Flucht in Gaza: Zwischen Müll und Trümmern schlafen
In Gaza spielt sich derzeit eine der größten humanitären Katastrophen ab. Nun müssen auch die Bewohner von Gaza-Stadt in andere Orte fliehen.
![Eine Familie mit Kindern auf der Straße mit Gepäck unterwegs Eine Familie mit Kindern auf der Straße mit Gepäck unterwegs](/picture/7115884/624/35784840-1.jpeg)
Aus dem Norden Gaza Geflüchtete bei ihrer Ankunft in Nuseirat am 11.07.2024 Foto: Ramadan Abed/reuters
JERUSALEM taz | Während in Deutschland über Haushaltskürzungen in der Entwicklungszusammenarbeit diskutiert wird, setzt sich in Gaza eine der größten humanitären Krisen fort. Nun sollen auch die Bewohner:innen sowie die Binnengeflohenen in Gaza-Stadt das Gebiet verlassen, in der Regel ein Anzeichen für bevorstehende israelische Militäreinsätze. Die „Evakuierung“ werde sich negativ auf die humanitäre Hilfe für die Menschen im Gazastreifen auswirkten, warnte Ocha, das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten.
Als temporäre Unterkunft weist das Militär Deir el-Balah sowie az-Zawaida an. Mindestens 75.000 Einwohner:innen hatte Deir el-Balah vor dem Krieg, az-Zawaida über 25.000. In Gaza-Stadt lebten mehr als 580.000 Menschen. Wie sie in den beiden Kleinstädten Platz finden sollen, lässt das Militär offen. Seit Kriegsbeginn sollen im Gazastreifen nach palästinensischen Angaben mehr als 38.000 Menschen getötet und mehr als 88.000 verletzt worden sein. Diese Angaben lassen sich derzeit nicht unabhängig überprüfen
Nach Angaben von Ocha, seien geschätzt neun von zehn Menschen in Gaza mittlerweile Binnengeflüchtete, auch wenn Medienberichte und Videos in den sozialen Medien nahelegen, dass manche Geflohene zumindest temporär wieder in ihre Häuser oder deren Überreste zurückgekehrt sind.
Andere mussten wiederum mehrfach fliehen: Ein Video in den sozialen Medien, das über 5.000-mal geteilt wurde, zeigt ein junges Mädchen, das ein hustendes Kleinkind im Arm hält. Mehr als zehnmal seien sie bereits weitergeflohen, sagt sie, den Tränen nahe: „Wir laufen weiter.“
Bereits vor wenigen Tagen rief das israelische Militär zur „Evakuierung“ von Teilen von Gaza-Stadt auf, nach Angaben von Ocha schlafen viele von ihnen nun zwischen Müll und Trümmern, ohne Matratzen und mit wenig Kleidung. Dass so viele Menschen nun auf einmal in die bereits überfüllten, vom israelischen Militär als solche ausgewiesenen Sicherheitszonen drängen, wird wohl auch die medizinische Versorgung dort weiter erschweren. Laut Ocha seien in Deir el-Balah derzeit drei Krankenhäuser teilweise operabel, dazu kommen etwa ein Dutzend Gesundheitseinrichtungen.
Lange Schlangen für Trinkwasser
Auch die Versorgung mit Trinkwasser bleibt im ganzen Gazastreifen angespannt. Bereits im Mai berichtete die BBC, dass mehr als die Hälfte aller Wasserspeicher und Reinigungsanlagen in ganz Gaza zerstört seien. Je mehr Menschen in die sogenannten humanitären Zonen flüchten, desto länger werden dort wohl die Schlangen, in die sich die Menschen laut verschiedener Medienberichte anstellen müssen, um Trinkwasser zu bekommen.
Auch Lebensmittel sind nicht ausreichend verfügbar: Nach Angaben von Cogat, einer dem israelischen Verteidigungsministerium untergeordnete Koordinierungsstelle für Regierungsaktivitäten in Gaza und dem Westjordanland, seien zwar am Mittwoch insgesamt 261 Lastwagen mit humanitären Gütern nach Gaza eingefahren. Doch laut Ocha seien schon seit einem Monat keine Lastwagen mit kommerziellen Gütern mehr eingetroffen. Und die humanitären Lieferungen enthielten meist Mehl und Dosenessen, aber kein Fleisch und frisches Gemüse. Außerdem bleibt die Verteilung der Güter schwierig – durch die Kampfhandlungen, aber auch weil immer wieder Lager ausgeraubt werden, wie verschiedene Medien berichten.
Nach Angaben von OHCHR, des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte, mehrten sich außerdem die Anzeichen für eine „Hungersnot im gesamten Gazastreifen“. Das legten die Tode mehrerer palästinensischer Kinder wegen Hungers und Mangelernährung nahe, berichtet eine von OHCHR zitierte Gruppe von Experten.
Leser*innenkommentare
aujau
Wer raubt die Lager der Hilfsgüter aus?
Herma Huhn
@aujau Das steht vermutlich nicht im Artikel, weil man es nicht mit Sicherheit sagen kann wer es war.
Als Verdächtige fallen mir da zwei Gruppen ein: Hamas-Angehörige, welche ihre Reihen stärken wollen, koste es was es wolle. Und verzweifelte Menschen, die sich nicht darauf verlassen, dass bei der offiziellen Verteilung für ihre Familien noch genug übrig ist.
Aber es kommt auf das gleiche raus: Diejenigen, die am dringendsten Hilfe brauchen, bekommen keine.
aberKlar Klardoch
@aujau Israelische Siedler überfallen Lastwagen, die dringend benötigte lebensrettende Güter wie Nahrungsmittel und Medikamente nach Gaza transportieren sollten, auf die insbesondere für hungernde und kranke palästinensische Kinder angewiesen sind.
Socrates
@aberKlar Klardoch Die Frage war, wer die Lager ausraubt, nicht wer die LKW auf dem Weg zum Gazastreifen angreift.
Im Übrigen war die letzte Meldung über einen derartigen Angriff isr. Aktivisten den ich zu finden vermochte noch vom Mai, über anderthalb Monate her. Inzwischen haben sich sogar andere Aktivisten bemüht die LKW vor solchen Angriffen zu schützen – anscheinend mit gewissem Erfolg:
www.forumzfd.de/en...nvoys-gaza-attacks
www.timesofisrael....ocking-aid-trucks/
Wenn es also jetzt noch Versorgungsprobleme gibt, wird es wohl kaum an derartigen Vorfällen liegen.
aberKlar Klardoch
@Socrates "Die Frage war, wer die Lager ausraubt, nicht wer die LKW auf dem Weg zum Gazastreifen angreift."
Ohne die Blockaden, die teilweise von der fanatisch rechtsradikalen israelischen Regierung aufrechterhalten werden, gäbe es diese Situation, in der Palästinenser hungern müssen, überhaupt nicht. Weder möglicherweise die Hamas noch andere Gruppierungen hätten einen Anreiz, diese Lager zu überhaupt zu plündern, wenn ausreichend Nahrung vorhanden wäre.
aujau
@Socrates Israelis stoppen andere Israelis beim Überfall auf Lastwagen mit Hilfsgütern.
Gibt es auch nur mal ein bisschen Kritik an den Palestinensern, die Hilfsgüterlager überfallen, von irgendwem? Nein? Warum überrascht mich das nicht?
aujau
@aberKlar Klardoch Sind die die Einzigen?
ToSten23
@aberKlar Klardoch Und israelische Standing Together hat die Siedler*innen daran gehindert. Es waren übrigens nicht nur Siedler*innen sondern auch Angehörige der Geiseln.
Hauptprobleme sind aber nicht diese, die eh nicht mal einen zweistelligen Prozentsatz an wöchentlichen Hilfslieferungen zu den krassesten Tagen abhalten konnten, auch war das Problem nicht die weniger als 1% abgelehnten Transporte an der Grenze nach Gaza, sondern die Situation in Gaza, also Verteilung, Plünderung, Hamas die Völkerrecht brechen durch agieren in geschützten Gebieten und ohne Uniform, aber sogar israelische Ingenieure beschossen haben, welche die Wasserleitungen in Gaza geflickt haben.
aujau
@ToSten23 Man könnte platzen.
Janix
Es ist leider nicht die einzige Hungersnot gerade, aber wohl die vermeidbarste.
Netanyahu geht für seinen Machterhalt eindeutig zu weit, gegen die Forderungen der Staatengemeinschaft und gegen das ius in bello.
Die Rolle Europas könnte also nun sein, darauf hinzuweisen und auch Militärlieferungen an Israel einzustellen. Die Ukraine kann gerade ohnehin dringend alles gebrauchen, um den Besatzer zu vertreiben.
ToSten23
@Janix Der aktuelle IPC Report hat klargestellt, dass der letzte ein zu düsteres Bild gezeichnet hat, es ist eben ein "Risk of", kein "What currently is". Die Gefährdungsstufen sind herabgestuft worden; anders als z.B. im Sudan, wo heraufgestuft worden ist.
Dort finde ich übrigens gilt "aber wohl die vermeidbarste" umso mehr, während Gaza auch vor dem 7. Oktober durch Misswirtschaft nicht in der Lage war genug Nahrungsmittel zu produzieren und gegen Produkte zu handeln ist im Sudan und Burkina Faso genügend Produktivkraft vorhanden gewesen. Dort muss die Internationale Gemeinschaft jetzt entschlossen eingreifen.
Im Jemen ist auf Grund des Krieges und der Folgen (islamische Milizen) die Hungersnot am um sich greifen, diese ist nicht einfach vermeidbar.
Meint das alles ist toll mit der Versorgungslage? Nein. Es gibt in Gaza große Probleme der Verteilungsgerechtigkeit, Hilfsgüter werden nach wie vor verkauft, statt den Bedürftigen zu geben, Regelmäßigkeit in Ernährungssicherheit ist anzustreben, aber mit den gesteigerten Volumen von Hilfslieferungen und der Unfähigkeit von UNRWA diese zu verteilen ist die Wahrscheinlichkeit von Hungersnot dennoch fiktiv.
Janix
@ToSten23 Einfach mal rascher die Lieferungen durchkontrollieren, diese hemmungslosen Siedler stoppen, auch dann wirklich sichere Korridore etc.
Das ist leider israelische Verantwortung, konkret Netanyahu & schlimmer, die wohl Sterben oder Vertreibung als gar nicht so schlimm empfinden, wenn man einzelne öffentliche Äußerungen betrachtet.
*Sabine*
@Janix Mein Eindruck ist eher, dass die Regierung in Gaza und ihre Unterstützer, ebenso die Befürworter des 07.10.23, "Sterben und Vertreibung" nicht so schlimm finden. Ich habe von diesen Leuten Zitate gelesen, die den Eindruck erwecken, als gäbe es noch einen anderen Blick auf den Tod, als den westlichen Blick.
In Bezug auf Vertreibung bin ich der Ansicht, dass es in Gaza sicherlich keine schöne Situation ist, aber die Vertriebenen im gleichen Land, sogar in der gleichen Region bleiben können, umgeben von ihren Familien und Menschen, die sie lieben, gleiche Sprache, Versorgung (wenn auch eingeschränkt), Internet, Handy, u.v.m.. Ich kenne erheblich furchtbarere Vertreibungsschicksale, auch in Hinblick darauf, dass ja diese Seite den Angriffskrieg begonnen hat.
Rudi Hamm
Es kann einfach nicht sein, dass das Volk dauernd von einem Ort zum anderen gescheucht wird, um dem Tod zu entkommen. Es ist eines zivilisierten Landes wie Israel nicht würdig, einen Krieg dieser Art zu führen. Auch und gerade nicht, wenn man was den Kriegsgrund betrifft im Recht ist.
Socrates
@Rudi Hamm Warum? Welche Alternativlösung schwebt Ihnen vor? Und warum wohl entscheidet sich Israel nicht für Ihre Alternativlösung?
Herma Huhn
@Socrates Ich wage mal zu behaupten, Israel würde internationale Hilfe erhalten, wenn es darum ginge, Gaza wiederaufzubauen.
Die Hamas muss weg, da sind sich wohl alle hier einig. Aber mit jedem getöteten Kind treibt man denen doch wieder zwei neue Kämpfer in den Rachen.
Die Menschen in Gaza brauchen etwas, dass es zu verlieren gilt, damit sie die Kraft erhalten, sich selbst gegen die Hamas zu stellen. Aber diesen Aufbau wird Israel niemals allein umsetzen können. Dazu sind die Fronten zu verhärtet.
Socrates
@Herma Huhn Ich verstehe Ihren Kommentar nicht.
Es ging um die Art der Kriegsführung, in dessen Folge Menschen mehrfach ihren Aufenthaltsort wechseln müssen, weil es mal hier, mal dort zu heftigen Kämpfen kommt.
Was hat Wiederaufbau damit zu tun?
ToSten23
"Nun müssen auch die Bewohner von Gaza-Stadt...fliehen"
Die Flucht der Bewohner von Gaza Stadt ist schon vor Monaten erfolgt. Dies hier ist ein erneutes Räumen des Gebietes auf Grund von Hamas Kampfhandlungen um die Sicherheit von sich selbst und ihren Kindern nicht unnötig zu gefährden.
Hamas könnte nach wie vor mit sofortiger Freilassung der Geiseln, Waffen Niederlegung und Führungsspitze ins Exil schicken den Krieg von heute auf morgen beenden.
Die Aufschlüsselungen von Cogat und ähnlichen zeigen übrigens was für Güter in den Gaza Streifen gelangen, auch haben sie Karten von vielen medizinischen Einrichtungen die im Gaza Streifen für den Konflikt eingerichtet worden sind. Innerhalb der letzten zwei Wochen ist auch mehr Babynahurng als innerhalb von 6 Monaten verbraucht wird ins Territorium gebracht worden, zusätzlich beträgt die Trinkwassermenge pro Person die nach diesen Angaben ins Gebiet kommt mehr als 20 Liter täglich.
Es gibt aber nach wie vor Plünderungen durch Hamas, ihre Verbündeten & Organisierte Kriminalität. Das sind Kriegsgewinnler*innen.
Imshin über Gazas Imbisse:
x.com/imshin/status/1807330266202919330
x.com/imshin/status/1810625349551579629