Nach den Krawallen von Southport: Nichts mehr wie vorher
Das Massaker und die rechten Krawalle in Großbritannien sind einen Monat her. Das Entsetzen ist noch groß, die Solidarität aber auch.
A n der Eingangstür seines Krämerladens „Windsor Mini Mart“ hat Chanaka Balusurja ein riesiges Plakat angebracht. „Danke zu sagen, ist nicht genug!“ beginnt die Würdigung der Menschen von Southport. Es folgt eine Erklärung, wie sich der 41-Jährige und seine Frau am 30. Juli in Sicherheit bringen mussten, als ein rechter Mob seinen Laden verwüstete. Doch die Welle der Solidarität, die über sie kam, hatten sie nicht erwartet, und hat sie regelrecht überwältigt.
Am 29. Juli hatte ein Attentäter in Southport bei einer Taylor-Swift-Tanzveranstaltung drei Schulmädchen mit einem Messer ermordet. Nachdem Gerüchte in den sozialen Medien aufgekommen waren, dass der Täter ein muslimischer Asylsuchender sei, versammelten sich in Southport Dutzende wütende, rechtsextreme Personen und lebten auf den Straßen und vor der Moschee ihren rassistischen und islamfeindlichen Zorn aus. Später stellte sich heraus, das der Täter Brite ist, Sohn christlicher ruandischer Eltern, im walisischen Cardiff geboren und aufgewachsen.
Als sich die rasch herbeigerufene Polizei schützend um die Moschee stellte, wurde sie selbst zur Zielscheibe. Der Mob rief islamfeindliche Parolen sowie den rechten Spruch „Wir wollen unser Land zurück“. Dann flogen Betonblöcke, Ziegelsteine, Bierflaschen und Mülltonnen. 53 Polizist:innen wurden verletzt. Auf anderen Straßen Englands und Belfasts in Nordirland wiederholten sich sechs Tage lang ähnliche Krawalle.
Pech für Chanaka Balusurja, dass sein Laden gerade mal zwei Minuten Fußweg von der Moschee entfernt liegt. Dass Balusurja Buddhist aus Sri Lanka ist und seine Frau Katholikin, spielte dabei keine Rolle. „Sie räumten den Laden aus und stahlen vor allem Alkohol und Zigaretten“, erzählt er. Die Getränke waren fürs Trinkgelage, die leeren Flaschen weitere Wurfgeschosse.
Als alles vorbei war, stand Balusurja vor dem Ruin. Doch Bewohner:innen von Southport starteten sofort eine Crowdfunding-Aktion, viele sahen persönlich vorbei. Es kamen mehrere Tausend Pfund zusammen und der Laden wurde wieder hergerichtet. „Es war ein moralischer Wiederaufbau, der das Trauma langsam heilen lässt“, sagt Balusurja. Als König Charles vergangene Woche Southport besuchte, gehörten Balusurja und seine Frau zu den Geladenen. Neben den traumatisierten Überlebenden der Messerattacke sowie ihren Familienangehörigen waren auch betroffene Polizeibeamte:innen mit dabei, Mitglieder der Rettungsdienste, der Imam der Stadt und freiwillige Helfer, die nach den Ausschreitungen die Straßen aufräumten und Zerstörtes reparierten.
Während Balusurja redet, blickt auf einem Regal über seinem Kopf eine kleine Buddha-Statue gemeinsam mit Jesus-Figuren hinter einer LED-Sonne in den Laden. „Der kleine Schrein blieb während des Angriffs unversehrt“, sagt Balusurja. Obwohl er ruhig spricht, ist ihm das Trauma der letzten Wochen anzumerken.
Das Massaker von Southport ist einen Monat her, doch längst nicht verarbeitet. In der Hart Street, wo am 29. Juli alles begann, ist der Eingang zum Tanzstudio immer noch abgesperrt und polizeilich bewacht. Die Straße ist ein Durcheinander aus Wohnhäusern und kleinen Unternehmen und Geschäften. Einige der Ladenbesitzer:innen wollen nicht mehr über die Ereignisse sprechen, zu oft wurden sie schon gefragt. Als sich das Tor zum Hof mit dem Tanzstudio öffnet, fährt ein Einsatzwagen der Kriminaltechnik heraus. Im Hof sind blaue Zelte zu erkennen.
Auf der anderen Straßenseite haben Menschen Blumen abgelegt, Karten, Luftballons. Weitere liegen ein paar Häuser weiter auf einem Parkplatz sowie vor dem Rathaus in der Stadtmitte. In der ganzen Stadt sind rosa Schleifchen zu sehen, Symbole des Mitgefühls. An Straßenmasten haben Seelsorger ihre Adressen ausgehängt. Eine Frau, die gerade die Blumen betrachtet, sagt, sie sei heute das erste Mal hier. „Davor habe ich es mental einfach nicht fertiggebracht.“
Ibrahim Hussein, Imam von Southport
An eine Mauer gelehnt steht eine Tafel mit einer Botschaft: „Wir sind alle schockiert mit gebrochenem Herzen. Unsere Gedanken und Gebete sind an die Kinder und ihre Familien gerichtet, die von den schrecklichen Ereignissen vom Montag getroffen wurden“, schreibt Sheikh Ibrahim Hussein, der Imam der Moschee von Southport. Seine Hoffnung: „Der Hass, Vorurteile und Böses dürfen nicht über Güte, Mitgefühl und Menschlichkeit siegen. Als Teil der Gemeinschaft fühlen und teilen wir den Schmerz. Mögen die Kinder ihren rechtmäßigen Platz im Himmel erhalten.“
Unmittelbar nach der Messerattacke aufgestellt, hat diese Botschaft die Moschee nicht vor Angriffen der rechtsextremen Meute bewahrt. Vor der Moschee steht Wachpersonal, das es vor dem 29. Juli noch nicht gab. Ein Überwachungssystem mit Kameras wurde gerade eingebaut, alle Fenster des einstöckigen Backsteinbaus haben nun Metallgitter. Selbst die Umfassungsmauer wurde vom Mob zerstört, doch danach von Freiwilligen wiederhergestellt. Auf einem Tisch im Treppenhaus liegen neben Kärtchen der „Southport Freunde von Palästina“ Briefe der Anteilnahme und des Mitgefühls. „Wir alle haben mehr gemeinsam“, schreibt etwa „Paula mit Familie“.
„Das sind nur einige der vielen Karten und Briefe, die wir erhielten“, sagt Imam Hussein. Sie seien aus der ganzen Welt gekommen, auch in Jerusalem habe man für seine Gemeinde gebetet, christliche und jüdische Glaubensvertreter hätten ihn besucht. Der alte Imam mit langem Kinnbart sitzt in einem goldbraunen Kaftan mit Stickereien und weißem Hemd in der Mitte des Gebetsraumes im ersten Stock auf einem von zwei Stühlen. Obwohl er gerade ein einstündiges Interview mit dem Nachrichtensender Al Jazeera hinter sich hat, will er mit der taz sprechen.
Hussein beginnt mit dem Besuch von König Charles. Der habe sich nach dem Wohl seiner Gemeinde erkundigt. Gutes sei aus dem Bösen gewachsen, sagt der Imam dann und erzählt vom 30. Juli: Wie die ganze Moschee bebte, als die Meute zuschlug. Wie er und acht andere, die sich in der Moschee verbarrikadiert hatten, sich nicht trauten, sich einem Fenster zu nähern, um nicht mit ihren Schatten die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Wir hatten große Angst und fürchteten die ganze Zeit, dass das Gebäude in Flammen aufgehen könnte.“
„Es geht immer auf die Minderheiten“
Noch seien die Dinge nicht wie vorher. Viele Gläubige würden sich nicht wieder in die Moschee trauen. „Es geht immer auf die Minderheiten“, glaubt der Imam. „Sie suchen Orte, auf die sie die Schuld etwa für die sozialen Rückstände mit ihren Vorurteilen schieben können.“
Imam Hussein wünscht sich stärkere Gesetzte gegen die Verbreitung von Hass in den sozialen Medien. Außerdem sei es wichtig zu verstehen, dass ein Einzeltäter, egal welchen Hintergrund er habe, zu keinem Urteil über eine ganze Gemeinschaft führen könne. Dass das Justizsystem schnell gegen die Randalierer vorgegangen sei, lobt er. Politiker sollten vorsichtiger in ihrer Wortwahl sein und nennt dabei insbesondere die rechtspopulistische Partei Reform UK von Nigel Farage.
Auch in der Fußgängerzone von Southport hängen überall rosa Schleifchen, erzählt der 17-jährige Harry Melvis, der gerade mit seiner Arbeit in einem Schreibwarenladen fertig ist. Er erzählt, dass vor der Moschee nicht nur Rechtsextremisten randaliert haben, sondern auch Jugendliche in seinem Alter, die er persönlich kenne. Sie hätten aus Begeisterung mitgemacht, dass in Southport endlich mal was los sei, erläutert er. „Southport ist eine Stadt, die übersehen wird, mit einer Innenstadt, wo Läden nur noch dichtmachen und einem hohen Bevölkerungsanteil im Rentenalter, nicht zuletzt wegen der vielen Altersheime hier.“ Für junge Menschen sei die Stadt langweilig. Er selber fahre öfters ins zwei Stunden entfernte Manchester. Er war während der Krawalle gerade in Griechenland im Urlaub.
„Ich bin schon der Meinung, dass die Einwanderungszahlen zu hoch sind und den sozialen Zusammenhalt und die Assimilierung stören“, sagt Harry Melvis dann. Er ist damit nicht allein. In einer YouGov-Umfrage, die nach den Krawallen am 7. und 8. August durchgeführt wurde, stimmten 93 Prozent aller Befragten der Aussage zu, dass die Regierung mehr gegen das hohe Niveau der Einwanderung tun sollte. Doch gerade in Southport sollte das kein Problem sein: Bei der letzten Volkszählung des Jahres 2021 definierten sich in der Regionalbehörde, zu der Southport gehört, 95,8 Prozent der Bewohner:innen als weiß. Die muslimische Bevölkerung in Southport kam nicht mal auf ein Prozent.
Die Randalierer von Southport werden schnell zur Rechenschaft gezogen. Über 22 Personen sind bereits verurteilt worden. Die Verhandlungen werden im Schnellverfahren in einem Betongebäude im dreißig Kilometer entfernten Liverpool geführt. Nur wenige Menschen sind im Gerichtssaal anwesend. Der Staatsanwalt verliest eine Anklage nach der anderen, je nach Mandant wechseln die Pflichtverteidiger. Die Anwälte und Richter tragen alle die traditionellen weißen Perücken aus Pferdehaaren. Eine Journalistin vom Liverpool Echo beobachtet jeden Tag die Prozesse.
Hinter einer Glaswand erscheint ein Angeklagter, der 41-Jahre alte Andrew Jackson mit schmalem Gesicht und Stoppelhaaren. Er stammt aus einer Backsteinsiedlung in St. Helens, einem ehemaligen Bergbauort, dreißig Kilometer südlich von Southport. Der Staatsanwalt zählt auf: Beteiligung an einem gewaltsamen Aufstand, Einschüchterung der Bevölkerung, rassistische und islamophobe Beschimpfungen, Verletzung von über 50 Polizeibeamte:innen, Schäden an Gebäuden und Besitz in Höhe von mehr als 100.000 Pfund. Wenn auch Jackson nicht der Anführer gewesen sei, war er doch Teil all dessen gewesen.
Der Staatsanwalt präsentiert Videos, auf denen Jackson in kurzer Hose und grauem Hoodie aus einer Gruppe von etwa zwölf Leuten insgesamt sechs Flaschen auf die Polizisten wirft, dann filmt er selbst Szenen und wirft nochmal acht Flaschen, die er aus einer roten Tonne geholt hat. Die letzten beiden Flaschen zielt er genauer. Weiter erfährt die Öffentlichkeit, dass Jackson seit 1999 bereits 26 Verurteilungen für 46 Vergehen erhalten hat, die meisten davon Drogendelikte, nur einmal vor 18 Jahren mit Bezug auf eine Waffe. Der Verteidigung bleibt nur darauf hinzuweisen, dass Jackson geständig sei, sich schuldig bekannt habe und dass er mutmaßlich niemanden direkt verletzt habe.
Nach kurzer Beratung ergreift Richter Neil Flewitt das Wort. Jackson sei Teil eines gewalttätigen rassistisch motivierten und religionsfeindlichen Mobs gewesen und habe Flaschen und andere Gegenstände geworfen. Das Urteil: Zwei Jahre und acht Monate Haft. Mindestens die Hälfte davon wird Jackson absitzen müssen.
Ähnlich läuft es beim 31-Jahre alten Joshua Jones aus Saltney in Chester an der walisischen Grenze. Der kräftige Mann im olivgrünen T-Shirt hat Tätowierungen am Schädel und an den Armen. Zwei Frauen in seinem Alter sind zur Beobachtung mit in den Saal gekommen, sie scheinen Jones zu kennen. Er zwinkert ihnen zu. Auch hier zeigt der Staatsanwalt ein Video, auf der man den Angeklagten vermummt als Teil der wütenden Menge sieht. Dass er Gegenstände wirft, ist nicht so eindeutig zu erkennen. Der Verteidiger verweist auf angebliche Lernstörungen seines Mandanten. Auch habe er sich nach seiner Festnahme geschämt. Er sei eigentlich nach Southport gekommen, um der Trauerandacht beizuwohnen, habe sich jedoch dann dem Mob angeschlossen. Jones ist 26 Mal vorbestraft, darunter für Hooliganismus im Fußball und Angriffe auf Rettungsdienste und Polizei. Bei seiner Festnahme fand die Polizei ein nicht gemeldetes Samuraischwert in seinem Haus.
Der Richter zweifelt daran, dass es Jones wirklich leid getan habe, weil er Gleiches schon bei vorherigen Vergehen behauptete. Statt nach Spanien zu gehen, um dort als Fitnesslehrer zu arbeiten, wie er beim letzten Mal angekündigt hatte, wurde er Teil des Mobs in Southport. Jones bekommt drei Jahre und zwei Monate Haft. Bei der Urteilsverkündung schluchzt eine der beiden Frauen laut auf, während Jones mit gesenkten Kopf abgeführt wird.
Viele der über 1.000 Anklagten landesweit haben ähnliche Vorgeschichten wie Jones und Jackson. Sie sind britisch-weiße Männer aus ehemaligen Industrieorten mit geringer Ausbildung und langem Vorstrafenregister. Ihre ungewöhnlich rasche Abfertigung vor Gericht ist Teil der Strategie der Labour-Regierung, hart gegen die Krawalle vorzugehen. Das stellt ein unerwartetes Problem für die überfüllten Strafanstalten des Landes dar, die kaum Platz haben. Ab September können deswegen nicht gewalttätige Straftäter:innen schon nach 40 Prozent ihrer Haft auf Bewährung freikommen, und andererseits können neu zu Freiheitsstrafen verurteilte Straftäterinnen mit Sondergenehmigung in Polizeizellen eingebuchtet werden, bis ein Gefängnisplatz frei wird.
Am vergangenen Freitag wurde in Southport das letzte der drei ermordeten Mädchen beerdigt. Überall in Southport hört man von Spendenaufrufen. Im Stadttheater liefen tagelang Liederabende, in der Stadtmitte vereinten sich Geschäfte und Organisationen zu einem Familientag. Am 31. August sollen Spenden bei einem Fußballspiel zwischen dem Amateurvereinen Southport FC und Buxton FC gesammelt werden. Auf der Facebook Seite „Stand Up For Southport“ zeigen Künstler:innen neue Werke. Die Erinnerung gilt den ermordeten Kindern: die 6-jährige Bebe King, die 7-jährige Elsie Dot Stancombe, die 9-jährige Dasilva Aguilar.
Das Leben in Southport ist nicht wie vorher, wenn es überhaupt einmal wieder so sein wird. „Wir müssen uns umeinander kümmern“, erklärt die 17-jährige Isabelle Webster beim Einkaufen in der Stadt. Southport sei nicht immun vor Hass, der von außen kommt, das sei jetzt klar. Aber dass so viele Menschen sich nach den Unruhen halfen – das mache einen Unterschied. Wie es Chanaka Balusurja auf dem Schild vor seinem Laden ausdrückt: „Ihr habt uns im düstersten Moment solche unermessliche Güte und Großzügigkeit bewiesen, und wir können es einfach nicht in Worte fassen, was uns das bedeutet.“
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