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Autorentheatertage in BerlinNadelöhr der deutschen Geschichte

Wo steht die deutschsprachige Dramatik? Eine Antwort geben die Autorentheatertage am Deutschen Theater in Berlin. Ein Blick auf die Texte.

Szene aus Amir Gudarzi: „Als die Götter Menschen waren“, von FX Mayr am Nationaltheater Mannheim inszeniert Foto: Maximilian Borchardt

Man geht so leicht verloren. „Wo bin ich?“, fragt Alter Ego am Ende einer langen Reise durch die Geschichte des Osmanischen Reiches. „Zwischen den Welten“, antwortet Traum, Reisebegleiter. Eine zweite Antwort hat Halbpferd, dritte Figur auf dieser Zeitreise: „Du wohnst in Gelsenkirchen, versöhne dich mit deiner Mittelmäßigkeit“.

Wo sind wir eigentlich? Wo kommen wir her? Was machen wir? Warum gerade hier? Diese Fragen stellen sich immer wieder in den neu geschriebenen Theatertexten, die teils als Auftragswerke für Theater entstanden und deren Uraufführungen jetzt zu den Autorentheatertagen am Deutschen Theater in Berlin eingeladen sind.

Sie spannen einen weiten Horizont zwischen den Zeiten auf, verbinden Schöpfungsmythen mit einem Leben im fernen Weltraum, besuchen Paketboten, Faust und AfD-Kandidaten. Der Ausgangspunkt aber ist oft die Erfahrung einer konfliktschweren Gegenwart und einer tiefen Verunsicherung.

„Bei DM an der Kasse stehen Menschen vor mir, aus allen Provinzen des Osmanischen Reichs, ach was Osmanen: Es sind die Enkel der Könige von Karthago, Hattuscha und Babylon, Erfinder der Schrift, Erfinder der Algebra.

Heute zaubert die Armut allen die gleichen Augenringe auf die Gesichter – Gelsenkirchen“, so beschreibt Alter Ego in „Akins Traum vom Osmanischen Reich“ einmal den Startpunkt seiner imaginären Reise. Akın Emanuel Şipal hat das Stück im Auftrag des Schauspiels Köln geschrieben, der Autor ist 1991 in Essen geboren. „Du bist das Nadelöhr für die neue deutsche Geschichte“, spricht das Halbpferd Alter Ego an. Macht das Mut? Vielleicht den Mut der Verzweiflung?

Kuriose Geschichtsrevue

Denn riesengroß ist die Aufgabe, die Traum Alter Ego aufbürdet. Eine Expedition ins Unbekannte für die meisten Zuschauer:innen. Nichts weniger soll Alter Ego, als über beinahe 1.000 Jahre hinweg von einem Reich zu erzählen, das zu seinen besten Zeiten als toleranter Vielvölkerstaat funktionierte, in seinen schlechtesten Zeiten wegen Grausamkeit gefürchtet war.

Şipal hat kein heroisches Epos geschrieben, eher eine kuriose Geschichts­revue, mit Erben einer Dynastie, die lieber etwas anderes wollen als herrschen, erobern und Schlachten führen. Die mit den Anforderungen an ihre Männlichkeit ringen und das Handlungsmuster, das ihnen nicht zuletzt von den Müttern vorgeschrieben wird, zu unterlaufen suchen.

Doch obwohl der Gestus parodistisch ist, schwingt auch Trauer mit, aus dem reichen Gewebe der Vergangenheit nicht mehr positive Bedeutung für die Gegenwart mitnehmen zu können.

Die Vergangenheit als das Verlorene, das treibt die beiden Theatertexte „Als die Götter Menschen waren“ von Amir Gudarzi, 1986 geboren in Teheran, und „Wir werden diese Nacht nicht sterben“ von Guido Wertheimer, 1996 geboren in Argentinien, an.

Wertheimers Text, der am Staatstheater Braunschweig uraufgeführt wurde, begleitet einen jungen Mann durch Berlin, der einerseits nach den Spuren seiner jüdischen Vorfahren sucht, die im Holocaust ermordet wurden, andererseits aber irritiert wird von den Erwartungen an ihn.

Berlin wartet auf das Ende der Welt

Will er sich denn nicht mehr mit Fragen des Judentums auseinandersetzen? Warum lässt er sich so treiben durch das graue Berlin? Er redet mit Geistern, aber auch mit den Mitgliedern einer Akademie, die von seinem Theatertext viel mehr Stringenz und Zeitgeschichte erwartet hätten. Wertheimers Sprache ist dabei poetisch, von Rastlosigkeit und Trauer durchzogen. Er zeichnet von Berlin das Bild einer Stadt, die sich irgendwie damit arrangiert hat, auf das Ende der Welt zu warten.

Der Erwartungsdruck, der auf jüngeren Thea­ter­au­to­r:in­nen lastet, wird in ihren Texten oft mitreflektiert. Sie sind für die neue deutsche Vielfalt zuständig, ein Wunschbild, das noch nicht erreicht ist. „Wenn das Thema Diversity verraucht ist, möchte ich nicht als Antirassismusbeauftragter in einem Altersheim vegetieren müssen“, denkt Alter Ego mit Schrecken über seine Zukunft.

In „Doktormutter Faust“, eine pointenreiche Überschreibung von Goethes Faust, die Fatma Aydemir, lange auch taz-Redakteurin, für das Theater Essen geschrieben hat, diskutiert die Dichterin mit der Theaterdirektorin. Sie streiten sich um Gretchen aus feministischer Perspektive, ob so eine klischeebehaftete Opferrolle überhaupt noch auf die Bühne dürfe. Die Theaterdirektorin will ein feministisch aufgerüstetes Gretchen, die Dichterin gar keins.

Die Lösung, die sie schließlich findet, ist äußerst sophisticated, wendet den Fauststoff mehrmals: Nun ist Margarete Faust, Komparatistin und vielfach angefeindete Koryphäe der Genderforschung, die Hauptfigur, die sich unter Mephistos Einfluss verliebt: In einen schwulen Studenten aus Ägypten, der abgeschoben zu werden droht.

Möglichkeiten der Manipulation

Die Handlung legt immer wieder die Möglichkeiten von Machtmissbrauch, Übergriffigkeit und Manipulation nahe; die Dialoge, oft im Schlagabtausch mit Mephisto, aber zeigen auch, wie nahe Klischee und Erwartungshaltung beieinander wohnen, welche Fallen sie aufstellen mit schnell gefällten Urteilen und wie schwer es für die Menschen ist, ihnen zu entkommen.

Für das Nationaltheater Mannheim hat Amir Gudarzi „Als die Götter Menschen waren“ geschrieben, ein sehr geschickt verschiedene Zeitebenen verschränkendes Stück. Es blickt aus der Zukunft auf unsere Gegenwart als Vergangenheit. Die Zukunft hat irgendwo begonnen jenseits der Erde, wo nur hinkam, wer von Elon Musk für würdig befunden wurde, in seinem Raumschiff gerettet zu werden.

Videos aus der alten Zeit vor dem Ende unserer Welt werden heimlich geschaut. Man erlebt eine Ingenieurin, geflüchtet aus Syrien, die bei Tesla arbeitet und gigantische Probleme bekommt, als sie einen Umwelt­skandal öffentlich machen will. Man erlebt einen Paketboten in Wien unterwegs, der aus Aleppo stammt und sich dort zuvor, in Keller geflüchtet, während oben die Bomben fielen, Wien in Google Maps anschaute.

Wien war sein Sehnsuchtsort, um sich wegzuträumen aus Aleppo. Angekommen in Wien, vermisst er Aleppo, trauert um die Zerstörung der Stadt und Getötete unter Freunden und Verwandten.

Es beginnt mit den Göttern

Gurdarzis Text beamt uns mit ungeheurer Geschwindigkeit zu verschiedenen Schauplätzen von Ausbeutung, Betrug und Verrat. Das beginnt alles mit den Göttern, den ersten Sklavenhaltern aus einem antiken Mythos. In diesem Theatertext öffnen sich immer wieder neue Fenster in Raum und Zeit, und dennoch bleibt er seinen Protagonisten, die in unserer Gegenwart leiden an der Verfasstheit unserer Gesellschaft, nicht endenden Kriegen und den Bedingungen, unter denen Geflüchtete leben müssen, sehr nahe.

Diese vier Stücke zusammen betrachtet wollen auch ein Signal senden für die Diversität der Theater: Man bemüht sich, das ist schon mal gut, wenn auch vieles nicht so selbstverständlich ist, wie es politisch wünschenswert wäre.

Was dem entgegensteht, ist sicher nicht allein die AfD, aber sie ist der sichtbarste Gegner der Offenheit. Eines der zehn Theaterstücke, die zu den Autorentheatertagen eingeladen sind, „Das beispielhafte Leben des Samuel W.“ von Lukas Rietzschel, zeichnet die Biografie eines AfD-Politikers nach. Das Stück entstand im Auftrag des Gerhart-Hauptmann-Theaters in Görlitz-Zittau.

Der Text ist eine Collage, für die Lukas Rietzschel in Görlitz, wo über 30 Prozent AfD wählen, Interviews geführt hat. 2019 scheiterte ein AfD-Kandidat für das Bürgermeisteramt nur knapp. Der fiktive Samuel W. tritt letztendlich nicht zur Wahl an. Sein Werdegang, von der Schule durch die Wendejahre, seine politischen Lehrjahre in der FDP, während er in Westdeutschland bei der Polizei arbeitete, wird aus den Gesprächen über ihn in Bruchstücken greifbar.

Populismus als Köder?

Der Versuch, den Politiker und seine rechte Radikalisierung aus seiner Biografie und den Verlustgefühlen im Osten Deutschlands zu erklären, bleibt dabei unbefriedigend. Einerseits wiederholen sich viele Klischees von den Abgehängten und Frustrierten, auch wenn der Text ihnen im Detail dann oft widerspricht. Dieser Hintergrund überrascht nicht.

Andererseits reicht er als Erklärung nicht für die zunehmende Verhärtung, die Verklärung des Deutschen und den Fremdenhass. Samuel W. bleibt letztlich obskur und widersprüchlich. Denkt er so zu kurz gegriffen, wie die, die ihn verteidigen? Oder nutzt er den Populismus nur als Köder? Das bleibt letztlich offen.

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