Umgang mit J.D. Vance: Plattitüden statt Analyse
Ja, das neoliberale Projekt führt zu einer auch geistigen Gewalttätigkeit. Das entbindet uns aber nicht davon, J. D. Vance ernst zu nehmen.
In diesem Monat gab es zwei große Ereignisse im Leben des J. D. Vance. Er wurde als Kandidat für den Posten des Vizepräsidenten an der Seite von Donald Trump auserkoren, und sein deutscher Verlag verlängerte die Lizenz für sein Buch „Hillbilly-Elegie“ nicht. Zur Begründung gab der Ullstein Verlag an, Vance vertrete inzwischen „eine aggressiv-demagogische, ausgrenzende Politik“. Weswegen – so vermutlich die Logik – seine Memoiren auszugrenzen seien.
Das ist töricht und wäre belanglos, würde es nicht eine Entwicklung im politischen Diskurs repräsentieren, die zum Haareraufen ist. Hauptsache große Geste und deftige Plattitüde. Dämonisierung als magische Waffe, die den Gegner auf Distanz halten soll. Damit ist es getan. Wer braucht schon Erkenntnis und Verständnis.
Die lesenswerten Memoiren des J. D. Vance sind keineswegs literarische Botschaften aus einem früheren Leben, in dem dieser junge Senator noch nicht aggressiv und demagogisch war, sondern ein psychologischer Einblick in die Ressentiments und Frustrationen einer Bevölkerungsschicht, die auf beiden Seiten des Atlantiks selten sichtbar und noch seltener zu hören ist: des Prekariats. Anstatt über das Erstarken der Rechten nur zu jammern, könnte man anhand solcher authentischer Erzählungen über diese Menschen und ihre politische Mobilisierung nachdenken.
Schon früh in „Hillbilly-Elegie“ offenbart sich eine Verknüpfung aus Forderungen nach sozialem Ausgleich und einer tiefen Abscheu vor individueller Verantwortungslosigkeit und Faulheit. Das ist keineswegs neu, im Gegenteil: Diese Haltung war ein zentrales Element der New-Deal-Reformen von Franklin D. Roosevelt.
Soziale Unterstützung wurde damals nicht als staatliches Almosen verstanden, sondern als Entlohnung für harte und gesellschaftlich relevante Arbeit. „Die Politik meiner Großmutter“, schreibt Vance, „war eine Art Hybrid aus linker Sozialdemokratie und rechter Selbstverwirklichung, und beide Weltanschauungen haben ihre Berechtigung.“ Sein Fazit: Die Widersprüche in den USA können nicht allein durch bloße individuelle Anstrengungen überwunden werden, es braucht politische Maßnahmen.
Mediale Obsession mit Vance bietet wenig Erkenntnis
Diese nationalkonservative Befürwortung des New Deal stellt einen wichtigen Unterschied zu den klassischen Republikanern dar, die sich seit Ronald Reagan für wenig Regierung, Laissez-faire-Wirtschaft und Freihandel eingesetzt haben. Diese Politik, so Vance, habe zur Deindustrialisierung geführt, zu maroden Städten im Rust Belt, zur Zerstörung sozialer Bindungen, zu Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung in dortigen Gemeinden, die durch die Opioidkrise verschlimmert wurde.
Angesichts solcher inhaltlichen Verschiebungen innerhalb der Grand Old Party ist die mediale Obsession mit dem Opportunismus von J. D. Vance – von „never Trump“ zu „immer wieder Trump“ – wenig erkenntnisreich.
Zynischer Karrierismus ist der Politik eingeschrieben. So beschrieb etwa der Bürgerrechtsaktivist Jesse Jackson einst Bill Clinton: „Ich werde vielleicht mit ihm arbeiten können, jetzt da ich weiß, wer er ist und was er ist. Es gibt nichts, was dieser Mann nicht tun würde. Er kennt keine Scham. Wenn man das schöne Getue zur Seite schiebt und sich in ihn hineinversetzt, findet man absolut nichts … nichts als einen großen Appetit.“ Selten ist der Drang zur Macht besser beschrieben worden.
Als 2016 Trump gewählt wurde, hatte die Ungleichheit ein Niveau erreicht wie seit den 1920er Jahren nicht mehr
Interessant ist die Frage, wofür Vance politisch steht. Denn wie Trump instrumentalisiert er die legitime Unzufriedenheit über eklatante soziale Missstände, für die nicht eine bestimmte Partei, sondern das System als Ganzes verantwortlich ist. Die beiden großen Parteien haben gemeinsam jahrzehntelang die Wall Street dereguliert und nach der Finanzkrise 2008 mit Milliarden von Dollar gerettet, während Hauseigentümer weitgehend sich selbst überlassen blieben.
Angestellte und Arbeiterinnen erhielten einen schrumpfenden Anteil an den von ihnen erwirtschafteten Gewinnen. Und das Finanzkapital floss immer mehr in spekulative Vermögenswerte. Als 2016 Trump gewählt wurde, hatte die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen ein Niveau erreicht wie seit den 1920er Jahren nicht mehr (kurz vor dem New Deal).
Wertschätzung für die Abgehängten!
Hinzu kommt das Gefühl vieler Menschen, insbesondere solcher ohne Hochschulabschluss, dass ihre Stimme nicht gehört und ihre Arbeit nicht respektiert wird und die Eliten (welche allerdings stets nebulös definiert werden) auf sie herabblicken. Denn wirtschaftliche Weichenstellungen entscheiden nicht nur über die Verteilung von Einkommen und Vermögen, sondern auch über Anerkennung und Wertschätzung.
Um die Unterstützung solcher Wählerinnen zurückzugewinnen, müssten die etablierten Parteien endlich anerkennen, dass das neoliberale Projekt ein soziales und ökologisches Desaster verursacht hat. Enorme Gewinne für einige wenige sowie stagnierende Löhne, Inflation und unwürdige Arbeit für viele sind einige der Folgen.
Eine derartige Lebenssituation führt zu Wut und einer (nicht nur) geistigen Gewalttätigkeit, die sich menschenverachtend äußert. Das entledigt uns aber nicht der Aufgabe, die spezifische politische Identität von Personen wie Vance zu analysieren und zu begreifen.
Rod Dreher, einer der Gurus von J. D. Vance, fasst die neue konservative Strömung so zusammen: „Der moderne Konservatismus hat sich zu sehr auf Geld, Macht und die Anhäufung von Gütern konzentriert und sich zu wenig mit der Essenz des menschlichen Wesens, als Individuum wie auch als Gemeinschaft, befasst. Große Unternehmen müssen ebenso kritisch betrachtet werden wie große Regierungen. Kultur ist wichtiger als Politik und Wirtschaft. Schönheit ist wichtiger als Effizienz.“
Da ist manches enthalten, was das Nachdenken lohnt – so aggressiv-demagogisch J. D. Vance im Wahlkampf auch krakeelt.
Leser*innenkommentare
hamann
Wenn nur einmal erklärt würde, was die leeren buzzwords 'Stimme hören', 'Anerkennung' und 'Wertschätzung' nun konkret bedeuten sollen...
tomás zerolo
Ja. Und nein.
Her Trojanow, ich bin ja ein Fan von Ihnen.
Was Sie über das neoliberale Projekt schreiben, schrieb schon Karl Polányi... 1944 über das liberale. Neu ist das also nicht.
Einen Autor aus einem Verlag zu kicken ist so änlich, wie eine Statue in den Fluss zu werfen [1]. Auch Letzteres kann nicht eine grundsätzlichere Debatte ersetzen -- und alle Statuen will mensch auch nicht im Fluss haben.
Aber manchmal muss das halt eben sein.
Sie haben aber Recht: Trump und Vance sind nur die Clowns (und Höcke und...). Das Problem geht tiefer.
[1] taz.de/Kolonialist...-Bristol/!5688278/
maria2
Vance gibt schon genug Einblicke in seine eigenen Ressentiments in seinen Wahlkampfreden. "Kinderlose Katzenfrau" war das erste, was er in Richtung Kamala Harris zu sagen hatte. Abgesehen davon, dass diese Bemerkung eine Unverschämtheit a la Trunmp ist, outet sie Vance als das, was er ist: Ein frauenfeindlicher alter Mann, der mit 39 (!) die Welt mit seinen Memoiren vermüllt. "Rod Dreher, einer der Gurus von J. D. Vance..." Nur weil jemand behauptet, er habe einen "Guru", einen Lehrmeister und nachplappert was dieser sagt, bedeutet das nicht, dass er diesen auch wirklich v e r s t e h t.
maria2
"Da ist manches enthalten, was das Nachdenken lohnt – so aggressiv-demagogisch J. D. Vance im Wahlkampf auch krakeelt." Es gibt genug Bücher und große Denker+innen, die sich lesen lohnen und die nicht hinter einem wahnsinnigen Autokraten, der Trump ja sein will, herlaufen. Wenn Vance sich an diesen in absolut jeder Hinsicht unappettilichen Mann verkauft, muss man ihn nicht lesen. Seine Wahlkampf- reden bisher reichen. Ausschließlich krudes Zeug und - wie sein Chef in spe eine Menge Lügen.
JK83
@maria2 Ich glaube sie liegen sehr falsch. Gerade weil er nahe der Macht ist, vielleicht Einfluss entfalten könnte und ggf. sogar der nächste Präsident werden könnte, sollte man das nicht ignorieren. Ausserdem war eine große aufklärerische Errungenschaft Moral/Tugend von Personen und deren Ansichten/Argumente/Wissen zu trennen. Das erklärt sich tatsächlich bei kurzem Nachdenken selbst, andernfalls finden sie dazu genug klassische Lektüre. Hinter diesen Standard aber fallen sie zurück.
Zuletzt stimme ich Trojanov völlig zu, dass die Zustandsbeschreibung und Hineinversetzung in einen sehr großen Teil der amerikanischen Wähler, die sich abgehängt fühlen und es objektiv häufig auch sind, wertvoll für die Zukunft eines liberalen demokratischen Staates ist und vielleicht sogar eine Notwendigkeit. Und das übrigens gilt auch für alle anderen westlichen Demokratien, in denen wegen der technologischen Entwicklung, der Wirtschaftspolitik und der etablierten Strukturen der letzten 4 Jahrzehnte auch weite Schichten von im Stich gelassenen, abgehängten, desavouierten Menschen leben.
Günter Picart
Heute im Radio wurde erklärt, dass Vance vor allem viel Unterstützung aus dem Silicon Valley bekommt, als Vertrauter von Peter Thiel und weil er selbst Techunternehmer geworden ist. Diese amerikanischen Techriesen und ihre Milliardäre brauchen Zugänge zur Politik, und Vance wäre eine Tür zur Regierung. Das könnte das früher demokratisch dominierte Silicon Valley auf Trumps Seite ziehen.
Am Anfang hieß es, Trump hätte seinen Vize schlecht ausgewählt, weil er dieselben Wählerschichten wie er selbst anzieht und keine Wechselwähler mobilisieren könne. Mit dieser Silicon-Valley-Verbindung steckt aber vielleicht doch mehr dahinter.
Stavros
Ein sehr treffender Kommentar.
Einige Anmerkungen:
1. Das neoliberale Projekt ist seit über 40 Jahren die Geißel der Welt. Heute ist es die Ursache für den Verfall des sogenannten "Westens". Die neoliberale Revolution frisst ihre Kinder. Aber tut sie das wirklich?
2. Deutschland befindet sich in derselben Abwärtsspirale wie die USA, nur ein paar Jahre hinterhertaumelnd.
3. Keine unserer Parteien mit Aussicht auf Regierungsverantwortung macht irgendwelche Anstalten, Alternativen zum Neoliberalismus zu entwerfen. Im Gegenteil: Ständig werden neue Krisen herbeigeredet, um noch mehr des alten Gifts verschreiben zu können.
4. Wenn die Protagonisten des Neoliberalismus offensichtlich bereit sind, die Zukunft ihrer Länder aufs Spiel zu setzen, sind hier sehr starke Zwänge am Werk.
5. Das Schiff wieder flott zu machen, ist ziemlich einfach: Menschen müssen vernünftig entlohnt und würdig behandelt werden, man muss für gute Bildung und Aufstiegschancen sorgen, soziale Ungleichheiten müssen abgemildert werden. Kurz: Der Staat muss eine aktive Rolle spielen.
Alle wissen das, die Rezepte sind da, die Frage ist nur, warum sie nicht angewandt werden.
Nansen
"Um die Unterstützung solcher Wählerinnen zurückzugewinnen, müssten die etablierten Parteien endlich anerkennen, dass das neoliberale Projekt ein soziales und ökologisches Desaster verursacht hat. Enorme Gewinne für einige wenige sowie stagnierende Löhne, Inflation und unwürdige Arbeit für viele sind einige der Folgen."
Wer glaubt wirklich, dass Scholz, Lindner, Habeck, Merz und co sich vom Pampern der Reichen freiwillig verabschieden würden?