russland, die USA, Europa. Walfangflotten brachten den Grönlandwal Anfang des 20. Jahrhunderts kurz vor sein Aussterben. Erst seit 1972 ist der Walfang in den USA verboten, Ausnahmen gibt es unter strengen Einschränkungen nur für die Indigenen.

Eine, die der Ölindustrie schon lange kritisch gegenübersteht, ist Rosemary Ahtuangaruak, Unterzeichnerin des offenen Briefs und im Sommer 2023 noch Bürgermeisterin von Nuisqut. Dass es ihre letzte Amtszeit sein wird, zeichnet sich da bereits ab. Bei Gesprächen im Dorf ist Missmut zu hören, Ahtuangaruak steht in der Kritik – auch weil sie eine der wenigen ist, die sich öffentlich gegen Willow einsetzen. Doch sie will nicht reden. „Gehen Sie zu Sam und Rene“, sagt sie am Telefon und nennt eine Adresse – dann bricht die Verbindung ab.

Sam Kunaknanas und Rene Opies Haus hat einen kleinen Vorraum, in dem eine Eistruhe steht, in der Karibu­fleisch, Lachse und Graulinge lagern. Auf einem Sessel im Wohnzimmer sitzt Kunaknana, schwarz-graues Haar, Mitte 50, die Beine übereinandergeschlagen. Er erzählt mit leiser Stimme von der Jagd und von seinem Engagement. Er sei Mitglied des Stammesrates gewesen, auch Bürgermeister. „Niemand im Ort weiß mehr über unser Land und die Tiere“, sagt Rene Opie über ihren Partner. Inzwischen erhielten die beiden keine Jobs mehr. Kunaknana glaubt, es liege an seiner Haltung zu Willow.

Aber das Öl schafft Arbeitsplätze und bringt den Gemeinden viel Geld ein

„Viele Leute verstehen nicht, was hier wirklich vor sich geht“, sagt er. Er warne seit Jahren davor, was die Ölbohrungen für das Leben der Iñupiat bedeuten. Ihn sorgen die Karibus, aber auch die gesundheitlichen Folgen.

Am nächsten Tag packt das Paar Taschen mit Räucherlachs und getrocknetem Fleisch. Über den breiten Fluss geht es mit dem Motorboot nordwärts in die Jagdreviere der Iñupiat. Eine junge Frau mit traditionellen Tätowierungen im Gesicht fährt auch mit.

Kunaknana leint das Boot am Ufer fest, erklimmt eine Böschung und bindet ein weißes Stück Plastik an einen Ast. Die Markierung soll später helfen, die Stelle wiederzufinden. Dann nimmt er das Gewehr auf den Rücken, schiebt die Zweige einer Weide beiseite und sucht sich einen Weg durchs dichte Gestrüpp.

Voran geht es in der Tundra nur langsam, der Boden gibt mit jedem Schritt nach. Wer nicht aufpasst, tritt ins Wasser, das in schmalen Rinnsalen unter den Büschen entlang fließt. Nach ein paar Metern lichten sich die Weiden und geben den Blick in eine riesige Ebene frei. Die junge Frau läuft voran und verschwindet aus dem Blickfeld. „Sie muss vorsichtig sein. Ein Bär könnte sich anschleichen“, sagt Kunaknana, da taucht die Frau mit den Gesichtstattoos wieder auf: „Wow! Hier gibt’s Cloudberries!“, ruft sie und zeigt eine Tüte mit gelben, überreifen Beeren.

Qapqan Patkotak ist 18 Jahre alt und lebt in Utqiagvik, der größten Iñupiat-Siedlung in Alaska. Sie verbringt die Schulferien in Nuiqsut. Während Kunaknana den Horizont mit dem Fernglas absucht, setzt sie sich von der Gruppe ab.

Wo Öl gefördert wird, zerschneiden Pipelines die Landschaft, wie hier die Trans-Alaska-Pipeline, die sich von Nord nach Süd schlängelt

Sie sucht den Boden nach Beeren ab und beginnt zu erzählen. Vor Kurzem sei ihre Freundin gestorben. Man sage, sie sei nachts alleine aufs Eis gegangen und auf einer Scholle auf den Ozean getrieben. Vielleicht sei es Suizid gewesen.

Dann erzählt sie von den Traumata ihrer Eltern, wie sie sich vererben. „Viele junge Indigene kämpfen mit ihrer psychischen Gesundheit. Manche leiden so sehr, dass es Selbstmorde gibt.“ Weil die Älteren nicht von den Verbrechen in ihrer Kindheit erzählen, sei vielen Jugendlichen nicht klar, worunter sie leiden. Auch der Unterricht behandle das Thema nicht. „Sie spüren einfach, dass etwas nicht in Ordnung ist. Es gibt viele Fälle von Alkoholismus bei uns, Drogenmissbrauch, alles, was man sich vorstellen kann.“

Mit dem Ziel der Auflösung indigener Gemeinden und der Übernahme ihrer Gebiete betrieben die USA und Kanada bis in die 1960er Jahre meist christliche Internate. Indigene Kinder wurden ihren Familien entrissen und in die Internate gezwungen. Laut Studien und Zeitzeugenberichten wurden sie dort schwer misshandelt, erhielten englische Namen. „Ihre indigenen Namen sowie ihre Sprache, kulturelle und spirituelle Bräuche waren unter Strafe verboten.“ Gewalt, Ernie­dri­gung und Missbrauch gehörten zur Tagesordnung. Bis heute gelten Zehntausende als vermisst.

Die Arktis zählt zu den Regionen mit den höchsten Selbstmordraten weltweit. Indigene sind besonders betroffen. „Ich habe die Geschichten der Menschen gehört, die in den Internaten waren“, sagt Patkotak. „Die Menschen wurden dort abscheulich behandelt. Das gilt für alle Ur­ein­woh­ne­r*in­nen Alaskas und für die gesamten Vereinigten Staaten.“

Die Karibu-Bestände könnten weiter schrumpfen

Qapqan Patkotak wünscht sich, dass die Indigenen zu ihrer traditionellen Lebensweise zurückkehren können. „Aber wie bringt man das alles wieder zurück? Es gibt zwar Kurse für unsere Sprache Iñupiaq, aber vieles von unserer Kultur ist verloren gegangen. Vor allem unsere Spiritualität.“

Zum Willow-Projekt hat die junge Frau eine klare Meinung: „Die Konzerne interessiert nur ihr Profit. Ich wünschte, sie würden einfach verschwinden.“ Aber nur wenige Menschen würden so denken wie sie.

Sam Kunaknana bezeichnet die Ölindustrie als „Fluch und Segen zugleich“. Das Geld helfe, aber wenn nichts passiere, drohe die Kultur der Iñupiat zu verschwinden.

Amy Lovecraft, Politologin an der University of Alaska Fairbanks, spricht von einem Generationenkonflikt: Während die Jüngeren von fossilen Brennstoffen wegkommen wollen, hätten viele Älteren noch selbst für ihre Landansprüche gekämpft und seien stolz auf den Status quo. Das mache es neuen Ideen schwer. „Aber ich habe bei Versammlungen auch schon erlebt, dass Jüngere sich getraut haben, Forderungen zu stellen“, sagt Lovecraft.

Inzwischen haben sich der Stadtrat und das Native Village von ihrem offenen Brief und damit von ihrer Kritik am Willow-Projekt distanziert. Im August 2024 verkündet ConocoPhillips, bei Willow wichtige Meilensteine erreicht zu haben, die Bauarbeiten lägen vor dem Zeitplan. Alaska ist erzkonservativ geprägt, eine eigene Klimaschutzagenda gibt es im größten US-Bundesstaat nicht – obwohl sich das Land durch die Klimakrise rasant verändert.

Das Eis geht zurück, der Permafrostboden schmilzt, sagt die Biologin Nancy Fresco. „Wenn der Boden nicht mehr gefroren ist, kommt es bei Stürmen zu starker Erosion.“ Auch die Vegetation verändert sich. Je tiefer die nicht gefrorene Schicht im Boden, desto größer sind die Pflanzen, die darin wachsen. Während große Teile des Landes von Fichtenwäldern bedeckt sind, wachsen in der Tundra flach wurzelnde Büsche, Moose und Gräser. „Wenn sich der Boden an der Oberfläche auch nur um ein paar Zentimeter verändert, werden immer mehr Sträucher und Bäume nach Norden wandern“, sagt Fresco. „Sicher ist: Es wird eine neue Arktis geben.“

Sam Kunaknana lässt seinen Blick über die Tundra gleiten, legt das Gewehr an. Ein einzelnes Karibu ist in der Ferne zu sehen. Der Jäger zielt mit konzentriertem Blick. Dann nimmt er das Gewehr wieder runter. Er lässt das einsame Karibu ziehen. „Es ist zu groß. Die Älteren im Dorf haben sich ein Junges, Zartes gewünscht“, sagt er.

Die junge Generation wisse heute nicht mehr, wie eine richtige Karibuherde aussehe. „Sie sehen ein paar Hundert Tiere und glauben, das sei schon viel.“ Früher seien die Herden riesig gewesen. „Es war, als würde sich die ganze Tundra bewegen.“

Transparenzhinweis: Diese Recherche wurde unterstützt vom Transatlantic Media Fellowship der Heinrich-Böll-Stiftung.

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