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Antisemitismus in BerlinLuft anhalten und untertauchen

In Berlin fühlt sich unsere Kolumnistin nicht mehr wohl. Bei antisemitischen Angriffen würde den Juden hier niemand beistehen. Nicht so in Frankfurt.

Frankfurt/Main, 23. November 2023: Solidaritätskundgebung für Israel Foto: Wolfgang Cezanne/Zoonar/imago

G anz sicher war ich mir nicht, ob ich mit diesem Thema eine ganze Kolumne füllen könnte. Ob das überhaupt ein Thema war oder nur meine eigene Paranoia. Aber da saß ich nun, mir gegenüber eine gute Freundin und vor mir, auf dem Tisch, ein viel zu großes Stück koschere Napoleon-Torte, das sie für uns gekauft hatte.

Ich stocherte in der Puddingfüllung herum und erzählte davon, wie schwer es mir mittlerweile fiel, Berlin zu ertragen, wie genervt, manchmal auch verängstigt ich war. Verängstigt, weil der Israel- und Judenhass die Häuserwände und Straßen überschwemmt, und genervt von den sich politisch inszenierten Deutschen, die sich ihre Kufijas stylisch als bauchfreies Top binden oder lässig über die Schulter werfen.

„In der Bahn hat sich eine Frau über den Krieg in der Ukraine ausgelassen“, erzählte meine Freundin. „Man könne ja gar nicht wissen, was dort passiere, Selenskyi sei ja auch Jude und habe deshalb ein zionistisches Denken.“ Niemand habe der Frau widersprochen, auch meine Freundin nicht, dabei hätte sie gern. „Aber“, erklärte sie, „ich habe Angst, dass mir etwas passiert, wenn ich den Mund aufmache.“

Ich weiß, dass wir beide an das jüdische Pärchen denken, das in Berlin aus einem israelfeindlichen Autokorso heraus angegriffen und bespuckt worden war. 10 bis 15 Menschen sollen die beiden angeschrien und gefilmt haben; der Mob soll dem Paar sexuelle Gewalt angedroht und Bezug auf die Taten der Hamas an israelischen Frauen genommen haben.

„Es ist, als ob ich mich langsam auflöse in dieser Stadt“, sagte meine Freundin noch. Weil sie sich wegducke, versuche, nicht aufzufallen.

In Frankfurt ist es anders

Neulich war ich in Frankfurt, und plötzlich überkam mich zum ersten Mal seit Monaten das Gefühl von innerer Ruhe. Fast so, als hätte ich die ganze Zeit über die Luft angehalten und in Frankfurt zum ersten Mal nach viel zu langer Zeit tief eingeatmet und wieder aus.

In Frankfurt kenne ich nur den Hauptbahnhof, ein paar Hotels im Bahnhofsviertel, die Wohnungen einiger Freundinnen und die jüdische Gemeinde. Auch in Frankfurt wird es Antisemiten geben, deutsche Kufija-Stylos, Uber-Fahrer mit „Free Palestine“-Aufklebern oder solche, auf deren Smartphones Terrorvideos laufen, ganz so wie in Berlin, während sie viel zu schnell durch die Straßen rasen.

Ich habe sie – zu meinem Glück – dort bislang nicht getroffen, stattdessen habe ich eine Offenheit erlebt, die ich aus Berlin nicht kenne, und Taxifahrer kennengelernt, die mich kommentarlos vor der jüdischen Gemeinde einsammelten, weil diese so viel selbstverständlicher zur Stadtgesellschaft dazu gehört, als ich es in Berlin wahrnehme.

„Leute, wo seid ihr?“, so war ein Text von Dana Vowinckel überschrieben, den sie nur wenige Wochen nach dem Terrorangriff der Hamas geschrieben hat. Eine schockierte, fast schon verzweifelte Anklage an ihr Umfeld, das nach dem 7. Oktober lieber schwieg, als sich nach ihr zu erkundigen. Ich weiß nicht, ob Dana diesen Satz heute noch in die Welt ruft. Für mich schwebt er seit Oktober immer noch über Berlin, über unseren Leben.

Leute, wo seid ihr, wenn Juden bespuckt und angegriffen werden? Leute, wo seid ihr, wenn antisemitische Verschwörungstheorien in der Bahn ausgebreitet werden? Hallo, ist da noch wer?

Jeden Tag wäge ich ab: ich selbst sein und Gefahr laufen, bespuckt oder ins Gesicht geschlagen bekommen, oder unauffällig bleiben. Meistens entscheide ich mich für Letzteres, lasse Davidsternkette und andere Symbole zu Hause, weil ich mit dieser Anspannung nicht umgehen kann.

Fast noch schlimmer als die Sorge vor Angriffen ist das Gefühl, dass da niemand wäre, der einschreiten, sich schützend vor dich stellen würde. Je mehr Zeit vergeht, wird dieses Gefühl zur traurigen Gewissheit, auf sie folgt die Einsamkeit.

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Erica Zingher
Autorin und Kolumnistin
Beschäftigt sich mit Antisemitismus, jüdischem Leben, postsowjetischer Migration sowie Osteuropa und Israel. Kolumnistin der "Grauzone" bei tazzwei. Beobachtet antidemokratische Bewegungen beim Verein democ. Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus 2021, Kategorie Silber. Freie Podcasterin und Moderatorin.
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10 Kommentare

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  • Es ist erschütternd.



    Seit dem 7. Oktober verstehe ich die Welt nicht mehr. Ich hatte echt gedacht, dass nach diesem grauenhaften Massaker nun wirklich jedem die Augen geöffnet wurden, mit was für einem Mörderpack man es bei der Hamas zu tun hat.



    Das Gegenteil ist der Fall... da wird nicht nur fleißig relativiert und von "Kontext" gequatscht, da feiert offener Antisemitismus fröhliche Urständ.



    Ich fasse es einfach nicht.

  • Berlin ist ganz grundsätzlich eine Stadt, in der sich Menschen selten kümmern. Weder um die Stadt selbst, noch um ihre Mitmenschen. Die angebliche Toleranz und Offenheit ist oft nichts anderes als Gleichgültigkeit.

    • @Suryo:

      Bei 3,x Mio. Menschen ist eine gewisse Form der Gleichgültigkeit wohl Überlebensnotwendigkeit. Nur im 10-Leute-Dorf kann ich mich jeden Tag um alle davon sorgen.



      Dennoch sträubt sich etwas in mir gegen Generalisierungen wie solche.



      Und es hätte alles Vor- und Nachteile. Soziale Überkontrolle hilft womöglich beim sozial besseren Verhalten. Gleichgültigkeit womöglich dabei, den Zeigefinger nur bei wirklich Wichtigem einzusetzen.

  • "Je mehr Zeit vergeht, wird dieses Gefühl zur traurigen Gewissheit, auf sie folgt die Einsamkeit."

    Ich denke oft darüber nach, wie sich jüdische und/oder israelische Menschen in Berlin, Deutschland und überall auf der Welt fühlen. Wie diese, in Anbetracht der Weltbevölkerung, winzig kleine Minderheit, die seit Jahrhunderten überall angegriffen, verfolgt und ermordet wird, so viel Hass auf sich ziehen kann. Ich finde keine Erklärung dafür und kann es in keinster Weise nachvollziehen.

    Zumindest in Deutschland, davon war ich fest überzeugt, würden jüdische und/oder israelische Menschen immer einen Hort der Sicherheit, eine Heimat und Zuflucht finden; das hielt ich bei unserer Geschichte für selbstverständlich. Dass Deutschland dies nicht ist und jüdische Menschen auch hier wieder verfolgt und angegriffen werden, hatte ich nicht erwartet und bin froh, dass sich bisher der Großteil unserer Politiker noch gegen diesen furchtbaren Antisemitismus stemmt.

    • @*Sabine*:

      Ein Land, das einige Jahre von unten und 12 Jahre von oben professionell aufgehetzt worden war?



      Ein Land, in dem Synagogen seit 1945 Polizeischutz am Sabbat haben?



      In dem immer rechtsextreme Parteien mehr oder weniger versteckt ihre Sprüche und Handlungen starteten?

      Dass wir vielleicht sogar ein bisschen mehr als bei anderen Abwertungen aufgrund von Herkunft, Religion o.ä. darauf achten sollten und fürs Richtige einstehen, mag stimmen. Es würde mich freuen. Aber mit der Realität übereinstimmen tut es nicht.

      Irgendeine Minderheit bekommt es immer drauf. Gäbe es keine Juden, wären es Muslime, Baha'i, BMX-Fahrer, körperlich Beeinträchtigte, Sinti, ...



      So kann sich eine angeblich "normale" Mehrheit scheinbar besser fühlen.

      • @Janix:

        "Irgendeine Minderheit bekommt es immer drauf. Gäbe es keine Juden, wären es Muslime, Baha'i, BMX-Fahrer, körperlich Beeinträchtigte, Sinti, ..."

        Die Besonderheit und das meiner Meinung nach traurige und verabscheuungswürdige "Verfolgungs-Alleinstellungsmerkmal" bei jüdischen/israelischen Menschen sehe ich in der jahrhundertelang andauernden Verfolgung und dies gleichzeitig und überall auf dieser Welt.



        Für die meisten von Ihnen genannten Gruppen gibt es Nischen und/oder Länder, in denen sie nicht verfolgt werden, für jüdische/israelische Menschen nicht.

        Wie ich schon mehrfach deutlich gemacht habe, kann ich das weder verstehen noch nachvollziehen. Zumal, wenn es korrekt ist, dass 22% aller Nobelpreisträger jüdisch/israelisch sind bzw. einen jüdischen/israelischen Elternteil haben. Und das, obwohl jüdische Menschen nur 0,2 % der Weltbevölkerung ausmachen. Da könnte "der Rest der Welt" eher mal "danke" sagen, statt jüdische/israelische Menschen mit Ablehnung und Hass zu verfolgen.

  • Die Zweifel waren völlig unberechtigt. Es ist ein wichtiges Thema und keine Paranoia. Bleibt zu hoffen, dass auch diejenigen ihn lesen, die dem Thema bisher gleichgültig gegenüberstanden oder gar kein Verständnis für die Sorgen der jüdischen Bürger in Deutschland aufgebracht haben.

  • Ich kann Sie gut verstehen, Frau Zingher.



    Bei eier Veranstaltung, bei der ein junger Israeli, gestosden wurde von fahnenschwingenden Idioten, bin ich dazwischengegsngen. War en Reflex. Ich weiss nicht, was passiert wäre, wenn nicht Security vor Ort gewesen wäre.



    Muslime halten mich für eine Jüdin. Entspreche wohl den Sterotypen. Das hat in unserem Haus dazu geführt, dass die muslimische Familie vor meiner Tür stinkende Flüssigkeiten ausgeschüttet hat. Feuerwehr und Polizei kam, da der Gestank fürchterlich war.



    In der Nachbarschaft und den Nachbarn wurde das Gerücht verbreitet, ich würde nicht richtig putzen und seltsame Dinge in der Wohnung tun.



    Ein Nachbar hat sie dann beim ausschütten der Flüsdigkeit erwischt. Sie sind dann in einer Nacht und Nebel Aktion ausgezogen.



    Ich hatte nicht den Mut sie anzuzeigen.



    Mir hat damals fie Beratungsstelle in Berlin sehr geholfen. Die TAZ hatte einen Bericht über diese Anlaufstelle gebracht.



    Alles Gute für Sie!

  • "Fast noch schlimmer als die Sorge vor Angriffen ist das Gefühl, dass da niemand wäre, der einschreiten, sich schützend vor dich stellen würde. Je mehr Zeit vergeht, wird dieses Gefühl zur traurigen Gewissheit, auf sie folgt die Einsamkeit."

    Das ist eine fürchterliche Erkenntnis und fasst das komplette Versagen der "Zivilgesellschaft" in einem Satz zusammen.

    Ein jüdischer Journalist, der Deutschland 1945 bereiste, war von der Kälte und der Gleichgültigkeit der Menschen fast genauso erschüttert wie vom eigentlichen Geschehen.

    Sonntagsreden über tote Juden, viel mehr ist in Deutschland nicht drin.

    Ich möchte mich bei Frau Zingher dafür bedanken, dass sie uns trotz alledem an ihrem Leben und ihren Gefühlen teilhaben lässt.

  • Was? Niemand etwas gesagt? Schande. Wenigstens deutlich räuspern, wenn man Sorge um Eskalation hat, und selbst, wenn jemand da unrettbar geisteskrank war!



    Putins Antisemitismus-Videos haben Widerstand verdient.

    Ist es ok, wenn ich diese selbstverständliche Solidarität und zugleich Kritik an Israel gleichzeitig übe? Beides habe ich gelernt: Zusammenstehen und universale Menschenrechte.