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Selenskyj und mögliche VerhandlungenBegrenzt offen

Kommentar von Barbara Oertel

Wolodymyr Selenskyj signalisiert Bereitschaft, Gebiete abzutreten, wenn die Bevölkerung das will. Es wäre ein Freibrief für Putin zum Weitermachen.

Gedenkmauer für getötete Soldaten: Verhandeln, aber nur, wenn es etwas zu verhandeln gibt, auch wenn der Krieg täglich weitere Opfer fordert Foto: Andrew Kravchenko/dpa

A nders als noch beim Ukraine-Friedensgipfel Mitte Juni hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj überraschenderweise gegen Russlands Präsenz bei einer Nachfolgeveranstaltung offensichtlich nichts einzuwenden. Wohl denen, die schon immer einer diplomatischen Lösung das Wort geredet, dabei aber stets im Dunkeln gelassen haben, was das bedeutet.

Sie könnten sich dennoch bestätigt fühlen, zumal der Krieg täglich weitere Opfer fordert. Ergo, so die Annahme, beginnt sich vielleicht endlich auch bei Selenskyj die Erkenntnis durchzusetzen, dass der Krieg gegen den russischen Aggressor für Kyjiw auf dem Schlachtfeld nicht zu gewinnen ist und sich die Ukraine folglich in das Unvermeidliche fügen muss.

Wenn man Selenskyjs Interview mit französischen Medien genau liest, sieht es allerdings etwas anders aus. An der territorialen Integrität macht er keine Abstriche. Das läge laut Verfassung auch gar nicht in seiner Kompetenz. Und nicht überall wird so kreativ mit dem Grundgesetz umgegangen wie in Russland. Über Gebietsabtretungen müsse, wenn überhaupt, die Bevölkerung entscheiden – sprich ein Referendum organisiert werden. Doch wie?

Die Menschen bei Wahlen in den ostukrainischen Gebieten Donezk und Luhansk sprechen zu lassen, war auch in den Minsker Abkommen 2014/15 vorgesehen. Was daraus wurde, ist bekannt. Genauso bekannt sind die Positionen Moskaus, an denen sich nichts geändert hat. Bevor sich der Kreml zu Gesprächen herablässt, soll Kyjiw komplett aus den vier völkerrechtlich besetzten Gebieten Donez, Luhansk, Saporischschja und Cherson abziehen. Das war und ist gelinde gesagt absurd: Gebiete und die Menschen, die dort wohnen, aufgeben.

Wenn gewaltsame Grenzverschiebungen nachträglich belohnt werden, wäre das nicht weniger als ein Freibrief für Moskau, danach weiterzumachen. Nichts spricht dafür, dass dieser Fall nicht eintritt. Um es klar zu sagen: Diplomatie und eine Friedenskonferenz sind wichtig. Aber nur dann, wenn es etwas zu verhandeln gibt und nicht, wenn eine Kapitulation am Anfang steht.

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Ressortleiterin Ausland
Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.
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21 Kommentare

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  • Dass die Situation kompliziert ist, ist keine Neuigkeit.



    Allerdings ist sie auch tödlich, minütlich, für Russen wie Ukrainer.



    Was genau der Lösungsansatz an einem Krieg sein soll, wird täglich unklarer.



    Ja, es wird deutlich, dass Diejenigen, die schon vor Zeiten eine andere Lösung präferiert haben, weitsichtiger waren.



    Diejenigen, die den Sieg der Ukraine propagierten und die Schwäche der russischen Armee behaupteten, lagen falsch.



    Es besteht bei Vielen, die dieser falschen Annahme verfielen, allerdings nicht die Erkenntnis, dass über Alternativen nachgedacht werden muss.



    Klar ist die Situation jetzt nicht einfacher geworden.



    So wie es derzeit aussieht, ist Putin in der Lage, seine Ziele militärisch durchzusetzen.

    • @Philippo1000:

      Ein wesentliches Hindernis für ein Umdenken ist die "moralische" Komponente.



      Die Befürworter einer militärischen Lösung haben den Skeptikern vielfach unterstellt, dass sie



      eine Teilschuld am Tod vieler unschuldiger Menschen tragen. Ein Eingeständnis, dass es ein Fehler war vorrangig auf die militärische Karte zu setzen, würde ja auch bedeuten, dass man trotz guter Intention eine gewisse Teilschuld für die vielen Toten tragen könnte.



      Wie soll man damit umgehen , wenn das doch genau der Vorwurf ist den man den Skeptikern machte!?



      Ich kann deshalb gut verstehen, dass viele eine militärische Lösung vehementer denn je fordern,



      jedoch ist damit niemanden geholfen.

      • @Alexander Schulz:

        Hat man und kann man immernoch. Die Schuld liegt in jedem Fall bei Putin (und jedem, der in dessen Armee arbeitet) aber da in den besetzten Gebieten massenhaft Menschen eingesperrt/gefoltert/getötet werden und zB auch Kinder entführt werden, um sie "zu Russen zu machen" ist einfach klar, das man mit einer Verhandlungslösung nur das eigene Gewissen beruhigen möchte. Wagenknecht AfD und Co. bauen genau darauf.



        Wäre die militärhilfe nicht immer nur Tröpfchenweise und zögerlich gekommen hätte man heute vielleicht eine andere Situation.



        Die Verhandlungsbereitschaft von Selensky scheint mir eher ein Zeichen des guten Willens an Trump zu sein, falls der die Wahl gewinnt.



        Diejenigen, die immer noch glauben mit Russlands Regime verhandeln zu können lügen sich m.E. nach selbst in die Tasche, und die Toten von denen man nicht jeden Tag -wie im Kriegsfall- in der Zeitung liest sind ihnen schnuppe.

        • @Genosse Luzifer:

          Haben Sie sich den Kommentar durchgelesen, den ich geschrieben habe



          Wie gesagt ich kann verstehen, dass Sie eine militärische Lösung vehementer denn je fordern (müssen).

  • Russland bietet derzeit nur die Kapitulation der Ukraine an. Daher ist es recht müßig über Verhandlungen zu spekulieren. Putin wird solange Krieg führen bis er die Ukraine vernichtet hat oder nicht länger in der Lage ist Krieg zu führen, oder vor einer Niederlage steht. Er hat hundertausende Russen geopfert, unzählige Milliarden und den Großteil des modernen Equipments der russischen Armee, demnächst auch die sovietischen Alt-Bestände. Er wird keinen Kompromiss schließen außer er muss.

    • @Machiavelli:

      Offiziell hat Russland auch bei den letzten Verhandlungen die Kapitulation gefordert. Die Gespräche sahen dann aber ganz anders aus (inzwischen sind ja zum Glück alle Dokumente zugänglich):

      www.nzz.ch/interna...beenden-ld.1827138

      • @Alexander Schulz:

        und im Bezug auf den Artikel, Charap ist keine zuverlässige Quelle seine Russland Analysen waren sehr oft weit zu pro-russisch für eine objektive Analyse und er lag sehr oft falsch.



        Darüber hinaus wenn Kuleba (immerhin der ukrainische Außenminister) (1) sagt das man einer Einigung nicht nahe war. Ich bitte sie daher keine Falschinformationen mehr zu verbreiten. Eine Einigung war nicht nahe und selbst wenn zu glauben das es zu dauerhaftem Frieden geführt hätte ist illusorisch.

        1 kyivindependent.co...romoted-by-russia/

      • @Alexander Schulz:

        Putin wird sich an keinen Frieden halten. Er hat es die letzten male nicht getan es ist absurd anzunehmen er würde es diesmal tun. Er will die Ukraine unterwerfen und er wird von diesem Ziel nur lassen wenn er gezwungen wird.



        Die Ukrainer wissen schon warum sie ihm nicht vertrauen.

        • @Machiavelli:

          Lesen Sie sich doch einfach Mal oben erwähnten Link durch. Es wird keine militärische Lösung geben und eine weitere Verteufelung des Gegners ist verständlich hilft aber nicht bei einem Lösungsansatz.



          Machen Sie sich bitte deutlich warum sich die Stimmung langsam in der Ukraine dreht - Krieg ist kein Spiel und die Grauen sind real.

          • @Alexander Schulz:

            Gibt auch andere Berichte zu den Verhandlungen und es geht hier nicht um Verteufelung. Wenn jemand bereit ist 600.000 seiner Landsleute in den Tod und die Verstümmelung zu schicken, wie Putin. Jeden Vertrag bricht wenn es ihm passt wie Putin, muss man einfach davon ausgehen das mit so jemandem kein dauerhafter Frieden zu haben ist.

            Die Stimmung in der Ukraine ist klar schlechter, weil drei Jahre Krieg. Aber dauerhaften Frieden gibt es derzeit mit Putin nicht. Der braucht den Krieg um die eigene Macht zu sichern.

        • @Machiavelli:

          Ramelow hat ja dazu wieder einen rausgehauen, die Linke ist für mich schon aus diesem Grund keine Option mehr.



          Bodo: "Ja also wir müssen als Europa, also ohne die bösen Amis, mit Russland Friedensverträge abschließen, also irgendwann jetzt halten sie sich nicht dran und Putin ist natürlich ein Verbrecher, aber irgendwie wird Europa ja immer neben Russland liegen...ähm Frieden!"

  • Das Erschreckende an diesem Artikel kann entnehmen, scheint mir, dass die



    Autorin mit keinem Wort irgendeine Art von Mitgefühl mit den Menschen zeigt, die jeden Tag in diesem sinnlosen Krieg ihr Leben lassen müssen.



    Wenn selbst bei Selenskyi inzwischen die Einsicht gereift ist, dass die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnen kann, da es ihr an Soldaten fehlt und immer mehr junge, ukrainische Männer lieber „fahnenflüchtig“ werden, als für das „Vaterland“ in den Krieg zu ziehen.



    Was treibt die Autorin an, dass sie einen Vorschlag von Selenskyj mit den Worten, die sei „ein Freibrief für Moskau“ diffamiert? Ihre nachfolgende Beteuerung „Diplomatie und eine Friedenskonferenz“ seien wichtig, können eigentlich nur als reine „Lippenbekenntnisse“ bezeichnet werden.



    Um eines klarzustellen. Niemand hat ein Interesse an einer Kapitulation der Ukraine, Sie muss ein souveräner Staat bleiben. Wer jedoch, wie die Autorin, diesen furchtbarsten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg um jeden Preis fortführen will, macht sich schuldig am Tod weiterer, unschuldiger Menschen!



    Sofortiger Waffenstillstand – Friedensverhandlungen an neutralem Ort – Volksabstimmung in der Ukraine über Grenzverschiebungen!

    • @justus*:

      Da spielt nur leider Russalnd nicht mit.



      Das ist nämlich der Grund für die Fortsetzung des Krieges.



      Die Ukrainer sterben lieber als sich noch einmal dem russischen Imperialismus zu unterwerfen. Denn da sterben sie auch.

  • Selenskis Dilemma hat Klitschko kürzlich erläutert:

    》Die Debatten um mögliche Szenarien für einen Friedensschluss mit Russland stellen den Präsidenten nach Einschätzung vonKlitschkovor große Schwierigkeiten. [...] „Wird er den Krieg mit neuen Toten und Zerstörung fortsetzen oder einen territorialen Kompromiss mit [...] Putin in Betracht ziehen?“, fragteKlitschko.„Wie auch immer er sich entscheidet, unser Präsident riskiert politischen Selbstmord.“ Beide Szenarien könnten ihn in Erklärungsnot bringen.Insbesondere mögliche territoriale Zugeständnisse, die einen Gebietsabtritt an Russland zur Beendigung des Krieges vorsehen würden, könnten den Ukrainern nur schwer zu vermitteln sein.„Wie soll er dem Land und den Menschen erklären, dass es notwendig ist, Teile unseres Territoriums aufzugeben,die Tausende unserer kämpfenden Helden das Leben gekostet haben?“, soKlitschkoweiter《

    shorturl.at/MtIhh (21. Juli 2024 16:40)

    Ein eisernes 'the war must go on' ist, "Freibrief" hin oder her, jedenfalls keine Alternative, die die konkret die Menschen im Blick hat, weiteres Sterben in der Ukraine verhindern kann.

  • "wenn eine Kapitulation am Anfang steht."

    Das sind ja noch nicht Mal die russischen Maximalförderungen in denen Russland 4 Provinzen fordert.



    Um Kapitulation geht es doch gar nicht. Leidet werden Verhandlungen und Kapitulation oft gleich gesetzt.



    Wenn Selenski vorsichtig seine Position ändern sollte, sollte man ihn darin bestärken und nicht kritisieren.



    Es wird wahrscheinlich keinen militärischen "Sieg" geben und die Verhandlungsposition der Ukraine wurde innerhalb der letzten Jahre konstant schwächer.



    Wer immer noch primär auf die militärische Karte anstatt auf Dialog zu setzen, sollte sich vielleicht genauer mit den Grauen des Krieges beschäftigen.

    • @Alexander Schulz:

      Sie sollten die russischen Forderungen schon kolplett lesen und deuten:

      Diese vier Oblaste nehmen der Ukraine wesentliche Agrarfläschen und Industriezentren und schneiden sie vom Schwarzen Meer ab.



      Das ist die wirtschaftliche Eliminierung

      darüber hinaus fordert Russland dass die ukrainische Armee auf eine symbolische Größe verkleinert wird und alle schweren Waffen abgibt.



      Das ist die militärische Eliminierung.

      Außerdem noch einen Regierungswechsel.



      Das ist die politische Eliminierung.

      Danach kann Russland in der Ukraine im rahmen der Nachbarschaftshilfe schalten und walten wie es will.

      Nur weil das Wort Kapitualtion nicht in den russischen Forderungen auftaucht heißt das nciht, dass es nicht doch auf etwas Äquivalentes hinausläuft.

      • @metalhead86:

        Ich habe natürlich die Bündnisfreiheit, aka Anschlussverbot für die Ukraine vergessen. Natürlich nur gen Westen.

        Das wär die sicherheitspolitische Eliminierung.

        • @metalhead86:

          Ich verstehe Ihre Bedenken. Natürlich könnte man das so wie Sie es interpretieren als Kapitulation-Verhandlungen bezeichnen. Wenn man aber die letzten Verhandlungen als Maßstab nimmt tauchen eben erwähnte Punkte von Ihnen gar nicht auf.



          Ob die Verhandlungen am Ende erfolgreich hätten sein können ist Spekulation, aber da inzwischen alle Dokumente zugänglich sind, kann man einen Eindruck davon kriegen wie zukünftige Verhandlungen aussehen könnten:

          www.nzz.ch/interna...beenden-ld.1827138

  • Der Westen pennt halt und hofft dass die Gebietsabtretungen Putin reichen.

    • @schnarchnase:

      Leider ja.



      Der Westen, und insbesondere Deutschland, hat keine Strategie, keinen Plan und weiss nur, wovor er Angst hat.



      "Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren" ist keine positive Perspektive.



      Wir müssen auf die Zerschlagung Grossmoskowiens hinarbeiten. Mit diesem Land werden wir die nächsten 50 Jahre allenfalls temporäre Waffenstillstände erreichen, aber keinen Frieden.



      Wenn Russland diesen Krieg verliert, ist es vom Zerfall bedroht. Ende der Sowjetunion 2.0.



      So unbequem es ist, sich auf mehrere instabile Nachfolgestaaten einzustellen: es führt kein Weg daran vorbei.

      • @Carsten S.:

        Ein auseinanderbrechen Russlands wäre für Deutschland ein 6er im Lotto. Man könnte billig Fachkräfte anwerben die dem Chaos zu entfliehen suchen. Die entstehenden Kleinstaaten würden natürlich gerne schnell Handelsabkommen schließen und das Chaos würde Russland militärisch dauerhaft ausschalten was dann dazu führt das Deutschland weniger für Rüstung ausgeben muss.