Hamburger Grünen-Abgeordnete tritt aus: Ab zur Linken

Aderlass bei den Landesverbänden in Niedersachsen und Hamburg. Die Bürgerschaftsabgeordnete Ivy May Müller wechselt zur Linksfraktion.

Grünen-Politiker vor einem Wahlplakat

Die Richtung dürfte aus Sicht der Grünen Jugend gestimmt haben: Wahlplakat der brandenburgischen Grünen Foto: dpa/Soeren Stache

Hamburg taz | Dem Parteiaustritt des Bundesvorstandes der Grünen Jugend hat sich eine Reihe junger Grüner aus Norddeutschland angeschlossen. Dazu gehören der komplette Vorstand des Landesverbandes Niedersachsen sowie mehrere Mitglieder des Hamburger und Schleswig-Holsteiner Landesvorstandes. Der erst vor gut einer Woche gewählte schleswig-holsteinische Landesvorstand hat eine weitere Mitgliederversammlung angekündigt, um den Landesvorstand neu zu wählen.

Der Bundesvorstand der Grünen Jugend hatte vergangene Woche Mittwoch angekündigt, die Geschäfte noch bis zum Bundeskongress der Grünen Jugend vom 18. bis 20. Oktober weiterführen zu wollen, aber nicht wieder zur Wahl anzutreten. Stattdessen wirbt er dafür, einen neuen linken Jugendverband zu gründen. Projektname: „Zeit für was Neues“.

Als einzige Mandatsträgerin im Norden ist die Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete Ivy May Müller ausgetreten. Dass dieser Schritt schon länger vorbereitet worden war, zeigt ein professionell gemachter Instagram-Beitrag der Abgeordneten. „Als ich 2020 für die Grünen in den Hamburger Landtag eingezogen bin, wollte ich die Hoffnung meiner Generation ins Parlament tragen“, sagt Müller dort.

Diese Hoffnung habe ihre Generation verloren: Gegen Inflation, Rechtsruck und Klimakrise scheine es kein Ankommen zu geben. Das sei aber kein Zufall sondern politisches Versagen. „Es braucht eine neue Politik, die Abstiegsängste ernstnimmt und Gerechtigkeit schafft.“ Diese müsse bedingungslos an der Seite der arbeitenden Menschen stehen und dürfe nicht immer wieder Kompromisse mit den Reichen und den Konzernen machen.

Zu viel Regierung

Müller kündigte an, als parteilose Abgeordnete künftig bei der Linken in der Bürgerschaft mitzuarbeiten. Die zeigte sich erfreut: Sie schätze Müller als profilierte und gut vernetzte Bildungspolitikerin, erklärte die Co-Fraktionvorsitzende Sabine Boeddinghaus.

„Mit ihrem Ansatz, den Menschen in der Stadt auf Augenhöhe zu begegnen und bei Alltagssorgen für sie da zu sein, ist sie bei uns genau richtig“, ergänzte ihre Kollegin Cansu Özdemir. Müller solle am Montag formell in die Fraktion aufgenommen werden

Die Fraktionschefin der Grünen in der Hamburgischen Bürgerschaft, Jennifer Jasberg, bedauerte den Weggang der „fachpolitisch versierten, engagierten Abgeordneten“. Ihr Austritt sei „auch menschlich ein Verlust“.

Jasberg gab aber zu bedenken, dass die großen Krisen unserer Zeit nur gemeinsam und mit möglichst großer Mannschaftsstärke zu bewältigen seien. „Wir sollten nicht den vergleichsweise einfachen Weg der Zersplitterung wählen“, sagte Jasberg der taz. Müllers Austritt habe sich schon länger angedeutet.

Die Hamburgerin Emilia „Milla“ Fester, mit 26 Jahren die jüngste Abgeordnete im Deutschen Bundestag, reagierte „traurig und wütend“ auf die Austritte. Sie äußerte der taz gegenüber jedoch Verständnis für den Frust. Es habe in der letzten Zeit zu viel konservativ orientierte Politik gegeben. Aber gerade in der aktuellen Zeit brauche es progressive Kräfte bei den Grünen, „die klar für einen Kurs auf sooziale, linke Politik einstehen.“

Aus Sicht des niedersächsischen Landesvorstandes ist die Politik der Grünen nicht mit den Werten der Grünen Jugend vereinbar. Die Partei sei „viel zu sehr von dem Anspruch getrieben, Teil einer Regierung zu sein, die aber eine Politik umsetzt, die uns große Sorgen bereitet“, sagte Rukia Soubbottina, Sprecherin des Landesvorstandes dem NDR. Lange habe die Jugend versucht, sich etwa gegen Grenzkontrollen, ein schärferes Asylrecht oder mehr Geld für die Bundeswehr zu stemmen – vergeblich.

Die ausgetretene Landessprecherin der Grünen Jugend Schleswig Holstein Katharina Kewitz begründete ihre Entscheidung in einer Presseerklärung konkret: „Ich treffe sie für Freunde und Familie, die sich in der Pflege kaputtarbeiten, während Konzerne auf ihrem Rücken und auf Kosten unserer Gesundheit Profite machen.“

„Die Partei ist reformierbar“

Bei der Stange bleiben will Leon Bossen, der 23-jährige Fraktionschef der Grünen in Flensburg. „Die Partei ist reformierbar“, sagte Bossen der taz. Die Grünen müssten aber nicht nur die Personalfrage klären sondern auch ihre inhaltliche Ausrichtung schärfen. „Die grünen brauchen ein deutliches Profil der sozialen Gerechtigkeit, ein linkes Profil“, findet Bossen.

Es brauche eine Partei, die den Mut habe „das gegenwärtige Deutschland beim Namen zu nennen – ein Land, dass inmitten einer tiefen Armuts- und Infrastrukturkrise steckt“. Die Grünen müssten es schaffen, den Klimaschutz sozial gerecht zu gestalten.

„In der Problemanalyse sind wir dicht beieinander“, teilte Jasper Balke, Landtagsabgeordneter und Mitglied der Grünen Jugend, mit. Doch der Weg, die Partei zu verlassen, sei absolut falsch und dem Anliegen nicht dienlich.

Gazi Freitag, der Landesvorsitzende der schleswig-holsteinischen Grünen, zeigte sich „ein bisschen überrascht“ über die Austritte, „weil wir die Grüne Jugend hier in Schleswig-Holstein immer sehr miteinbezogen haben, um ihren Anliegen Gehör zu verschaffen“. Die Grüne Jugend sei die einflussreichste Jugendorganisation in Schleswig-Holstein der letzten Jahre gewesen.

Der Landesvorstand der Grünen Jugend Mecklenburg Vorpommerns teilte mit, er teile die inhaltliche Kritik am Kurs der Grünen, wolle aber in der Partei bleiben.

Sie lesen die aktualisierte Fassung eines Beitrages vom 27. September. Mitarbeit: Esther Geißlinger

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