Film „Ein Schweigen“ über Missbrauch: Nicht mit der Sprache herauskönnen
Der Film „Ein Schweigen“ von Joachim Lafosse erzählt von einem belgischen Missbrauchsfall. Die Handlung bleibt angedeutet, die Kamera auf Distanz.
Mit einer Autofahrt eröffnet der Film. Von der Frau, die fährt, sieht man kaum mehr als die Augen im Rückspiegel, eine gezielte Indirektheit, das ist und bleibt die Methode des Films. Die Unruhe der Frau ist spürbar, sie ist unterwegs zu einem Polizeirevier.
Etwas Schreckliches ist geschehen, ihr Teenager-Sohn wurde verhaftet. Was genau da passiert ist, was dazu geführt hat und wer hier die Schuld woran hat, was also die Hintergründe der Tat sind und die Tat selbst – das alles bleibt lange so unklar wie das Leben auf der Straße, das die Kamera bei der Autofahrt in der Unschärfe hält.
Von diesem Beginn, der die Sache an ihrem Ende packt, geht es per Rückblende in die Vorgeschichte zurück. Nicht an den Anfang, denn der liegt Jahrzehnte zurück, sondern zu dem Moment, an dem die Fassade des häuslichen Glücks zu bröckeln beginnt. Wirkliche Orientierung stellt sich dabei lange nicht ein, nach und nach erst wird der Fall, um den es hier geht, zusammengesetzt.
Eine Kriminalromantechnik, aber „Ein Schweigen“ ist nicht als Whodunit, sondern als „Wie konnte es dazu kommen“-Geschichte erzählt. Die Spannung entsteht nicht aus der Spurensuche nach einem Täter, nicht aus dem Begleiten einer Ermittlung, sondern daraus, wie die Zusammenhänge von Szene zu Szene kenntlicher werden.
„Ein Schweigen“. Regie: Joachim Lafosse. Mit Daniel Auteuil, Emmanuelle Devos u. a. Belgien/Frankreich 2023, 100 Min.
Die Frau im Auto ist Astrid Schaar, von Emmanuelle Devos mit unterdrückter Gehetztheit gespielt. Etwas lastet auf ihr, beschwert das Verhältnis zu ihrem Mann, zu Raphael, dem Adoptivsohn. Einmal tanzt sie mit diesem, es liegen zugleich Zärtlichkeit und Verzweiflung darin. Man spürt und ahnt, bevor man es wirklich versteht, dass diese Frau etwas zusammenzuhalten versucht, das ihr unter den Händen zerbröselt.
Grau, wuchtig, zerfurcht
Einmal schreckt sie mitten am Tag aus dem Schlaf am Pool hoch und bricht in heftiges Schluchzen aus. Angst und Entsetzen sind im Traum durch den Schutzschild gelangt, hinter dem sie ihr Leben sonst lebt: ihr Leben am Pool, in einem Haus, das eher ein Anwesen ist. Ihr Mann ist vermögend, er ist berühmt als Anwalt, vor allem, weil er gerade in einem spektakulären Fall die Opfer eines Kindermörders vertritt. Am Tor lauern darum ständig Reporter.
Dieser Mann, der Staranwalt François Schaar, wird von Daniel Auteuil dargestellt: grau, wuchtig, zerfurcht, unnahbar, für Frau und Kind kaum noch erreichbar. Man sieht ihn häufig im Halbdunkel, zurückgezogen in seinem Haus wie in eine Höhle, an seinem Rechner, am Telefon, schweigend und grübelnd. Es geht aber, das begreift man irgendwann, gar nicht um den Prozess, in dem er als Anwalt tätig ist. Es geht vielmehr um diesen Mann selbst als Verbrecher.
Er steht unter Verdacht, ein Pädophiler zu sein, der die furchtbaren Videos auf seinem Rechner, die Beweisstücke in seinem Fall sind, selber genießt. Eine sexuelle Missbrauchsgeschichte aus der Vergangenheit, auch das wird nach und nach klar, wurde nicht zuletzt mit Hilfe seiner Frau unter den Teppich gekehrt. Das ist das Schweigen des Titels, das ist die Schuld, die auf Astrid Schaar lastet.
Nah an einer wahren Geschichte
Man muss es, um dem Film zu folgen, nicht wissen, aber es ist so, dass der Regisseur Joachim Lafosse sich hier in großer Nähe zu einer wahren Geschichte aus der jüngeren Vergangenheit in Belgien bewegt. Victor Hissel war Anwalt der Eltern zweier Opfer des Kindervergewaltigers und Mörders Marc Dutroux. Er wurde seinerseits wegen Besitzes von Kinderpornografie angeklagt und verurteilt. Joachim Lafosse imaginiert zu dieser vor rund zwanzig Jahren durch die Öffentlichkeit gegangenen Geschichte gemeinsam mit einer ganzen Reihe von Drehbuch-Mitarbeiter*innen eine Innenansicht.
Das passt zum bisherigen Werk des Regisseurs, in dem er immer wieder Familiendynamiken seziert, von „Nue Propriété“ (2006), in dem Isabelle Huppert eine Frau spielt, die ihre Familie verlässt, über „Die Ökonomie der Liebe“ (2016) über ein Paar mit Kindern, dessen Liebe erlischt, bis zu „Die Ruhelosen“ (2021), in dem ein bipolarer Mann seine Frau und seinen Sohn an die Grenzen ihrer Kraft bringt.
All diese Filme sind psychologisch genaue Beobachtungen aus der Nähe, die ihre Stärke in der Mikrobetrachtung des Impliziten im Zwischenmenschlichen haben. Nicht zuletzt sind sie deshalb ein Fest für Schauspieler*innen, die bei Lafosse auf engem Raum viel Platz für subtile Darstellungen haben.
Etwas Entscheidendes bleibt seltsam verdeckt
Das gilt auch für „Ein Schweigen“. Emmanuelle Devos und Daniel Auteuil geben ihren Figuren eine enorme Intensität, Devos aus oft großer Nähe, aber nicht nur bei der Autofahrt zu Beginn zugleich nie ganz im Bild. Auteil dagegen von Anfang bis Ende auf Abstand, als wäre etwas Entscheidendes noch bei voller Präsenz seltsam verdeckt.
Empfohlener externer Inhalt
Trailer „Ein Schweigen“
Bei beiden – und auch beim Adoptivsohn Raphael (Matthieu Galoux) – gibt der Film nie vor, die Motive, die Handlungen und auch das Selbstbild der Figuren erklären zu können. Er urteilt nicht, er zeigt viel und wahrt im Kern doch etwas Opakes, es bleibt an der ganzen Sache etwas, das sich dem Verstehen entzieht.
Und während sich die Kamera in anderen Filmen von Lafosse mit Vorliebe und oft als Handkamera mitten unter die Darsteller*innen begibt, wahrt sie hier immer wieder Distanz. Bei Blicken durch Türen und Fenster bleiben die Rahmen im Bild, einmal ist die Mutter nur klein, unscharf und indirekt auf einem Computerbildschirm zu sehen, die Atmosphäre ist oft von Dunklem und Schatten bestimmt. Im Haus als dem Ort, an dem sich Körper träge verteilen, die Mutter wie leblos alleine im Bett, der Vater am Tisch, ohne Worte, der Sohn, den die Last des Schweigens der Eltern immer stärker bedrückt.
Dazu die vielen Autofahrten, die geradezu ein Leitmotiv sind. Nicht als Bewegung ins Freie, sondern als Abkapselung gegen das Außen, als Verdichtung von Nähe und Enge, aber so, dass der Blick nie ganz an die Körper herankommt. Am Ende wechselt „Ein Schweigen“ sein Genre in Richtung Gerichtsfilm. Räume und Wörter und Körper nun in einem sachlicheren, der Konfession näheren Aggregatzustand. Was aber nur umso deutlicher macht: Das Schweigen und Verdrängen ist ganz und gar eingekörpert. Sie könnten, selbst wenn sie wollten, nicht mit der Sprache heraus.
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