Autofiktionaler Roman von Zora del Buono: Ein verlorenes Kind von 60 Jahren
Die Schweizer Schriftstellerin Zora del Buono spürt in ihrem neuen Roman „Seinetwegen“ dem großen Unbekannten nach: ihrem Vater und dessen Mörder.
„Seinetwegen“ von Zora del Buono ist ein autofiktionaler Roman mit Elementen detektivischer Spurensuchen. Die Personen sind teilweise bekannt aus ihrem 2021 erschienenen Roman „Die Marschallin“, in dem die Architektin, Mitbegründerin der Zeitschrift mare und Schriftstellerin del Buono ihrer gleichnamigen Großmutter ein Denkmal setzt. Die aus Slowenien stammende Großmutter hatte einst „den jüngsten Arzt Italiens“ geheiratet, drei Söhne geboren und ein kommunistenaffines, gleichwohl großbürgerliches Haus im süditalienischen Bari geführt.
Ihr Sohn Manfredi, ebenfalls „jüngster Arzt Italiens“ in den 1950er Jahren, beginnt als enthusiastischer wie hochgeschätzter Radiologe seine Karriere in Zürich, heiratet und wird Vater – Vater der Autorin Zora del Buono. Als diese acht Monate alt ist, erleidet er durch Fremdverschulden einen Autounfall, an dessen Folgen er stirbt.
Die lebenslange Vaterlosigkeit der Tochter bedeutet für diese wesentlich zweierlei. Zum einen: „Ich musste stark sein wie ein Kerl, damit Mama nicht allein ist auf der Welt.“ Zum anderen: Eine seltsam nüchterne Hinnahme beziehungsweise Akzeptanz der Tatsache, ohne Vater aufzuwachsen: „ich habe meinen nicht vermisst.“
Eine fundamentale Einsamkeit
Zora del Buono „Seinetwegen“ C. H. Beck Verlag, München 2024, 204 Seiten, 23 Euro
Die sich in Mitleid ergehende Umwelt kann nicht glauben und verstehen, dass der Vater dem Kind nicht fehle. Erst das wird für dieses zum Problem: „Halbwaise zu sein, war meine Realität und damit war ich allein. „Das schweizerdeutsche „muusbeiallei“ bedeutet analog zum hochdeutschen „mutterseelenallein“ das Erleben äußerster Einsamkeit. Im direkten Wortsinn öffnet sich dieser Erfahrungsraum bei dem Verlust der Mutter.
Die fortschreitende Demenzerkrankung von del Buonos Mutter ist ein Verlust auf Raten, ein Verlust, der die Tochter weder in Schockstarre noch Selbstmitleid führt, sondern in ein Handeln, das sie sich bis dahin nicht erlaubt hat: Sie beginnt nachzuforschen, wer ihr Vater war, was über den Autounfall bekannt ist und, vor allem, wer der Unfallverursacher war.
Dieser Mann, Ernst Traxler, rückt mehr und mehr in den Mittelpunkt der Spurensuche: „[…] weil ich genau wegen ihrer Demenzerkrankung eine fundamentale Einsamkeit spüre, die Verlorenheit eines Kindes von sechzig Jahren, das allein zurückgelassen wird, unwiderruflich, und ich mich nach einem Vater sehne und ihm so näherzukommen glaube? Nur um zu merken: Der Einzige, dem ich nähergekommen bin, ist Ernst Traxler. Pervers irgendwie.“
Das Besondere an der detektivischen Reise zu dem, der ihr Leben auf tragische Weise tiefgreifend verändert hat, ist, dass je mehr Zora del Buono über diesen Traxler in Erfahrung bringt, umso mehr relativieren sich die Ressentiments und die Wut gegen ihn. Er wird als gebrochene Person erkennbar. Die Frage, wie er Jahrzehnte mit seiner Schuld gelebt hat, entfaltet die Autorin differenziert und mit geradezu solidarischem Interesse.
Im soziokulturellen Kontext
Zora del Buono wäre nicht Zora del Buono, beließe es der Roman dabei, allein die individuelle Geschichte einer vaterlosen Tochter zu erzählen. Immer wieder werden historische und soziokulturelle Einordnungen vorgenommen, die den wohltuend unsentimentalen Stil flankieren und die Lektüre durch wissenswerte Informationen bereichern, ob über Autokopfstützen, alleinerziehende Mütter, die Isonzoschlachten 1917, Altersheime, Baumgeschichten, Homosexualität: „Da denkt man in seiner urbanen Überheblichkeit gern, alles Wichtige entstünde in den großen Städten […] Und dann: Zwei der wichtigsten schwulenemanzipatorischen Denker ever stammen aus der Schweizer Provinz – und zwar ausgerechnet aus Glarus und St. Gallen.“ Gemeint sind Heinrich Hössli und Jacob Rudolf Foster.
Großartig verwebt Zora del Buono die verschiedenen Stränge miteinander. Leser:innen erfahren, welche „Deformationen“ Vaterlosigkeit setzen kann – „Eine seltsame Gefühlskälte gegenüber klagenden, trauernden Verlassenen, Alleingelassenen. […] Die Unmöglichkeit von Nähe, das Wissen, dass sie in Sekunden zerschlagen werden könnte (Unfall, Tod, Verlassenwerden etc.) – besser nicht drauf einlassen.“ – aber sie erfahren eben noch viel mehr.
Und alles: seinetwegen.
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