„Doktormutter Faust“ am Schauspiel Essen: Mephisto ist eine nette Person
Unverblümt und locker ruft Fatma Aydemir in ihrem ersten genuinen Theaterstück zeitgenössische Diskurse auf. Dafür nahm sie sich Goethes „Faust“ vor.
„Gretchen ist kein Mensch, den ich retten muss, Gretchen ist eine Figur, die ich abschaffen muss, damit wir alle frei sind“, sinniert die „Dichterin“ im Prolog auf dem Theater. Wir sind nicht bei Johann Wolfgang von Goethe, sondern bei Fatma Aydemir, die sich in ihrem ersten genuinen Theaterstück für das Schauspiel Essen gleich das deutsche Teufelspaktdrama schlechthin vorgeknöpft hat: „Faust“! Und obwohl man dachte, damit hätte Jella Haases Chantal schon vor Jahren in einem Werbe-Kurzclip auf Youtube kurzen Prozess gemacht („meine Meinung: nur wegen Effekterei haschen“), hat die ehemalige taz-Redakteurin in ihrer forschen Überschreibung „Doktormutter Faust“ einen interessanten neuen Dreh für den Schulstoffklassiker gefunden.
Professor Doktor Margarete Faust, „profilierte Komparatistin, Koryphäe der Geschlechterforschung“, eine engagierte Feministin mit hohem Sozialstatus und Privilegien, ist ins Visier einer nicht mehr allzu fiktiven rechten Regierung geraten, weil sie Studentinnen mit Institutsmitteln die mittlerweile illegale Abtreibung im Ausland finanziert hat. Vor den zu erwartenden Scherben ihres Lebenswerks und ausschließlichen -inhalts erinnert Mephisto sie plötzlich an verdrängte Sehnsüchte. Er schiebt ihr den schwulen Karim vor die Nase, der nicht nur bei ihr promovieren will, sondern sich überhaupt nur mit einem Promotionsvorhaben weiter im Land aufhalten darf. Faust sagt zu, obwohl sie weiß, dass ihre Tage an der Uni gezählt sind.
Entfernt erinnert Fatma Aydemirs Professorin an die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Avital Ronell, die wegen sexueller Belästigung eines Doktoranden 2018 zeitweilig von der Lehre an der New York University suspendiert wurde. Mit der Erschütterung der links-feministischen Gewissheit, dass es in der Regel Männer sind, die Macht missbrauchen, spielt nun auch die Autorin, die den entscheidenden Stationen von „Faust I“ mit ein paar cleveren Verschiebungen bis in den Kerker folgt. In einer unverblümten, zeitgenössische Diskurse locker aufrufenden Sprache und mit viel Empathie für ihre Protagonist:innen – selbst Mephisto ist eigentlich eine nette, genderfluide Person – übersetzt sie den Klassiker in die komplizierte Gegenwart.
Dass Uraufführungsregisseurin Selen Kara, die ab dieser Spielzeit zusammen mit Christina Zintl die Essener Schauspielsparte leitet, mit „Doktormutter Faust“ eröffnet, ist ein geschickter Move und ein Statement. Nicht nur, weil Kara bereits zwei Bücher von Aydemir auf die Bühne gebracht hat, zuletzt die zum Münchner Festival Radikal Jung eingeladene Mannheimer Produktion „Dschinns“. Mit „Neues deutsches Theater – under construction“ hat das Leitungsduo zudem seine erst Spielzeit überschrieben und geht damit noch einen Schritt weiter als das „postmigrantische Theater“ der 2010er Jahre: Diversität ist hier selbstverständlich, der Umgang mit dem Kanon und der Institution Stadttheater aber eben auch.
Geschmeidiger Hedonistenhumor
Sehr solide wirkt denn auch Karas Regie, die sich ganz aufs Schauspiel konzentriert und nur gelegentlich auf einem runden Screen über der Bühne mit Videos (Florian Schaumberger) von Granatapfelkernen und nackten Körpern in dunklen Wassern eine etwas abgegriffene Sinnlichkeit behauptet. Die meist leere Drehbühne im Grillo-Theater (Lydia Merkel) lässt Vorstellungsraum für Uni-Büros wie Hexenküchen; hier schlüpfen Beritan Balcı und Silvia Weiskopf immer mal wieder in weiße Lackmäntel und träufeln blaue Essenzen in Cocktailgläser.
Nicolas Fethi Türksever bringt als Mephisto geschmeidigen Hedonistenhumor und Tangokünste ins Spiel – von Gefahr jedoch keine Spur, während Eren Kavukoğlus Stimme sich in vor Entsetzen fast überschlägt, als sein von Faust durchaus begeisterter Karim erfährt, dass das Promotionsszenario „nur ein Fake“ ist.
Im Zentrum aber steht Bettina Engelhardts Mittfünfziger-Professorin im blau fließenden Anzug (Kostüme Anna Maria Schories). Sie trifft sehr genau den souveränen Ton und die selbstbewusst-reflektierte Haltung der akademischen Karrierefrau; später, als sie sich Karim in der Grauzone annähert und sich selbst als seine Mutter, nämlich Doktormutter ins nur potenzielle Liebesspiel bringt und sich entblößt, bricht sie in irritierend schrilles Gelächter aus – weil sie als Intellektuelle ihrer eigenen Verführungsperformance nicht glaubt, sich vor sich selbst schämt?
Neben dem Schluss – als Fusion aus Faust und Grete, Täterin und Opfer bleibt die einsichtige Professorin freiwillig im Kerker – markiert dieses skrupulöse Lachen sehr deutlich die Differenz im Rollentausch. So weit geht die Lust, sich mit der eigenen Klientel anzulegen, dann doch nicht. Aber die Spielzeit hat ja auch gerade erst angefangen!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Berliner Kultur von Kürzungen bedroht
Was wird aus Berlin, wenn der kulturelle Humus vertrocknet?