Kämpfe in der Ostukraine: Entscheidende Monate an der Front
Der Sommer wird zur schwierigsten Zeit an der Front, sagen Militärexperten und Soldaten: Die Ukraine verliert im Osten weiter Gebiete.
Die ukrainische Verteidigungslinie brach zwar nicht zusammen, die Ukrainer verloren aber mehrere völlig zerstörte Dörfer und Städte. Der ukrainische Generalstab berichtet täglich darüber, wie viele Gefechte es an der Front gibt. Dies zeigt gut, welche Ziele für Russland jeweils besonders wichtig sind. Aktuell werden im Osten der Ukraine täglich etwa 120 bis 130 Gefechte registriert. Ein Drittel davon findet in Richtung Pokrowsk, das andere in Torezk, beide in der Oblast Donezk, statt. Hier konzentriert sich der Großteil der russischen Streitkräfte. Seit mehreren Monaten greifen sie täglich drei Städte an: Pokrowsk, Torezk und Tschassiw Jar. Die russische Offensive in Richtung Charkiw von Mai bis Juni dürfte als Ablenkungsmanöver geführt worden sein.
Russische Vorstöße auf ostukrainische Städte
Zunächst stießen die Besatzer nach Pokrowsk vor, einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt. Dort leben noch immer 60.000 Menschen, Geschäfte und Restaurants sind geöffnet. Nur 20 Kilometer entfernt verläuft die Front. Man hat bereits begonnen, Menschen aus den umliegenden Dörfern zu evakuieren.
Ein anderes wichtiges Ziel der russischen Armee ist die Siedlung New-York (bis 2021 Nowohorodske). Hier könnten ukrainische Einheiten eingekesselt werden. Nicht weit nördlich davon rückt die russische Armee auf ukrainische Stellungen nahe der Stadt Torezk vor. Mittlerweile haben sie es bis unmittelbar an die Stadtgrenze geschafft.
Auch nahe der Stadt Bachmut halten die Gefechte an. Die Stadt war nach blutigen Kämpfen im Winter 2022/23 von den russischen Streitkräften eingenommen worden. Seitdem sind sie nicht viel weitergekommen. Dafür wird jetzt um Tschassiw Jar gekämpft. Hier eroberten russische Einheiten einen Brückenkopf am Westufer des Siwerski-Donez-Donbas-Kanals, der für sie bislang ein natürliches Hindernis dargestellt hatte. Gleichzeitig sind die ukrainischen Einheiten nahe der Städte Wuhledar und Krasnohoriwka in einer Verteidigungskrise.
Taktischer Einsatz von Gleitbomben
Kostjantyn Maschowets, ein ehemaliger Militäroffizier und jetzt Leiter der Gruppe „Informationswiderstand“, berichtet über die Taktik der russischen Armee. Maschowets glaubt, dass die russischen Erfolge aktuell vor allem auf dem massiven Einsatz von Gleitbomben zurückzuführen sind. Damit zerstören sie zwar ukrainische Stellungen, nicht aber die ukrainische Verteidigung insgesamt, meint er.
Der Presseoffizier der 32. Brigade, Olexander Brodijan sagte gegenüber Radio Swoboda, dass russische Flugzeuge allein 118 solcher Bomben innerhalb von einer Woche nahe Torezk abgeworfen hätten. Die russischen Flugzeuge operieren dabei immer in einem gewissen Abstand von der Front, damit die ukrainische Luftverteidigung sie nicht erreichen kann. Kostjantyn Maschowets glaubt, dass die russische Offensive aktuell so schnell sei, dass die russischen Streitkräfte ihre lokalen Erfolge schnell in taktische umwandeln könnten, weil sie zügig weit auf ukrainisches Territorium vorstoßen.
Russlands zeitlicher Vorsprung
Während die russische Armee seit dem Winter ihre Truppen an der Ostfront aufbauen konnte, mussten die Ukrainer auf US-amerikanische Hilfe und europäische Raketen warten. Während dieser Zeit schickte die russische Armee konstant Nachschub an neuen Soldaten und aktivierte auch ihre Reserven. Der ukrainische Kriegskorrespondent Bohdan Myroshnikow schreibt: „Zuerst gab es eine achtmonatige 'Diät’ ohne amerikanische Hilfe. Dann kam sie – allerdings nur langsam und schrittweise.“ Das erklärt, warum sich die Lage für die Ukraine an der Front aktuell nicht verbesserte, obgleich jetzt viel Hilfe von den Alliierten eintrifft.
„Die Russen hatten einen zeitlichen Vorsprung. Wir erwarten, dass die russischen Streitkräfte in den nächsten ein, zwei Monaten das Maximum ihrer Truppen eingesetzt haben werden“, glaubt Kriegskorrespondent Myroshnikow. „Russland hat sich verrannt. Nun bekommt es Probleme und versucht auch deshalb mit aller Kraft, Kyjiw an den Verhandlungstisch zu bringen.“
Bestätigt wurde diese Meinung von einem Offizier der in der Ostukraine kämpfenden Brigaden: Serhij stammt aus Luzk und möchte seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen, da er offiziell nicht mit Medienvertretern sprechen darf. „Die nächsten Wochen und Monate werden die entscheidenden. Entweder können wir die russischen Okkupanten strategisch stoppen, oder wir werden in einigen Jahren gezwungen sein, uns zu russischen Bedingungen an den Verhandlungstisch zu setzen“, meint der Offizier. Und fügt hinzu, dass man in der ukrainischen Armee bislang nicht über Friedensverhandlungen mit Russland nachdächte.
Aus dem Ukrainischen Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene