piwik no script img

Zum 7. OktoberVerführerische Apokalypse

Kommentar von Hagai Dagan

Die Hamas verherrlicht den Tod nicht nur ihrer Gegner, sondern auch ihrer eigenen Kämpfer. Damit steht sie konträr zur biblischen Botschaft.

Eine Panzerpatrouille im Grenzgebiet zum Gazastreifen, am Tag vor dem Massaker vor einem Jahr Foto: Amir Cohen/reuters

D ie Benennung von Kriegen ist ein interessantes Thema. Die Urheber von Kriegen geben ihnen Namen, die das Bild, das Gefühl oder Ethos widerspiegeln, das sie mit dem Krieg verbinden. In den meisten Fällen bleiben diese Namen, die eher dramatisch und pompös sind, allerdings nicht hängen, und der Krieg bekommt einen viel nüchterneren, prosaischeren Namen. Oft unterscheiden sich die Bezeichnungen bei den Kriegsparteien.

So ist der Krieg von 1948 in Israel/Palästina auf israelischer Seite als Unabhängigkeitskrieg in die Geschichte eingegangen, während er auf palästinensischer Seite als Nakba (Katastrophe) bekannt ist. Der Krieg, der am 7. Oktober begann, bekam auf israelischer Seite den Titel „Eiserne Schwerter“, aber niemand nennt ihn so. Die Hamas nannte ihn „Tufan al-Aksa“: Sintflut von al-Aksa.

Es ist ein Name, der einerseits mit der palästinensischen Nationalbewegung in Verbindung gebracht wird, zum anderen mit der Hamas als einer fanatisch religiöse Bewegung, die die Al-Aksa-Moschee zu einem Symbol im Kampf für palästinensische Souveränität gemacht hat. Historisch gesehen ist das völliger Unsinn. Neben der religiösen Ideologie steckt noch eine andere Bedeutung in diesem Namen: Apokalypse.

Die Sintflut wird in der Bibel mit dem Ende der Welt gleichgesetzt, genauer gesagt mit dem göttlichen Entschluss, das Leben auf der Erde zu vernichten. Nicht zum ersten Mal lässt Gott es zu, dass eine mörderische Mentalität die Oberhand gewinnt. Die Gründe dafür sind vage, sie implizieren indes, dass die Welt nur nach einer solchen Auslöschung die Chance hat, in einem unschuldigen Modus neu erschaffen zu werden. Natürlich scheitert auch dieses Projekt völlig.

Hagai Dagan

lehrt Jüdisches Denken am Sapir College in Sderot und ist Autor vieler Sachbücher und Romane. Auf Englisch erschien im Mai sein Spionagethriller „The March Angel“.

Eher extremistisch als pragmatisch

Die Hamas-Männer drangen in die Kibbuzim ein, ermordeten, vergewaltigten und zerstörten, und an vielen Orten blieben sie einfach dort und warteten auf die Armee. Warum warteten sie auf eine Schlacht, die sie nicht gewinnen konnten? Wahrscheinlich, das zeigen Befragungen der Gefangenen – um vor dem eigenen Tod möglichst viel Tod und Zerstörung zu verursachen. Das Ziel war, mit dieser blutigen Orgie der totalen Zerstörung, Schock und Chaos in der israelischen Gesellschaft zu verbreiten.

Im Koran ist das göttliche Verhalten etwas verständlicher: Die Sintflut ist eine Reaktion auf die Weigerung der Menschen, an einen einzigen Gott zu glauben. Die Flut wird als Strafe für die Bösen beschrieben, die den Monotheismus ablehnen. Nimmt man die Auslegung vom Hamas-Chef Jahia Sinwar ernst, sind die in Palästina lebenden Juden und Jüdinnen böse, weil sie palästinensisches Land besetzen und aus dieser Perspektive ketzerisch sind.

Unter israelischen Kommentatoren gab es Debatten darüber, ob die Hamas eine pragmatische Organisation mit rationalen Zielen ist, die nur vorgibt, extremistisch zu sein, oder ob sie eine extremistische religiöse Organisation ist, die manchmal pragmatisch wirkt, um Feinde zu täuschen. Äußerungen einiger Hamas-Führer, die kein Interesse an der Infrastruktur Gazas zeigen, erweckten den Eindruck, dass die Organisation nicht pragmatisch ist.

Die Hamas hat den Gazastreifen in einen befestigten Bunker verwandelt. Unter der Erde erstreckt sich über Hunderte Kilometer ein Tunnellabyrinth. Normales Leben erscheint wie die Tarnung für ein apokalyptisches Unternehmen. Einige Ziele der Hamas sind vielleicht nicht völlig unrealistisch, aber sie sind in endzeitlichen Farben gemalt. In das Chaos der Hamas mischen sich Hass, Rache, Sadismus und Mord, aber auch eine selbstzerstörerische Freude.

Kriegsfreunde auch in Israel

Die Flut soll nicht nur Feinde des Islam, sondern auch die Krieger selbst auslöschen. Es ist eine Kultur der Verherrlichung des Todes. In der Geschichte, die der Koran erzählt, bleiben Noah und seine Familie am Leben. In der Version der Hamas sterben auch die „Gerechten“. Auch auf israelischer Seite gibt es Stimmen, die eine mildere Version der apokalyptischen Geschichte übernehmen. Einige sitzen in der Regierung. Im Umkreis von Finanzminister Bezalel Smotrich wird der Krieg begrüßt.

Krieg verfeinert, reinigt und erbaut uns. Das ist eindeutig Faschismus, eingepackt in religiöse Rhetorik. Auf beiden Seiten gibt es Menschen, die der Blutgeruch erregt und die ihre Gesellschaften in den Untergang reißen. Die Frage ist, wie viele vernünftige Menschen es noch gibt, die gegen diese apokalyptische Entwicklung halten können.

Die Hamas hat ein strenges Indoktrinationssystem geschaffen, um diese Denkweise in der palästinensischen Gesellschaft zu verankern. Wie erfolgreich sie dabei ist, lässt sich schwer sagen. Klar ist, dass trotz des immensen Leids, das die Palästinenser ertragen müssen, die Hamas-Ideologie noch immer Anhänger findet und keinen offenen Widerstand hervorruft. Die Mehrheit der Palästinenser macht Israel, allenfalls arabische Länder und die westliche Welt für ihr Leid verantwortlich, nicht aber ihre eigenen Führer.

Anders in Israel, wo wöchentlich Hunderttausende gegen die Regierung und die religiösen Fanatiker protestieren. Gleichzeitig scheint sich jedoch auch ein großer Teil der israelischen Gesellschaft mit der Vorstellung eines ewigen, blutigen Krieges abzufinden. Die Apokalypse ist verführerisch, weil sie einen starken Kontrast zur frustrierenden Mittelmäßigkeit des Lebens darstellt. Neil Young singt: „It’s better to burn out than to fade away.“ Aber das Leben, so mittelmäßig es auch ist, ist immerhin ein Leben.

Die Apokalypse bringt nur den Tod. Am Ende der biblischen Sintflutgeschichte scheint es Gott zu bereuen und er verspricht, die Erde nie wieder zu zerstören: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Es ist eine Lebensbotschaft, eine Botschaft der Hoffnung. Bedauerlich, dass Sinwar und andere Fanatiker diese Geschichte nie bis zum Ende gelesen haben.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

12 Kommentare

 / 
  • Da scheint einem der Text der Offenbarung des Johannes unbekannt zu sein. In der Eschatologie bleibt zwar die Frage von Prämillenarismus und Postmillenarismus ungeklärt, doch allgemein geht man von einer grundlegenden Änderung der Verhältnisse aus, die zur Vollendung der Schöpfung führt. Damit bringt die Apokalypse keineswegs den Tod. Es soll auch nicht implizit eine Todeskultur verherrlicht werden.

  • Die israelische Regierung zu stürzen ist nicht ganz einfach, bei der aktuellen Mehrheit im Parlament. Aber es gibt viele Menschen in Israel, die eine neue Regierung wünschen. S. Artikel mit Fania Oz-Salzberger "Israelis umarmen, Netanjahus in den Hintern treten. Die nächste Wahl ist aber erst 2026.



    Bei allem Leid der Palästinenser: solange sie sich nicht gegen die Hamas positionieren und deren Barbarei wird das nix mit Frieden in der Region.

  • Wenn Hams und Hisbollah doch ihre eigene Religion ernst nähmen und im Korn nachlesen würden:

    Sure 17, Vers 104:



    „Und nach ihm sprachen wir zu den Kindern Israels: Wohnet in dem Lande (Palästina); und wenn die Zeit der zweiten Verheißung kommt, dann werden Wir euch hinzubringen als eine Schar, gesammelt (aus den verschiedenen Völkern.)“

    Sure 7, Vers 137:



    "Und Wir gaben dem Volk (Moses) das für schwach galt, die östlichen Teile des Landes (Palästina) zum Erbe und die westlichen Teile dazu, die Wir gesegnet hatten. Und das gnadenvolle Wort deines Herrn war erfüllt an den Kindern Israels, weil sie standhaft waren; und Wir zerstörten alles, was Pharao und sein Volk geschaffen und was an hohen Bauten sie erbaut hatten.“

    Zitiert nach dem Wikipedia-Artikel über Palästina.

  • Danke!

  • "Die Mehrheit der Palästinenser macht Israel ... für ihr Leid verantwortlich, nicht aber ihre eigenen Führer."

    Die Mehrheit der Deutschen machte nach Hitlers Krieg die Alliierten für ihr Leid verantwortlich, nicht ihren eigenen Führer. Es dauerte Jahrzehnte, bis sich dies mehrheitlich änderte.

    "Auf beiden Seiten gibt es Menschen, die der Blutgeruch erregt und die ihre Gesellschaften in den Untergang reißen." Verbrecherisch, menschenverachtend, aber leider wahr.

    Bei den Palestinensern vermisst der Autor "offenen Widerstand", trotz Hamas-Diktatur, totaler Zerstörung und zehntausenden Toten.

    "Anders in Israel, wo wöchentlich Hunderttausende gegen die Regierung ... protestieren." Aber es gibt keine Neuwahlen, kein "offener Widerstand", der in einer Demokratie, die Israel hoffentlich noch ist, um so viel einfacher wäre, als im Kriegsgebiet des Gaza-Streifens.

    Die Hamas wird vom israelischen Militär getötet und zerstört, aber wer stürzt die ebenfalls vom Blutgeruch erregte* israelische Regierung? Die israelische Bevölkerung offensichtlich nicht.

    *"Die ganze Welt bewundere die „Schläge“, welche die israelischen Streitkräfte den Feinden des Landes versetzt hätten, sagte Netanjahu"

    • @denkenmachtschön:

      Wer raubt das Land der Palästinenser im Westjordanland? Israel. Wer ermordet seit Jahrzehnten jedes Jahr zig palästinensischen Bauern regelmäßig im September und Oktober? israelische Siedler, israelische Polizei und Militär, also die Sicherheitsorgane Israels.

  • Netter Versuch. Wo gerade das 'Wasser' steigt, ist jedoch der Gazastreifen.

    Den 1.200 Toten in Israel stehen inzwischen 42.000 Tote dort gegenüber, Tendenz sogar noch steigend.



    Fast alle der 2 Mio. Menschen dort sind auf der Flucht.



    17 Friedhöfe wurden zerstört.



    Über 160.000 Gebäude sind beschädigt (oder Schutt).



    1,5 m² hat eine Person in den Flüchtlingslagern im Schnitt.



    Häufig null Stunden Strom am Tag.



    Über die Hälfte der Krankenhäuser sind kaputtgebombt.



    Zwei Drittel der landwirtschaftlichen Fläche ist zerstört.



    5 von 6 Schulgebäude wurden angegriffen und beschädigt.



    Israelische Luftangriffe o.ä. töten auch fast 300 Helfer und drängten so Hilfsorganisationen weitgehend heraus, was alles das noch verschlimmert.

  • Na endlich! Ein Artikel, der einen Level tiefer geht!

    "Die Hamas hat ein strenges Indoktrinationssystem geschaffen, um diese Denkweise in der palästinensischen Gesellschaft zu verankern."

    Darum geht es. Um Indoktrination. Wie implementiere ich das ganze ideologische Zeugs in die Köpfe der Menschen?

    Marx war revolutionär indem er die Struktur der Ausbeutung der Armen präzise analysierte und vielen Millionen Arbeitern zu einem besseren Leben verhalf.

    Freud hat ihn ein halbes Jahrhundert später noch getoppt, indem er auf die psychologische Ausbeutung der Menschheit aufmerksam machte, wie landet der ganze Mist der Politik, der Religionen und Ideologien im Unterbewusstsein der Menschen?

    Man beginnt bei den Kindern. Diese werden im täglichen Leben vollgeladen mit all dem woran sie glauben und wofür und wogegen sie kämpfen sollen.

    So vollgestopft, dass den Kindern die Möglichkeit genommen wird selbst die Welt zu hinterfragen. Frei zu sein. So überladen, dass sie ihre eigene authentische innere Stimme nicht mehr wahrnehmen können.

    Kinder werden zu Nazis, Islamisten, Besessene der Kulturrevolution, Gläubigen aller Art etc.

    Freiheit für die Kinder! Von jedem Indoktrinationssystem!

    • @shantivanille:

      Schauen Sie sich maldie Dokumentation "Israelism" von Erin Axelman und Sam Eilertsen an oder auf arte "Israel - Extremisten an der Macht"

  • Aus den Büchern der Bibel lässt sich vermutlich alles argumentieren. Auge um Auge oder wie oben argumentiert: ewiger Frieden. Von daher trägt der Ansatz wohl nicht weit. Der Koran dürfte da kaum groß anders sein. Es ist nicht umsonst eine "Religion des Buches".

    Als spannend empfinde ich die kurz aufgeworfene Frage:



    ...ob die Hamas eine pragmatische Organisation mit rationalen Zielen ist, die nur vorgibt, extremistisch zu sein, oder ob sie eine extremistische religiöse Organisation ist, die manchmal pragmatisch wirkt...



    Wie so oft könnte die Antwort: "Beides" lauten. Vermutlich gibt es beide Flügel.

    Wichtig ist eine konkrete Antwort auf diese Frage um besser zu wissen wie man sich der Hamas nähert. Das gilt zumindest dann, wenn die Hardliner in der Israelischen Regierung platz gemacht haben für gemässigtere Kräfte. Für eine Zeit, in der Frieden denkbar ist.

  • >Es ist eine Lebensbotschaft, eine Botschaft der Hoffnung.<

    Es ist eine Botschaft für religiöse Spinner (auf beiden Seiten). Weil Gott ihnen irgendwas versprochen hat, führen sie Krieg.

    Das Problem ist, dass Gott sein Versprechen nicht halten kann. Es sind schlicht zu viele Menschen für friedliches Zusammenleben auf begrenztem Lebensraum.

  • Und wieder ein aus dem medialen Brei hervorragender Kommentar in der TAZ. Gratulation.