Kinderwunschbehandlung: Drei Versuche
Als unsere Autorin und ihr Partner eine Familie gründen wollen, ist sie 35. Doch von alleine klappt es nicht. Über den langen Weg zum Wunschkind.
A n einem Freitagmittag im Sommer 2022 liege ich mit gespreizten Beinen auf einem Gynäkologiestuhl in einem OP-Saal. Michel, mein Mann, streichelt meinen Kopf. Der Arzt führt mir ein Spekulum ein, dann einen Katheter. Von nebenan bringt eine Labormitarbeiterin ein kleines Gefäß mit einer Flüssigkeit darin – unser Embryo.
Mir kommen die Tränen. Ich bin total ergriffen und fühle sofort eine innige Liebe zu dem kleinen Wesen. Unser Kind!? Nach etwa einer Minute ist es in mir. Sofort bekomme ich ein Ultraschallbild ausgehändigt, auf dem ein winziger Punkt zu sehen ist. Ein Punkt, von dem wir noch nicht wissen, ob er bleiben wird. Irgendwie komisch, denke ich, schürt das nicht zu viele Hoffnungen?
Dennoch ist dieser Punkt jetzt schon mein ganzer Stolz, immer wieder schaue ich mir das Bild an. Beseelt schwebe ich nach Hause, kann gar nicht aufhören, meinen Bauch zu streicheln. Michel ermahnt mich sanft: „Steigere dich bitte nicht zu sehr hinein.“ Aber wie soll das gehen?
Es ist eine Frage, die ich mir zu diesem Zeitpunkt seit beinahe einem Jahr fast täglich stelle und die mich noch zwei weitere Jahre beschäftigen wird. Hinter uns liegen Monate des Blindflugs. Sex auf gut Glück, ein bisschen Zyklus-Tracking – irgendwann wird das schon, dachten wir, das mit dem Schwangerwerden, das mit dem Kinderkriegen. Bis zur Erkenntnis, dass wir wohl ein wenig Hilfe brauchen. Damals starten wir relativ unbedarft in eine Zeit, von der wir nicht ahnten, wie viel sie uns abverlangen wird, an psychischer und finanzieller Belastung, an emotionalem Stress, für Michel, für mich und für uns als Paar.
Wir durchlaufen eine Kinderwunschbehandlung, in einer der mindestens 142 Kinderwunschpraxen in Deutschland. Ihre Zahl wächst und wächst, denn wie wir wird jedes sechste Paar in Deutschland nicht auf natürlichem Weg schwanger und braucht die Hilfe von Reproduktionsmediziner:innen. Tendenz auch hier: steigend.
Wie funktioniert eine künstliche Befruchtung? Was macht das mit einem, mental, körperlich und finanziell? Wie stehen überhaupt die Chancen, dass es klappt? Mit diesen Fragen habe ich mich nicht wirklich beschäftigt, bis ich es musste.
Michel und ich kennen uns, seit wir 19 sind. Dass es Liebe ist, haben wir aber erst mit 35 gemerkt, in einer heißen Sommernacht 2020, in einem aufblasbaren Kanu. Sofort war klar, dass wir zusammen all in gehen und eine Familie gründen wollen. Das war für uns beide neu. Lange wusste ich nicht mal, ob ich überhaupt Kinder will, reiste lieber um die Welt, ging auf Partys, verwirklichte mich als Autorin. Ich dachte, ich hätte noch ewig Zeit. Michel, der als Mechatroniker arbeitet und viel unterwegs ist, ging es lange ähnlich.
Etwa ein Jahr nach der Nacht im Kanu ziehen wir zusammen in eine Zweizimmerwohnung in Hamburg-Ottensen und lassen es einfach mal „darauf ankommen“. Ich messe jeden Morgen meine Temperatur, mache hin und wieder Ovulationstests, um die fruchtbaren Tage zu bestimmen. Doch nach zehn Monaten und einigen negativen Schwangerschaftstests werde ich ungeduldig und mache im Herbst 2021 einen Termin bei meinem Gynäkologen.
Ich jammere ein wenig, von wegen „Ich werde doch schon 36“ und so. Mein Arzt sagt nur „Probieren Sie es ruhig noch mal drei Monate“, schiebt mir aber schon mal die Visitenkarte einer Kinderwunschklinik über den Tisch. „Danach können Sie sich Hilfe holen.“ Ich bin etwas entsetzt darüber, dass ihm nichts anderes dazu einfällt, denke, okay, krass, jetzt sind wir also eins von diesen Paaren. Die, bei denen irgendwas nicht stimmt. Die sich so einer superkomplizierten, strapaziösen, arschteuren Behandlung unterziehen müssen. Die am Ende ihr letztes Hemd für Behandlungen im Ausland geben, die bei uns illegal sind. Die, von denen so viele verzweifeln, wenn es doch nie klappt.
Und doch bin ich auch ein wenig erleichtert. Wir haben nun etwas in Aussicht, Profis, die uns helfen können. Nur will ich nicht weiter warten, bloß nicht noch mehr Zeit vergeuden – ich will wissen, wo der Fehler liegt. Michel ist von meiner Eile irritiert. „Lass es uns doch einfach noch ein paar Jahre so probieren“, sagt er. „Wir sind doch noch voll in der Verliebtheitsphase.“
Aber was soll das bringen? Je älter wir werden, desto schwerer wird es, schwanger zu werden. Während Frauen mit 25 noch eine Chance von durchschnittlich 25 Prozent pro Zyklus haben, schwanger zu werden, sind es mit Ende dreißig nur noch 10 bis 12 Prozent.
Es dauert, bis ich einen Termin in der Kinderwunschklinik bekomme. Das Telefon ist ständig besetzt. Nach fünf Wochen stehe ich morgens vor dem Kleiderschrank und überlege, was ich anziehen soll. Irgendwas, das nach Geld aussieht und mütterlich-seriös wirkt. Nicht, dass die Ärzt:innen denken: „Die können sich das eh nicht leisten“, oder uns als Eltern für ungeeignet halten und deshalb nur halbherzig beraten.
Ich finde meine eigenen Gedanken absurd und betrete dennoch im schwarzen Blazer das Wartezimmer, das aussieht wie die Lobby eines Fünf-Sterne-Boutiquehotels. Mein extra-fröhliches „Moin“ wird von den anderen kaum erwidert, die Stimmung wirkt angespannt. Eine Frau, die aussieht, als müsste sie gleich ins Büro, starrt ins Leere. Ein Paar, Mitte dreißig, hält stumm Händchen. Ich bin allein, Michel muss arbeiten. Ansonsten wissen nicht mal meine Eltern oder meine beste Freundin, dass ich heute hier bin. Ich will nicht, dass ständig alle nachbohren: „Und? Hat’s geklappt?“
Das Erstgespräch mit dem Leiter der Klinik dauert zehn Minuten. Nachdem ich ihm erzählt habe, wie lange wir es schon probieren, reißt er routiniert an, welche Behandlungen es gibt und was sie in etwa kosten würden.
Im Jahr 1982 ist in Deutschland das erste Baby zur Welt gekommen, das durch künstliche Befruchtung gezeugt wurde. Die öffentlichen Krankenkassen bezuschussen Kinderwunschbehandlungen seit 1990. Bis zur Gesundheitsreform 2004 wurden verheirateten Paaren vier Versuche sogenannter In-vitro-Fertilisation (IVF) – also einer künstlichen Befruchtung im Laborglas – komplett bezahlt. Danach wurde die Kostenübernahme von der rot-grünen Regierung gekürzt.
Seither bezahlen die gesetzlichen Krankenkassen nur noch drei Versuche zur Hälfte – und weiterhin nur dann, wenn das Paar heterosexuell und verheiratet ist, die Frau zwischen 25 und 40 Jahre und der Mann zwischen 25 und 50 Jahre alt ist. Die Kosten für eine IVF belaufen sich in Deutschland durchschnittlich auf 2.400 bis 3.800 Euro pro Zyklus, zuzüglich 500 bis 1.500 Euro Kosten für Medikamente. Bei drei Versuchen können es also knapp 16.000 Euro sein.
Aber an dem Punkt sind wir noch nicht. Um zu entscheiden, welche Behandlung für uns geeignet sein könnte, müssen wir erst mal herausfinden, was das Problem ist. Also soll ich die Durchlässigkeit meiner Eileiter überprüfen lassen. Von Michel braucht der Arzt ein Spermiogramm.
Die Tests ergeben wenige Wochen später: Ein Eileiter ist verstopft, die Spermienqualität ist so lala. Ein kleiner Schock. Aber „gut“, dass es an uns beiden liegt. So werden wir uns nicht gegenseitig Vorwürfe machen können, falls uns der unerfüllte Kinderwunsch in den Wahnsinn und finanziellen Ruin treiben sollte. Wir nehmen es sportlich – noch. „Andere haben es mit der Bandscheibe, bei uns ist es eben das“, sagt Michel, und dafür liebe ich ihn in diesem Moment.
So entspannt sehen das nicht alle. Wir kennen ein Paar, das die künstliche Zeugung ihres Kindes weitestgehend für sich behielt, weil es sich vor Stigmatisierung fürchtete, etwa vor Fragen wie: „Sind Laborbabys anders?“ Und obwohl immer mehr Menschen davon betroffen sind, empfinden nicht wenige Scham und Selbstzweifel, wenn sie nicht fähig sind, ein Kind zu zeugen.
„Ich würde Ihnen eine ICSI empfehlen“, sagt der Kinderwunscharzt bei unserem zweiten Termin. Ich bin etwas entsetzt. Muss es denn gleich der Porsche unter den künstlichen Befruchtungen sein? Eine ICSI findet auch in der Petrischale statt, aber mit der Besonderheit, dass ein speziell aufbereitetes Spermium an einer bestimmten Stelle mit einer feinen Glaspipette in die Eizelle eingesetzt wird.
Dieses Vorgehen wird angewendet, wenn die Spermienqualität zu schlecht ist, die Samenzellen etwa zu träge sind oder auffällig aussehen. Weil sie dann ihren Weg in die Eizelle nicht selbst finden, wird ihnen mit der „intrazytoplasmatischen Spermieninjektion“, kurz ICSI, nachgeholfen.
Vorher muss die Frau etwa zwei Wochen Hormone zu sich nehmen, um die körpereigene Hormonproduktion zu unterbinden und einen natürlichen Eisprung zu verhindern. Danach wird die Eizellenreifung künstlich stimuliert, wieder mit Hormonen, hoch dosiert, oft gespritzt, etwa elf Tage lang täglich, damit mindestens eine, bestenfalls aber möglichst viele Eizellen heranreifen. Wenn diese so weit sind, wird der Eisprung mit einer Hormon-Injektion ausgelöst.
Etwa 36 Stunden später werden die Eizellen entnommen, manchmal auch unter Vollnarkose. Dann folgt die Befruchtung im Laborglas, und die befruchteten Eizellen wachsen zwei bis sechs Tage in einer Nährlösung. Im Idealfall hat sich bis dahin mindestens ein guter Embryo entwickelt, der anschließend mit einem Katheter in die Gebärmutter eingesetzt wird. Ein Versuch dieser Methode kostet um die 5.000 Euro.
Dabei gibt es deutlich softere Methoden. VZO zum Beispiel, das steht für „Verkehr zum Optimum“. Dabei wird der Zyklus bei Bedarf hormonell reguliert, sodass der Zeitpunkt des Eisprungs besser bestimmt werden kann und man dann Sex on time hat. Bei der Insemination hingegen wird Sperma abgegeben, aufbereitet und mithilfe eines dünnen Schlauchs am Tag des Eisprungs in die Gebärmutter eingespült. Der Eingriff – eine Sache von fünf Minuten.
Aber unser Arzt schüttelt den Kopf. Unsere Ausgangslage sei zu schlecht. Es muss wohl wirklich eine ICSI sein.
Eine Garantie, dass es klappt, gibt es nicht. Dafür gibt es Risiken, die uns der Arzt nun aufzählt: In seltenen Fällen kommt es zu einer Überstimulation der Eierstöcke. Das führt zu Übelkeit, Flüssigkeit im Bauch und Schmerzen. Auch Atemnot und Störungen der Blutgerinnung sind möglich. Das kann lebensgefährlich sein. Manchmal muss der Embryo-Transfer dann abgesagt werden.
Außerdem ist das Risiko für niedriges Geburtsgewicht, eine Frühgeburt oder Schwangerschaftsvergiftung etwas erhöht. Werden gleich zwei oder gar drei Embryonen eingesetzt, um die Erfolgschancen zu erhöhen, besteht schließlich auch die Gefahr, dass sich nicht nur, wie erwünscht, ein Embryo, sondern zwei oder alle drei einnisten und Zwillinge oder Drillinge geboren werden. Das wiederum birgt weitere medizinische Risiken, wobei mit der immer weiter verbesserten Technik immer seltener mehr als ein Embryo eingesetzt wird.
Ich höre dem Arzt nicht richtig zu. Ich höre nur, was ich hören will: „Sechs von zehn Frauen sind nach dem dritten Versuch schwanger. Nach mehr als vier Embryo-Transfers sind es schon 70 Prozent.“ Die Rede ist hier von der sogenannten aufaddierten Schwangerschaftsrate, also der Wahrscheinlichkeit, schwanger zu werden, wenn man mehrere Behandlungen durchläuft. Das klingt super im „Verkaufsgespräch“.
Fakt ist aber: Pro Versuch bleibt es bei einer Chance von etwa 30 Prozent, je nach Alter und Ausgangslage. Laut Deutschem IVF-Register gehen aktuell nur 23 Prozent der Frauen, die eine künstliche Befruchtung durchlaufen, mit einem Baby im Arm nach Hause. Fast 80 Prozent der Behandlungen scheitern oder enden mit einer Fehlgeburt. Trotzdem wurden 123.332 Kinderwunschbehandlungs-Zyklen im Jahr 2022 dokumentiert, knapp 40.000 mehr als vor zehn Jahren.
Unser Arzt lobt, dass wir „so schön früh“ gekommen sind. Mit seinem Kugelschreiber zeichnet er eine Kurve in einem Diagramm auf seinem PC nach. Sie geht steil bergab. „Ab 33 sinkt die Fruchtbarkeit der Frau rapide …“ Michel wirkt skeptisch. Unruhig rutscht er auf seinem Stuhl herum. Ich merke, wie ihn all das überfordert. Die hohen Kosten, die Risiken, die Strapazen, die geringen Erfolgschancen – durch unsere Köpfe wirbeln lauter Fragen: Wollen wir uns das wirklich antun? Muss es wirklich direkt eine ICSI sein? Was, wenn es trotzdem nicht klappt? Überstürzen wir hier etwas? Oder ist das hier das neue Normal?
Laut einer großen Analyse, veröffentlicht im November 2022 im Fachjournal Human Reproduction Update, ist die durchschnittliche Spermienkonzentration im Zeitraum von 1973 bis 2018 um mehr als 51 Prozent gesunken. Als mögliche Gründe dafür nennen die Wissenschaftler:innen schädliche Umwelteinflüsse und eine ungesunde Lebensweise, wobei Kritiker:innen anmerken, dass die wachsenden Zahlen eher auf eine sich stetig verbessernde Zähltechnik zurückzuführen seien.
Die Universität Genf in Kooperation mit dem Swiss Tropical and Public Health Institute sah nach einer Studie ein Jahr später zudem einen Zusammenhang zwischen intensiver Handy-Nutzung und der Abnahme der Spermienkonzentration. Heraus kam, dass die Spermienkonzentration in der Gruppe der Männer, die ihr Handy nicht mehr als einmal pro Woche benutzten, signifikant höher ausfiel als in der Gruppe jener, die ihr Handy mehr als 20 Mal pro Tag benutzten. Daraus ergibt sich ein Rückgang der Spermienkonzentration um 21 Prozent bei häufiger Handy-Nutzung.
Ein WHO-Bericht von 2023 resümiert: Jeder sechste Mensch sei zeitweise unfruchtbar. „Die schiere Zahl der Betroffenen zeigt, dass der Zugang zu Fertilitätsbehandlungen ausgeweitet werden muss und dass dieses Thema in der Gesundheitsforschung und -politik nicht länger verdrängt werden darf“, wird WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus in dem Bericht zitiert.
In Deutschland wird dieser Forderung nicht wirklich ernsthaft nachgegangen. Die Ampelregierung versprach in ihrem Koalitionsvertrag zwar, künstliche Befruchtungen „diskriminierungsfrei (…), unabhängig von medizinischer Indikation, Wohnort, Familienstand und sexueller Identität förderfähig zu gestalten“. Auch die Altersgrenze von 40 Jahren für Frauen und die Anzahl der Behandlungszyklen, also drei, wolle man überprüfen. Doch bisher ist nichts passiert.
Noch immer werden nur heterosexuelle, verheiratete Paare von den Krankenkassen oder durch Zuschüsse der Länder gefördert. Gleichgeschlechtliche Paare werden nur in sechs von zwölf Bundesländern, die künstliche Befruchtungen überhaupt fördern, unterstützt. Eine Sprecherin des Familienministeriums führt auf Nachfrage aus, dass es aktuell an „dauerhaft ausreichenden Finanzmitteln“ mangele. Immerhin erklärte die FDP gerade erst im Bundestag, eine fraktionsübergreifende Initiative zur Legalisierung von bisher in Deutschland verbotenen Eizellspenden starten zu wollen – auch das könnte ungewollt Kinderlosen weiterhelfen.
Das Selbstbewusstsein, mit dem unser Arzt an unsere Behandlung herangeht, finde ich bemerkenswert. Sein Ziel sei es, dass ich gleich beim ersten Versuch schwanger werde, schließlich seien wir jung und gesund. „Auch, damit es für Sie nicht zu teuer wird“, fügt er mit einem mitfühlenden Lächeln hinzu und händigt uns eine daumendicke Mappe mit dem Kostenvoranschlag – rund 5.000 Euro pro Behandlung – aus.
Augen zu und durch, wir wollen es wagen. Das bedeutet aber auch: Wir müssen zügig heiraten, denn ohne die Zuschüsse der Krankenkasse können wir uns die Behandlung nicht leisten, vor allem, wenn mehrere Versuche erforderlich sind. Eine Freundin hat es zwölf Mal probiert, leider vergeblich.
So sitzen Michel und ich im April 2022 auf dem Fußboden unserer Zweizimmerwohnung, trinken Sekt und basteln uns gegenseitig Verlobungsringe aus Alufolie. Weil man in Hamburg ungefähr sechs Monate auf einen Termin beim Standesamt warten muss, googelt Michel „Blitzhochzeit in Dänemark“, ein Tipp von Freunden. Hinter der Grenze könne man fast so schnell und unkompliziert heiraten wie in Vegas, heißt es.
Letztlich finden wir heraus, dass wir in meiner Heimatstadt Cuxhaven sogar noch schneller an einen Termin kommen. Sechs Wochen später feiern wir ein rauschendes Fest mit Engtanz, Schokoladenkuchen und vielen Glückstränen. Am nächsten Morgen scanne ich unsere Eheurkunde ein und schicke sie an meine Krankenkasse. Ihr „Go!“ kommt nach wenigen Tagen.
Zwei Wochen später bekomme ich meine Tage und werde in der Klinik zum gefühlt hundertsten Mal durchgecheckt. Alles sieht gut aus. Ich überweise die Anzahlung und kaufe Medikamente für 2.000 Euro. Später sitzen wir an unserem Küchentisch und arbeiten uns durch die Unterlagen. Wir brauchen ewig, bis wir all die Fachbegriffe verstehen, die auf den Verträgen für Behandlungsmethoden notiert sind, die wir dazubuchen können.
Zum Beispiel Assisted Hatching – mithilfe eines Lasers wird dem Embryo das Abstreifen der Eihaut erleichtert und die Wahrscheinlichkeit für ein erfolgreiches Einnisten gesteigert; Kryokonservierung – Embryos einfrieren; oder Time-Lapse – die Überwachung der Embryos im Labor. Woher sollen wir wissen, was wirklich sinnvoll ist? Wir fühlen uns überfordert und buchen letztlich alle Extras, in der Hoffnung, damit unsere Chancen zu erhöhen.
In diesen Tagen fällt mir auf, wie sehr mein Instagram-Feed auf unseren Kinderwunsch aufgesprungen ist. Er zeigt mir Werbeanzeigen ohne Ende: Zinkkapseln für 16,95 Euro die Dose, eine Haarmineralanalyse für 150 Euro, einen Online-Männerkurs „um gezielt Deine Spermien zu pimpen“, Yoga, Moorkuren. Gefühlt wird überall einfach nur der Begriff „Kinderwunsch“ davor gesetzt und das Produkt als unverzichtbar angepriesen – oft mit „Schwangerschaftsgarantie“.
Im Ausland werben einige Kinderwunschkliniken sogar mit einer Geld-zurück-Garantie, wenn es nach zehn Versuchen nicht klappt. „Seriosität merkt man an sehr zurückhaltenden Heilversprechen“, erklärt die Kinderwunschpsychologin Sally Schulze am Telefon. „Wenn jemand verspricht: Drei von fünf Frauen, die das gemacht haben, sind schwanger geworden, sind das Red Flags. Nicht darauf reinfallen!“
Jeden Morgen schaue ich auf mein Stimulationsprotokoll, auf dem steht, was ich mir wann spritzen muss, um die Reifung mehrerer Eizellen herbeizuführen. Es sind täglich eine Fertigspritze und ein Hormoncocktail, den ich selbst anrühren muss. Ich ziehe ein Lösungsmittel mit der Nadel auf, spritze es in Ampullen mit Pulver, ziehe die Kanüle wieder auf und fühle mich wie in einer Crystal-Meth-Küche. Haut desinfizieren, Luftblasen-Check, bis drei zählen, zustechen. Meistens in den Bauch. Eine Riesenüberwindung. Ich habe jedes Mal Angst, etwas falsch zu machen und damit die gesamte Behandlung zu gefährden. Einmal fängt Michel währenddessen an etwas zu kochen und ich raste komplett aus. „Raus! Sofort! Ich muss mich hier konzentrieren!“
Ich bin schnell gereizt und durch die Hormone ständig müde. Zweimal die Woche muss ich zur Kontrolle in die Klinik. Dadurch schaffe ich viel weniger journalistische Aufträge als früher und kann an den Wochenenden nicht mehr mit meiner Band auf Tour gehen. Also verdiene ich auch weniger Geld.
In dieser Zeit streiten Michel und ich häufiger, weil ich von ihm verlange, dass er bis zur Spermienabgabe nicht mehr raucht oder trinkt. Er findet das übergriffig, ich finde ihn unsolidarisch. „Von den Millionen Spermien, die ich habe, werden sie ja wohl eins finden, das gut genug ist“, sagt er. Während er häufiger in den Verdrängungsmodus wechselt und am liebsten so wenig wie möglich über die ganze Sache reden will, um nicht so stark enttäuscht zu werden, falls es nicht klappt, fühle ich mich manchmal allein gelassen.
Nach zwei Wochen muss ich mir zu einer bestimmten Uhrzeit eine eisprungauslösende Spritze setzen. Ich stelle mir drei Wecker, um nicht zu verpennen – sonst wäre alles umsonst gewesen. Tags drauf werden mir die herangereiften Follikel entnommen. Je mehr, desto höher die Chance, dass am Ende ein guter Embryo entsteht. Michel musste schon frühmorgens sein Sperma abgeben. Sessel mit Papierbezug, TV-Gerät mit Erotikfilmen in Endschleife, in Plastik eingeschweißte Fernbedienung. Maximal unangenehm, aber wenigstens schmerzfrei. Meine OP dauert 15 Minuten.
Im Aufwachraum baumeln drei Störche über meinem Bett. Man ruft mir zu, dass zwölf reife Eizellen entnommen werden konnten. Jackpot! Manchmal sind Follikel nämlich auch leer, ohne Eizellen darin. Michel bringt mich nach Hause. Als die Betäubung nachlässt, habe ich Unterleibsschmerzen und mein Bauch schwillt an. Ab ins Bett.
Tags drauf ruft die Klinik an, um uns mitzuteilen, dass sechs Eizellen befruchtet werden konnten. Wenn sich in der Nährlösung im Labor ein guter Embryo entwickelt, könne mir dieser in fünf Tagen eingesetzt werden. Und so kommt es dann auch, wie zu Beginn dieses Textes beschrieben.
Danach müssen wir warten, quälend lange 14 Tage, bis der Bluttest gemacht werden kann. Ich versuche mich abzulenken, so gut es geht, besuche Lesungen, treffe Freundinnen. An Tag 13, ich sitze gerade mit meinem Laptop im Café, muss ich auf die Toilette. Da ist Blut am Klopapier. Alles um mich herum verschwimmt. Nein, bitte, nein.
Das war’s, ich weiß es. Trotzdem will die Klinik noch einen Schwangerschaftstest machen. Blutungen kämen häufig vor. Dann kommt der Anruf: „Schwanger! Aber …“ Das Schwangerschaftshormon sei kaum noch nachweisbar. Für ein bis zwei Stunden erlaube ich mir, mich zaghaft zu freuen. Dann holt mich die Realität ein. Da ist einfach zu viel Blut. Biochemische Schwangerschaft nennt sich das. Der Embryo hat sich kurz eingenistet, ist dann aber abgegangen. Viele Frauen sind kurz schwanger, ohne es zu merken. Jedes Mal eine winzige Fehlgeburt.
Michel und ich sind sehr traurig, aber auch hoffnungsvoll. Immerhin wissen wir jetzt, dass wir es können. Zwei Monate später, einen Tag vor meinem 37. Geburtstag im Oktober 2022, wird mir erneut ein Embryo eingesetzt. Ich verbringe den Abend mit Wolldecke auf dem Sofa, klappe den Laptop auf und googele „Anzeichen Schwangerschaft ICSI“, schaue Dokus, lese Erfahrungsberichte und Horrorstorys von anderen #icsimoms, recherchiere, was es für Behandlungsmethoden im Ausland gibt und wie eigentlich eine Adoption so abläuft. Ich will vorbereitet sein, falls alle Stricke reißen, um nicht so tief zu fallen.
Nach außen hin lassen wir uns weiterhin nichts anmerken, nur unsere Familien wissen Bescheid. Ich gehe weiter auf Feiern, trinke heimlich alkoholfreien Sekt, um mich niemandem erklären zu müssen.
Als 14 Tage vergangen sind, lasse ich mir in der Klinik Blut abnehmen und warte zu Hause mit Michel auf den Anruf. Die Klinikmitarbeiterin knallt uns die Info wenig empathisch um die Ohren: „Das war leider nichts.“ Michel und ich weinen, Arm in Arm. Es ist härter als beim ersten Mal, und wir wissen plötzlich nicht mehr, ob wir noch eine Enttäuschung verkraften können und wollen. Unsere Angst davor, dass auch der dritte teilfinanzierte Versuch scheitert und es uns niemals vergönnt sein wird, wird immer erdrückender.
Aus rationaler Sicht wäre es Quatsch gewesen, an diesem Punkt aufzugeben. Bei vielen ICSI-Paaren klappt es erst beim vierten oder fünften Versuch. Und wir haben erst vor drei Monaten so richtig angefangen. Aber es ist härter als gedacht. Ich fühle mich mittlerweile nur noch leer, erschöpft und ängstlich. Michel lässt seinen Frust an der Klinik aus. Er vertraue den Ärzt:innen dort nicht, wolle eine zweite Meinung einholen. Aber dazu fehlt mir die Kraft. Ich muss meinem Arzt vertrauen.
Gleichzeitig merke ich, dass ich psychologischen Support brauche, und mache einen Termin bei einer Kinderwunsch-Coachin. Alexandra Schuffenhauer ist kaum älter als ich. Sie trägt eine schicke Seidenbluse, Perlenohrringe und empfängt mich in einer coolen Altbauwohnung in Winterhude. Eine Stunde lang kotze ich mich bei ihr aus, offenbare ihr meine abgründigsten Gedanken. Familie oder Freundinnen hätte ich das nicht zumuten wollen. Für die Coachin ist das Tagesgeschäft. Ich muss nichts erklären, nichts beschönigen. Tränen gestatte ich mir nicht. Ich will jetzt nach vorne schauen und brauche Lösungen: raus aus dieser erdrückenden Hoffnungslosigkeit.
Alexandra geht ein Gedankenspiel mit mir durch: „Was wäre, wenn du wüsstest, dass du im nächsten Jahr schwanger wirst?“ Ich antworte, dass mich das unfassbar beruhigen und ich wieder alles genießen würde, was mir Spaß macht. Sie rät mir, genau das jetzt schon zu tun – Spaß haben, leben.
Im Februar 2023 fliegen Michel und ich nach Indien. Durchatmen, Kraft tanken, leicht sein. Wir erkunden einsame Strände, düsen mit dem Moped durch den Dschungel. Ich mache eine Ayurveda-Kur, Michel hört mit dem Rauchen auf. Es ist romantisch, witzig und unbeschwert. Nach unserer Rückkehr fühlen wir uns wieder wie wir selbst und schwören uns, dass wir einen dritten Versuch – wenn überhaupt – nur wagen, wenn dieses Gefühl eine Zeit lang angehalten hat, wir uns langfristig stabil und glücklich fühlen.
Im April 2023, fünf Monate nach dem letzten Versuch, trauen wir uns. Wieder ist da Hoffnung, aber sie ist gedämpft. Wir ziehen die Prozedur so durch wie bei den letzten Versuchen. Diesmal entstehen sogar zwei lebensfähige Embryos. Einer kann eingefroren werden. Ein gutes Zeichen. Doch wenige Tage nach dem Transfer geht es mir plötzlich sehr schlecht. Mein Bauch ist stark geschwollen, ich habe Wassereinlagerungen. Offenbar eine Überstimulation. „Was muss ich denn noch alles ertragen?“, frage ich mich.
Mein Arzt will mich sofort sehen. Es ist heiß, und jeder Schritt ist eine Qual. Ächzend erreiche ich die Klinik. Während des Ultraschalls schmunzelt mein Arzt plötzlich so komisch. Er habe einen Verdacht, wolle aber noch den Bluttest abwarten und mich später anrufen. Ich verziehe keine Miene. Was soll das heißen, ein Verdacht? Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich versuche, an nichts zu denken.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Nachmittags stehe ich in der Küche, als das Telefon klingelt. Michel ist auf der Arbeit. „Mein Verdacht hat sich bestätigt“, sagt mein Arzt ohne Umschweife, und ich höre, wie er lächelt. „Sie sind schwanger!“ Ich stotterte irgendwas, von dem ich glaube, dass er es jetzt hören will. Erst, als ich aufgelegt habe, dringt die Info zu mir durch. Wir haben es geschafft.
Ich erreiche Michel auf der Arbeit, er steht gerade mit Kolleg:innen zusammen, kann nicht offen sprechen: „Ja! Toll!“, stammelt er. Das war’s. Abends kommt er ewig nicht nach Hause. Gegen 22 Uhr höre ich Geräusche im Garten und sehe Michel, wie er ein Bäumchen pflanzt. „Was machst du denn da?“ Michel hat Erde an den Händen und feuchte Augen. „Der ist für unser Kind.“ Dann fallen wir uns in die Arme.
Richtig loslassen können wir erst, nachdem die ersten zwölf Wochen überstanden sind. Da ist das Risiko für eine Fehlgeburt besonders hoch – 25 Prozent, bei #icsimoms sogar noch höher. Bis dahin kaufen wir keinen Strampler, kein Bettchen.
Spätestens nach der zweiten großen Ultraschalluntersuchung im fünften Monat weicht die Anspannung dann einer unbändigen Vorfreude. Am 12. Dezember dürfen wir unseren Sohn endlich in den Armen halten.
Während der Frühschwangerschaft kehre ich noch einmal für einen 3-D-Ultraschall in die Kinderwunschklinik zurück. Der ist freiwillig und kostet 120 Euro. Mein Arzt möchte gucken, ob alles gut ist. Michel schimpft, aber es ist mir ein Bedürfnis, meinen Arzt noch einmal zu sehen. Er freut sich wahnsinnig für mich. Und bestimmt auch für die Statistik der Klinik. Für die bin ich reines Gold.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein