Straßenradrennen in Spanien: Hegel vs. Marx
Beim Straßenradrennen Vuelta wird es philosophisch. In der zweiten Woche geht es darum, ob ein Außenseiter dank Vorsprung aus der Fluchtgruppe gewinnt.
Ihre eigene Wiederholung erlebt die Vuelta dergestalt, dass wieder ein Mann ganz vorn ist, den niemand dort erwartet hatte. Ben O’Connor nutzte seinen Ausreißversuch auf der 6. Etappe so gut, dass er mehr als sechs Minuten auf die Klassement-Favoriten herausfuhr und seitdem recht einsam an der Spitze ist. Im letzten Jahr fuhr Ausreißer Sepp Kuss auf ebenfalls der 6. Etappe knapp dreieinhalb Minuten auf die Konkurrenz heraus. Er behauptete das Rote Trikot bis zum Ende der Rundfahrt.
Die Hegelfans sitzen momentan im Teambus von Decathlon. Sie hoffen, dass der Berliner Philosoph die Weltprozesse richtig interpretiert hat und ihr Mann, eben O’Connor, am Ende die Vuelta gewinnt. „Es ist noch ein wenig früh, jetzt schon vom Sieg zu reden. Es kommen noch viele harte Tage“, gab sich Cyril Dessel, sportlicher Leiter von Decathlon, gegenüber der taz zwar noch vorsichtig. Er sagte aber auch: „Wir sind mit dem Ziel der Top 5 zur Rundfahrt gekommen. Jetzt können wir unsere Ambitionen etwas höher ausrichten.“
O’Connor selbst ist ebenfalls guter Dinge. „Ich genieße hier erst einmal jeden Tag im Roten Trikot. Wir haben auch ein starkes Team. Und ich selbst habe noch nicht alle Reserven aufgebraucht“, meinte er.
Verpasst Roglič erneut den Sieg?
Im Lager von Red Bull-Bora- hansgrohe ist eher Neomarxismus angesagt. Dort hofft man, dass sich Geschichte nicht wiederholt, oder bestenfalls als Farce. Denn schon im letzten Jahr war die 6. Etappe ausschlaggebend dafür, dass Kapitän Primož Roglič seinen angestrebten vierten Vuelta-Triumph verpasste. Damals fuhr er noch im gleichen Team wie Kuss, bei Jumbo-Visma, jetzt Visma-Lease a Bike.
Und Marc Reef, damals wie heute bei den Niederländern im Begleitfahrzeug, meinte in Bezug auf die Konstellation zur taz: „Es ist ähnlich wie letztes Jahr. Auch jetzt wird es schwer, so viel Zeit auf O’Connor herauszufahren. Er kam zwar nicht als Favorit zur Vuelta. Aber dass er Stehvermögen hat, deutete er schon mit Platz 4 bei der Tour 2021 an.“ Damals wurde O’Connor ebenfalls durch eine Fluchtgruppe im Klassement nach vorn gespült.
Auch beim Raublinger Rennstall ist man sich der Härte der Aufgabe bewusst. „Es wird sehr kompliziert, denn O’Connor ist ein guter Fahrer. Aber wir haben einen Plan, den wir ausführen werden und der hoffentlich Wirkung zeigt. Wir müssen nur bei unserem Plan bleiben, dann ist das möglich“, meinte Patxi Vila, sportlicher Leiter bei Red Bull, zur taz.
Allerdings hat sein Team in diesem Jahr einige Probleme mit der Planwirtschaft, was ein bisschen an die Erfahrungen der Marx-Anhänger in Osteuropa und Ostdeutschland erinnert. Auf der 6. Etappe ließ das Team die Fluchtgruppe zwar planmäßig gehen. Kapitän Primož Roglič wollte das Rote Trikot verlieren, um selbst nicht zu viel Energie bei Pressekonferenzen zu vergeuden und auch, um seinem Team die Nachführarbeit zu ersparen.
Red Bull denkt marxistisch
Einen „ungefährlichen Mann“ für die Gesamtwertung hatte der Slowene als Nachfolger im Sinn. O’Connor ließ man fahren, weil der zwei Tage zuvor in der brütenden Hitze Südspaniens Federn gelassen hatte. Und außerdem war ein eigener Mann, der formidable Jungprofi Florian Lipowitz, in der Gruppe.
„Florian sollte dort die Interessen des Teams verteidigen. Aber das war sehr schwer. Und an einem bestimmten Punkt musste er leider O’Connor ziehen lassen. Wäre er dran geblieben, hätte er jetzt vielleicht sogar Rot. Aber nun müssen wir das Trikot zurückerobern“, schilderte Vila die Konstellation. Lipowitz rückte zwar ein wenig in der Gesamtwertung nach vorn. Aber die fünf Minuten, die O’Connor selbst auf ihn, den Fluchtgruppengefährten, herausfuhr, tun weh.
Das Team des Brausekonzerns tut nun alles dafür, dass Marx doch recht hat in Spanien und Geschichte sich nicht exakt wiederholt.
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