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Rätsel um Putschversuch in BolivienWas war das denn?

Versuchter Putsch? Aufstand? Theater? Die Ereignisse in Bolivien, die mit der Festnahme des Oberkommandanten enden, werfen Fragen auf.

Gescheitert: Boliviens General Juan José Zúñiga nach seiner Festnahme in La Paz Foto: Claudia Morales/reuters

Bogotá taz | General Juan José Zúñiga galt als jemand, der Boliviens Präsidenten Luis Arce nahe steht. Schließlich hatte der ihn zum Kommandanten der Streitkräfte ernannt. Am Mittwoch wurde der General als mutmaßlicher Anführer eines versuchten Militärputsches festgenommen. Wie das zusammenpasst und was nun wirklich passiert ist an diesem Mittwoch, darüber herrscht noch Rätselraten.

Schon den Vormittag über hatten sich Einheiten in Boliviens Regierungssitz La Paz zusammengezogen, hieß es später. Gegen 14 Uhr Ortszeit meldet Präsident Luis Arce auf Twitter „irreguläre Bewegungen einiger bolivianischer Militäreinheiten“. Gegen 15 Uhr sind sie dann im politischen Herzen von La Paz, der Plaza Murillo. Es ist völlig unklar, was die Militärs wollen. Klar ist, dass General Zúñiga sie anführt.

Seine erste Erklärung ist dürftig. Die Mobilisierung „aller Militäreinheiten“ (später zeigt sich, es ist nur ein Bruchteil) solle seine Unzufriedenheit zeigen mit der Situation im Land. „Noch“ gehorche er dem Präsidenten. Doch er werde das Kabinett umbauen, sagt er auf der Plaza Murillo.

Kurz vor vier rammt ein gepanzerter Wagen das Metalltor des Regierungspalasts. Immer wieder. Bis es nachgibt.

Den falschen Regierungssitz geknackt

Der Regierungspalast trägt einen weiteren Namen: Verbrannter Palast – weil er tatsächlich in den vielen Putschs in Bolivien verbrannt wurde. Anders als der Name vermuten lässt, ist er nicht mehr Regierungssitz. Präsident Evo Morales ließ in zweiter Reihe ein verspiegeltes Hochhaus bauen, das die historischen Gebäude der Plaza Murillo um ein Vielfaches überragt. In dieses „Große Haus des Volkes“ zog seine Regierung um und dort regiert auch die aktuelle. Nur Übergangspräsidentin Jeanine Añez nutzte den Regierungspalast noch einmal. Heutzutage steht davor die historische Garde und lässt sich von Tou­ris­t:in­nen fotografieren, ab und an dient er zu repräsentativen Zwecken – aber sonst ist er praktisch leer.

Warum der General es erst mit dem gepanzerten Wagen aufbrechen lässt, dann mit etwa 40 Soldaten einmarschiert und kurz darauf wieder herauskommt, ist ein Rätsel. Wegen des Symbolcharakters? Arce ist dort jedenfalls nur für Staatsakte. Wenn Zúñiga ihn stürzen wollte, war er an der falschen Adresse mit seinem Panzerwagen.

Dann wartet der General auf dem Platz – vermutlich auf den Präsidenten. Der Livestream aus der Nachbarstadt El Alto zeigt eine endlose Reihe von Panzern, die auf einer mehrspurigen Straße im Stau stecken – wohl auf dem Weg nach La Paz als Verstärkung. Auch aus Oruro nähern sich Panzer auf der Autobahn. Während internationale Solidaritätsbekundungen eintrudeln, von der Organisation Amerikanischer Staaten, der EU, den Präsidenten aus der Region, der Ombudsstelle des Volks.

Schwenk zu Präsident Luis Arce. Vor einer Glasfront im Großen Haus des Volks spricht er zur Nation. Zweireihig umringt von all seinen Mi­nis­te­r:in­nen und dem Vizepräsidenten. Das Personal hat da längst den Regierungssitz verlassen. „Wir rufen das bolivianische Volk auf, sich zu mobilisieren und Ruhe zu bewahren. Zusammen werden wir jeden versuchten Staatsstreich besiegen“, sagt Arce.

Steckt die Ultrarechte hinter dem Putschversuch?

Schnitt auf den Platz. Der General spricht zu den Medien und sagt zum ersten Mal konkreter, was er will: „Die wahre Demokratie wiederherstellen“ und die „sofortige Befreiung aller politischen Gefangenen“. Konkret nennt er: die ehemalige Übergangspräsidentin Jeanine Añez und den ehemaligen Gouverneur von Santa Cruz Luis Fernando Camacho – beide ultrarechte, bibelschwingende Schlüsselfiguren in den blutigen Monaten um den Rücktritt von Evo Morales 2019. Steckt hinter Zúñiga also die Ultrarechte und die Agrarlobby aus Santa Cruz?

Doch weder Áñez noch Camacho wollen sich offensichtlich von Zúñiga befreien lassen. Beide twittern aus dem Gefängnis (anscheinend hat man ihnen das Handy gelassen), dass sie die Geschehnisse auf der Plaza verurteilen und die Demokratie verteidigen.

Dann kommt das nächste Bild für die Geschichtsbücher: Präsident Arce taucht dann doch im Tor des Regierungspalasts auf, steht Zúñiga gegenüber, ganz nah, um sie herum Militärs und Journalisten, es ist eng. Es ist kein Wort zu verstehen, im Fernsehen heißt es, Arce solle Zúñiga aufgefordert haben, zu verschwinden mitsamt der Militärs. Stunden später veröffentlicht die Zeitung El Deber den angeblichen Wortlaut. Ein Geplänkel.

Die beiden trennen sich. Es ziehen noch mehr Bilder über die Liveübertragung, die Fragen aufwerfen. Der Platz in der Altstadt ist einfach abzuriegeln. Auf ihm sind gepanzerte Fahrzeuge, Soldaten, Militärpolizei, mit Tränengaswerfern und Schusswaffen. Trotzdem stehen da auf einmal auf dem Platz Arce-Anhänger:innen, die „Lucho, du bist nicht allein“ skandieren. Die meisten wohl von der wichtigsten Gewerkschaft COB.

Manche bekommen vom Putsch nichts mit und essen Eis

Es ist ein bizarrer Nachmittag. Im Fernsehen läuft möglicher Militärputsch. Bolivien wird zur Weltnachricht. Und ist gespalten. In das Drama auf dem Platz in La Paz, Menschen, die heulend vor dem Fernseher sitzen in Panik und kaum sprechen können. Die irgendwann loslaufen und panisch Lebensmittel einkaufen, Schlange stehen zum Geld abheben, tanken. Und andere, die vom Putschversuch im Stadtzentrum nichts mitbekommen und im Park in der Sonne Eis schlecken, wie Einheimische der taz am Telefon berichten.

Währenddessen ernennt Arce im Großen Haus des Volkes im Schnelldurchlauf drei neue Männer auf drei militärische Spitzenämter – darunter Zúñiga-Nachfolger José Wilson Sánchez. Der befiehlt den Militärs, sich zurückzuziehen. Nicht ohne zuvor zu sagen: „General Zúñiga war ein guter Kommandant und wir bitten ihn, nicht das Blut unserer Soldaten zu vergießen.“

Die Soldaten steigen tatsächlich umgehend in ihre Panzer und Busse und verlassen den Platz in Richtung Hauptquartier im Stadtteil Miraflores. Wohin Zúñiga verschwindet, bleibt zunächst ein Rätsel.

Die Fernsehkommentatoren wechseln vom Begriff „Putsch“ zu „Aufstand“ und schließlich „Wutausbruch“.

Putsch-Show, um Arce als starken Mann zu präsentieren?

Stunden später wird der General gefasst. Er hat sich nicht etwa per Hubschrauber ins Nachbarland Peru abgesetzt, wie man es von einem gesuchten Aufständischen vermuten würde. Nein, er ist, wie es sich für einen General gehört, im Hauptquartier.

Am Sonntag habe er sich mit dem Präsidenten getroffen, erklärt er bei seiner Festnahme den Medien, die live dabei sind. „Der Präsident sagte mir, dass die Situation beschissen (muy jodida) sei, dass diese Woche kritisch werde und es notwendig sei, etwas vorzubereiten, um seine Beliebtheit zu steigern.“ Also eine Putsch-Show, um Arce die Möglichkeit zu geben, sich als durchsetzungsfähiger Verteidiger der Demokratie zu inszenieren? Beweise dafür liefert Zúñiga nicht.

Zu später Abendstunde sagt Regierungsminister Eduardo del Castillo, dass neben Zúñiga noch Vizeadmiral Juan Arnez hinter dem Putschversuch gesteckt habe. Ihnen drohen Anklagen wegen Terrorismus und bewaffnetem Aufstand. Laut dem Regierungsminister wurden neun Menschen von Schusswaffen verletzt.

Wer steckt dahinter? War es alles eine Inszenierung der Rechten, die Präsident Arce als unfähig darstellen will? Von Arce selbst, der sich als starker Mann präsentieren will? Soll der Mittwoch die zersplitterte Partei MAS einen? Schließlich war Arces innerparteilicher Erzfeind Evo Morales einer der ersten, der den „Putsch“ verurteilte.

Oder – auch nicht neu in der bolivianischen Geschichte – ist einfach einem Militär die Macht zu Kopf gestiegen? Vermutlich werden das erst die kommenden Tage zeigen.

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5 Kommentare

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  • Dass normalerweise der Palacio Quemado leer steht und genau gestern Präsident, Vize und ausreichend wichtige Minister sich dort aufgehalten haben, war tatsächlich unser heutiger "Office-Talk" (Hier in Bolivien ein besser Stammtisch-Talk). Aber das war's dann auch. Über 2019 (und die Zeit davor) könnte ich ein ganzes Buch schreiben. Viele Grüsse aus La Paz. Florian

  • Die sogenannte bibelschwingende Ultrarechte sitzt seit Jahren im Gefängnis, landestypisch ohne Urteil und Prozess. Die Agrarlobby hat sich schon lange mit den MAS Regierungen arrangiert. Die einzig relevante politische Konfliktlinie ist seit geraumer Zeit die immer heftigere Auseinandersetzung zwischen der Evo-treuen und der regierungstreuen Fraktion des MAS, wobei keine der beiden Seiten sich die geringste Mühe macht, diesen Konflikt inhaltlich zu begründen. Sonst geht es Bolivien schlecht, weil an den Tankstellen der Treibstoff fehlt, keine Devisen zu erhalten sind, und auch jenseits des ewigen Versprechens vom bevorstehenden Lithiumboom und der Sojaproduktion im ehemaligen Regenwald keine Vorschläge für das Ende der Krise kommen. Ach ja, und die Kokainmafias gibt es auch noch...

    Die Idee, dass das Militär nach fast zwanzig Jahren von venzolanisch beratenen MAS Regierungen von "der Rechten" gesteuert ist, ist so absurd wie schon 2019. Diesmal haben nicht einmal Evos Leute die Rechte beschuldigt, obwohl sie das sonst immer tun. Aus dem fernen Bogotá müssen die Details natürlich verschwimmen, solange in dieser Farce noch ein wenig Klassenkampf unterzubringen ist.

    • @tore:

      "Die sogenannte bibelschwingende Ultrarechte sitzt seit Jahren im Gefängnis..."

      Ist doch ein guter Platz für eine Putschistin.

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Dabei handelt es sich nicht um eine Person, sondern um mehrere. Aber wenn Sie Añez meinen, dann zeigt die Tatsache, dass die höchst willige bolivianische Justiz mit diesen Prozessen nach Jahren nicht sehr weit gekommen ist, dass sich Ihr Urteil auf eine dünne Faktenlage stützt.

        Leider gibt es hier nicht viel Interesse an Ländern wie Bolivien, sondern nur daran, bräsige Gewissheiten zu wiederholen.

        • @tore:

          Die Faktenlage ist nicht schwierig. Sie hat sich vom Militär einsetzen lassen, nachdem es unbewiesene Vorwürfe der Wahlfälschung gab. Das nennt man Putsch.

          Später haben die Wähler anders entschieden.