Historiker über Migrationsbegriffe: „Waffen im politischen Kampf“

Die Begriffe, mit denen über Migration gesprochen wird, haben meist starke Konnotationen. Historiker Jochen Oltmer über die Tragweite der Sprache.

Ein Strauß Blumen liegt auf dem Denkmal für nach Großbritannien geflüchtete jüdische Kinder am Bahnhof Friedrichstraße.

„Flüchtlinge“, „Geflüchtete“ oder „illegale Migranten“? Denkmal für nach Großbritannien geflüchtete jüdische Kinder in Berlin Foto: dpa | Rabea Gruber

taz: Herr Oltmer, Sie forschen zur Geschichte des Begriffs „Flüchtling“. Wieso ist es relevant, wie sich dieser Begriff entwickelt hat?

Jochen Oltmer: In Diskussionen über Migration – und dazu gehört der Begriff „Flüchtling“ – merkt man schnell, dass Begriffe nie bloße Buchstabenreihungen sind: Es geht immer um ihre Konnotation und die Aufladung mit Bedeutung. Die Geschichte eines Begriffs zu erforschen, bedeutet eine Langzeitbeobachtung von Gesellschaften. Prozesse des permanenten Diskutierens und Aushandelns werden anhand des Bedeutungswandels eines Begriffes fassbar.

taz: Wie hat sich die Bedeutung des Begriffs „Flüchtling“ verändert?

Oltmer: Als Alltagsbegriff setzte er sich erst nach dem Ersten Weltkrieg durch. Er meinte meistens Deutsche und war positiv konnotiert. Das bleibt auch nach dem Zweiten Weltkrieg so. Auf sogenannte „internationale Flüchtlinge“ findet sich bis in die 1950er-Jahre kaum ein Bezug.

taz: Wann hat sich das geändert?

Oltmer: In den 1970er-Jahren wird die Bundesrepublik zunehmend das Ziel von Schutzsuchenden aus Osteuropa und dem Globalen Süden. 1980 wurden in der BRD erstmals über 100.000 Asylanträge gestellt. Es herrschte große Aufregung um eine vermeintliche Überlastung. Interessant ist, dass der Begriff „Flüchtling“ weiterhin positiv konnotiert blieb. Meistens wurde er für Personen aus Osteuropa verwendet, deren Flucht man als Beweis der Überlegenheit des Westens gegenüber der Sowjetunion sah.

taz: Die positive Konnotation blieb trotz der Debatte um Überlastung?

Professor für Neueste Geschichte und Migrationsgeschichte am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Gemeinsam mit Isabella Löhr (Potsdam) hat er ein kritisches Inventar der Migrationsbegriffe erstellt.

Oltmer: Es gibt einen zweiten zentralen Begriff in der bundesdeutschen Debatte ab den 1970ern: Der extrem negativ konnotierte Begriff des „Asylanten“, der sich auf Menschen aus dem Globalen Süden bezieht. Man kann ganz klar von einem rassistischen Sortieren sprechen: Die guten Schutzsuchenden aus Osteuropa, die man „Flüchtlinge“ nennt und die unerwünschten aus dem Globalen Süden, die als „Asylanten“ bezeichnet werden. Der Begriff des „Asylanten“ hat ermöglicht, dass der Begriff des „Flüchtlings“ positiv konnotiert bleiben konnte – trotz der Überlastungsdebatte.

taz: Welche Fragen wurden in dieser rassistischen Abgrenzung von „Flüchtlingen“ versus „Asylanten“ verhandelt?

Oltmer: Es geht um Zugehörigkeit, die „Flüchtlingen“ zugesprochen wird, während die so bezeichneten „Asylanten“ als nicht zugehörig gelten. Und es geht um Fragen der Bedrohung: Beispielsweise in der Bildberichterstattung in den Zeitungen sehen Sie: „Flüchtlinge“ werden als individuelle Menschen dargestellt. „Asylanten“ erscheinen als Masse, die als solche eine Bedrohung zu bilden scheint. Und es geht immer auch um die Frage der Nützlichkeit für die bundesdeutsche Gesellschaft.

taz: Mittlerweile ist der Begriff „Asylant“ nicht mehr geläufig.

Oltmer: Es gibt natürlich andere Möglichkeiten, rassistisch zu sortieren. Zum Beispiel der Begriff des Wirtschaftsflüchtlings: Er deutet an, dass diese Menschen unerwünscht und nicht „nützlich“ für die bundesdeutsche Gesellschaft seien.

taz: Auch der Begriff „Flüchtling“ wird heute kritisiert. Wieso?

Oltmer: Ab den späten 2000ern wird kritisiert, dass das Suffix „-ling“ in der Tendenz abwertend sei. Sprachwissenschaftlich ist das übrigens nicht so eindeutig. Außerdem lasse der Begriff nicht die Bildung einer weiblichen Form zu, heißt es. Das verbreite den Eindruck, dass ein Flüchtling immer ein Mann sei. Heute wird oft von „Geflüchteten“ gesprochen. Anders als „Flüchtling“ impliziert dieser Begriff aber, dass die Flucht schon vorbei sei. Dabei sehen wir: Fluchtbewegungen finden sehr oft kein Ende. Da scheint der Begriff des „Geflüchteten“ dysfunktional. Ich spreche meist von „Schutzsuchenden“.

taz: Ist der Begriff „Flüchtling“ also einfach überholt?

Oltmer: „Flüchtling“ ist auch ein Rechtsbegriff und explizit mit einem Rechtsanspruch verbunden. Wenn man diesen Begriff aus der öffentlichen Debatte wischt, macht man unsichtbar, dass es diese Schutzrechte gibt. Allgemein denke ich, dass viele sich zu wenige Gedanken machen, welche Botschaften sie mit Begriffen transportieren.

taz: Wo zum Beispiel?

Oltmer: Etwa in der Diskussion zu „illegaler“ Migration. Hier werden Menschen, die mit Verweis auf das Asylrecht Grenzen überschreiten, aber kein Visum oder entsprechende Legitimationspapiere haben, als illegal bezeichnet. Dabei wissen alle, die mit diesen Verfahren zu tun haben, dass schon mit dem Hinweis auf das Asylrecht ihr Aufenthalt legalisiert wird. Aber verschiedene Seiten sprechen bewusst von illegaler Migration, um sie als kriminell zu labeln. Damit werden diese Begriffe zum Gegenstand oder sogar zu Waffen im politischen Kampf um die Zuweisung von Rechten und die Auseinandersetzung um Zugehörigkeiten. Da werden Lebensmöglichkeiten zugewiesen oder auch genommen. Das sind alles Aspekte, die eine Migrationsgesellschaft sehr intensiv in den Blick nehmen sollte.

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