Mörderischer Marathon: Der lange Lauf zum schnellen Tod

Hitze verändert den Sport massiv. Beim Marathon ist die Sorglosigkeit besonders verwunderlich. Wie viel Aufmerksamkeit sind uns die Opfer wert?

Läufer schüttet sich Wasser ins Gesicht

Erfrischung beim Halbmarathon in Hamburg 2023 Foto: Markus Tischler/imago

Es war keine große Nachricht dieser Woche. Zumindest außerhalb Schleswig-Holsteins musste man sich schon für Sport interessieren, um die Meldung zum Kiel-Lauf am Sonntag zu lesen: Bei bis zu 28 Grad mussten rund hundert Menschen wegen Kreislaufproblemen versorgt werden, 20 Menschen landeten im Krankenhaus, ein vorbelasteter 37-Jähriger starb. Der Wettbewerb stand vor dem Abbruch. Ausgerechnet auf die Mittagszeit hatte man einen Halbmarathon gelegt. Offenbar entschieden die Veranstalter gegen einen Abbruch, unter anderem aus Sorge um eine Massenpanik. Kiels Oberbürgermeister Ulf Kämpfer (SPD) kündigte für die Zukunft neue Hitzekonzepte an.

Der Kiel-Lauf war national eine Nullnachricht. Wegen der aufgeheizten Asyldebatte, aber auch, weil ein Diskurs zu Sport und Klimakatastrophe immer noch weitgehend fehlt. Der organisierte Sport tut, als ließe sich der Klimawandel managen wie ein Polizeieinsatz: mehr Hitzepausen, mehr Kunstschnee, und dann passt es.

47.000 hitzebedingte Todesfälle zählte eine Studie für das vergangene Jahr in Europa. Es war die zweithöchste Zahl seit dem Beginn solcher Messungen 2015. Angesichts des jüngsten Herbsteinbruchs fällt es leicht zu vergessen, dass der September wieder ein Rekordmonat war. Die Kehrseite folgte prompt. Wegen der erwarteten katastrophalen Regenfälle und Hochwasser wurde gerade der österreichische Wachau-Marathon abgesagt. Nicht nur, weil die Sport­le­r:in­nen gefährdet wären, sondern auch, weil die Einsatzkräfte anderswo gebraucht werden. Die Klima­krise verändert Sport gerade massiv und umfassend.

Eine dritte Nachricht der Woche aus dem Laufsport kam aus den USA: Tiktoker Caleb Graves starb auf der Ziellinie eines Halbmarathons. Im letzten Video vor seinem Tod hatte er unter dem Titel „Diese Hitze ist kein Witz“ Bedenken vor dem Lauf geäußert. Er sei am Vortag wegen Hitze kollabiert: „Ich bin in Texas aufgewachsen und kenne Hitze, aber die Hitze und UV-Strahlung in Südkalifornien sind nochmal was anderes.“ Wegen der Tagestemperaturen von bis zu 41 Grad hatte der Lauf morgens um 5 Uhr begonnen. Für Graves reichte es nicht.

Marathon als Massenevent

Warum ist uns all das keine Debatte wert? Wer über Todesfälle bei Laufwettbewerben spricht, muss sensibel sein. Tote bei Langläufen nämlich sind auch ohne Hitze Normalität. Ein Vergleich 2019 unter Veranstaltern weltweit ergab, dass jeder 40.000. Teilnehmende beim Marathon stirbt. Oft spielen unerkannte Herzerkrankungen eine Rolle. Und Selbstüberschätzung. Die ehemals randständige Extremdisziplin ist in der Hochleistungsgesellschaft zum Massenevent geworden.

Wie routiniert dieses Sterben hingenommen wird, auch das schon ist verstörend. Dabei gäbe es erfolgreiche Gegenmaßnahmen. In Italien beispielsweise müssen Ma­ra­thon­läu­fe­r:in­nen schon seit 1980 einen Medizincheck nachweisen. Laut dem österreichischen Standard habe das die Todesrate um fast 90 Prozent gesenkt. In einer Disziplin, wo man so selbstverständlich stirbt und sterben lässt, tut man sich vielleicht auch mit dem Sprechen über Klimaopfer schwer.

Zum ersten Mal ganz groß geredet hat die Welt über das Laufen in der Klimakrise bei der Leichtathletik-WM in Katar 2019. Bei einem skurrilen Marathon um Mitternacht kamen von 68 Starterinnen nur 40 ins Ziel. Bilder von entkräfteten Stars im Rollstuhl gingen um die Welt. Doch diskutiert wurde damals kaum klimapolitisch, sondern vor allem geopolitisch: Wie ungeeignet Katar doch als Gastgeber von Sportveranstaltungen sei.

Wenn hingegen Läufe in Deutschland klimatisch zum Gesundheitsrisiko werden wie zuletzt in Kiel oder im April beim Hamburg-Marathon, findet die Öffentlichkeit das weniger bemerkenswert. Eine entgrenzte Gesellschaft und ein Sport, der sich über das Verschieben von Grenzen definiert, können diese neuen naturgemachten Grenzen schwer ertragen. Sie dürfen nicht sein. Und wenn sie nicht ausgesprochen werden, dann sind sie es nicht.

Bis jemand stirbt

Anders sehen das manche Betroffene. Bei den US Open 2018, die bei brutaler Hitze ausgetragen wurden, klagte der Litauer Ričardas Berankis: „Sie werden nichts ändern, bis jemand stirbt.“ Beim Turnier 2023, erneut unter enormer Hitze, wiederholte der Russe Daniil Medvedev: „Ein Spieler wird sterben.“ Der Tod ist die vielleicht letzte verbliebene Grenze. Zaghaft hat es Anpassungen, etwa durch Hitzepausen gegeben. Und auch in Deutschland wird sich Sport verändern müssen: Mit Austragungen jenseits der Mittagszeit und in kühleren Monaten, mehr Einsatzkräften – und mehr Absagen. Wegen Unwetter, Überflutungen, Orkanen, zerstörter Infrastruktur.

Das ist die neue Realität. Ähnlich drängend aber ist eines: Sport neu zu denken. Laut Pionierstudie „Playing against the Clock“ hat der globale Sport einen CO2-Fußabdruck von der Größe Dänemarks; die größten 17 Ligen der Welt sind für fast ein Drittel davon verantwortlich. Ama­teur­läu­fe­r:in­nen haben kaum einen Anteil. Aber sie bezahlen für die Folgen teurer als Sportprofis in ihren abgekoppelten, teils überdachten und klimatisierten Arenen. Zeit, auch im Sport für all das Worte zu finden.

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Jahrgang 1991, studierte Journalismus und Geschichte in Dortmund, Bochum, Sankt Petersburg. Schreibt für die taz seit 2015 vor allem über politische und gesellschaftliche Sportthemen zum Beispiel im Fußball und übers Reisen. 2018 erschien ihr Buch "Wir sind der Verein" über fangeführte Fußballklubs in Europa. Erzählt von Reisebegegnungen auch auf www.nosunsets.de

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