Zur Phrase der „irregulären Migration“: Vergiftete Sprache

Die Wendung der „irregulären Migration“ wird inflationär benutzt. Dabei ist Migration immer chaotisch und gehört ganz anders geregelt.

Eine Familie zieht Koffer hinter sich her

Ankunftszentrum der Landesaufnahmebehörde Bramsche-Hesepe bei Osnabrück in Niedersachsen Foto: Detlef Heese/imago

Herrgott, wie ist bloß diese „irreguläre Migration“ in unsere Sprache und damit in unsere Gesellschaft gesickert? Erst ganz unbemerkt, wie beim Coronavirus. Das Wachstum indes ist exponentiell. Mittlerweile vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwelche Politikleute den Begriff in den Mund nehmen und meinen, damit Wasser auf die Mühlen geschichtsvergessener Eiferer schütten zu können.

Schleichend hat der Begriff die Sprache vergiftet, das zeigt auch ein Blick ins taz-Archiv. Von 1994 bis 2013, zwei Dekaden lang, finden sich gerade einmal 6 Texte, in denen „irreguläre Migration“ steht. Anfangs in Anführungszeichen. Die Kol­le­g*in­nen spürten, dass etwas nicht stimmt mit der Phrase. Von 2014 bis zum 6. November 2023, dem Tag des Bund-Länder-Treffens zu Migration, sind es schon 140 Texte. Davon fast die Hälfte in den letzten zwei Jahren.

Politiker überschlagen sich gerade, wenn es darum geht, den Begriff zu verwenden, und die Medien liefern ihnen dafür die Plattform. Kanzler Scholz: „Unser gemeinsames Ziel ist es, die irreguläre Migration zurückzudrängen“ (ARD). Hendrik Wüst, Ministerpräsident von NRW: „Der zentrale Punkt: dass wir irreguläre Migration begrenzen“ (n-tv). Und weil es immer noch schlimmer geht, hier auch CDU-Vize Jens Spahn: „Entweder beenden die Parteien der demokratischen Mitte das Thema irreguläre Migration, oder die irreguläre Migration beendet die demokratische Mitte“ (Wirtschaftswoche). Nach Spahn ist die Demokratie also der Migration ausgeliefert, nicht der Demagogie und dem Populismus der rechten Demokratiefeinde, deren Hetze die CDU gern übernimmt. Mir wird echt schlecht.

Lange war das Wording: „illegale Migration“. Das ist eine genauso schlimme Formulierung. Die Protestbewegung reagierte. „Kein Mensch ist illegal“ lautete deren Antwort. „Kein Mensch ist irregulär“ indes taugt als Slogan nicht. Da vibriert nichts, es hat keinen Sound; „irregulär“ ist ein genialer Schachzug der PR-Polit-Strategen.

Den Deutschen wird nachgesagt, dass sie Regellosigkeit nicht gut verkraften. Etwas Geregeltes ist kontrollierbar. Aber, Leute, Migration ist immer chaotisch

Wer von „irregulärer Migration“ spricht, macht im Umkehrschluss ein Zugeständnis. Nämlich dass es auch reguläre Migration gibt, also Migration überhaupt. Und die auch nach Deutschland. Lange war verpönt, das zu denken. Regulär und irregulär stehen sich antagonistisch gegenüber. Wie gut und schlecht. Wie weiß und schwarz. Und auf Weiß und Schwarz läuft es raus, wie zu sehen ist, angesichts der Toten im Mittelmeer.

Irreguläre Migration heißt Migration ohne Regeln. Den Deutschen wird nachgesagt, dass sie Regellosigkeit nicht gut verkraften. Etwas Geregeltes ist kontrollierbar. Aber, Leute, Migration ist immer chaotisch (außer vielleicht bei Zugvögeln und Fischen). Die Gründe dafür: Krieg, Umweltzerstörung, Klimawandel, Armut, Terror. Aktuelle Beispiele: Ukraine, Bergkarabach, Gaza, Sudan, Pakistan, Subsahara, Honduras.

Wer Migration regeln will, muss die Lebensbedingungen in den Ländern verbessern, aus denen Menschen migrieren. In Sachen Frieden ist das schwer, solange Despoten ihr Standing durch Krieg und Terror stabilisieren und Waffenverkäufe und Waffenschmuggel so lukrativ sind. In Sachen Klimawandel indes könnten alle im Westen mehr tun. Der Klimawandel zerstört Lebensgrundlagen in Ländern, wo wenig CO2 verbraucht wird. Das Ergebnis: Flucht und Migration.

Was tatsächlich „irregulär“ und also aus dem Rahmen fallend ist und reguliert werden müsste: dass die reichen Länder auf Kosten der armen das Klima zerstören. Für diesen Missstand hat noch niemand eine Phrase gesucht. Sprache ist eben immer das Aushängeschild des Denkens.

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Seit 2002 bei der taz, erst im Lokalteil, jetzt in der Wochentaz. 2005 mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet für die Reportage „Schön ist das nicht“, 2011 wurde die Reportage „Die Extraklasse“  mehrfach prämiert. 2021 erschien ihr Roman "Brombeerkind" im Ulrike Helmer Verlag. Es ist ein Hoffnungsroman. Mehr unter: www.waltraud-schwab.de . Auch auf Twitter. Und auf Instagram unter: wa_wab.un_art

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