Bewegungsforscher zu Klima-Hungerstreik: „Das ist kein Spiel“
Ist der Hungerstreik der Klimaaktivisten sinnvoll? Bewegungsexperte Dieter Rucht sieht den Ernst der Aktion, zweifelt aber an ihrem Erfolg.
taz: Aktuell befinden sich in Berlin vier Klimaaktivisten im Hungerstreik, einer von ihnen schwebte bereits vorübergehend in akuter Lebensgefahr. Die Aktivisten fordern eine Regierungserklärung, die die Gefahren der Klimakrise artikuliert. Sind Hungerstreiks als politisches Instrument wirksam? Welche Faktoren spielen dafür eine Rolle?
77, ist emeritierter Professor. Der Bewegungsforscher arbeitete am Wissenschaftszentrum Berlin und an der Freien Universität Berlin.
Dieter Rucht: Statistische Auswertungen gibt es dazu nicht. Manchmal werden die Forderungen Hungerstreikender ganz oder teilweise erfüllt, aber manchmal eben auch nicht. Zunächst einmal hängt der Erfolg davon ab, ob die gestellten Forderungen überhaupt erfüllbar sind. Auch die öffentlichen Reaktionen sind wichtig: Gibt es große Aufmerksamkeit oder sogar Sympathie? Zudem spielen individuelle Faktoren eine Rolle: Wer ist die Person? Sind ihre Forderungen glaubhaft oder wird die Person als irre abgetan? Abgesehen davon ist auch der Durchhaltewille und die Ernsthaftigkeit der Streikenden wichtig. In der Geschichte gab es es auch theatralische, nicht wirklich ernst gemeinte Hungerstreiks, so etwa den der Linken-Vorgängerpartei PDS 1994. Dabei ging es um Steuererlasse für das Vermögen der SED. Schon von vornherein war klar: Die werden nicht bis zum bitteren Ende gehen.
Ist das beim aktuellen Streik der Klimaaktivisten anders?
Ernst gemeint ist der Streik der Klimaaktivisten definitiv: Das ist kein Spiel, das dort betrieben wird. Die Aktivisten halten zum Teil wochenlang durch und begeben sich in Lebensgefahr. So schaffen sie es auch, mediale Aufmerksamkeit zu erregen. Ob die eher randständige Forderung nach einer Erklärung des Bundeskanzlers am Ende erfüllt wird, ist trotzdem unklar.
Scholz hat ja bereits gesagt, er würde die Forderung nicht erfüllen – und sie zum Ende der Aktion aufgerufen. Würde er sich nicht erpressbar machen, wenn er auf die Forderung der Klimaaktivisten eingeht?
Ich würde in diesem Zusammenhang nie von Erpressung sprechen. Denn eine Erpressung würde voraussetzen, dass derjenige, der erpresst wird, einen gewaltigen Schaden erleidet, wenn er nicht auf die Forderung eingeht. Mit solchen Folgen müsste Scholz selbst im Falle des Todes des Klimaaktivisten nicht rechnen. Ob die Erfüllung der Forderungen positive oder negative Auswirkungen für den Kanzler hätte, ist hingegen schwer zu sagen: Geht er auf die Forderungen ein, könnte er als empathisch gelten. Auf der anderen Seite könnte das aber auch dazu führen, dass andere Gruppen mit obskuren Forderungen in den Hungerstreik treten. Stellen Sie sich nur vor, die AfD würde das machen.
Hungerstreiks wurden historisch gesehen vor allem von Häftlingen oder anderen Menschen, die in Institutionen wie etwa Psychiatrien untergebracht waren, eingesetzt. Wie unterscheiden sich die Streiks Gefangener von denen der Klimaaktivisten?
Schon Sklaven traten im 19. Jahrhundert in Hungerstreiks, Palästinenser kündigten 2017 und 2021 zu Tausenden Hungerstreiks gegen ihre Haftbedingungen an. In texanischen Gefängnissen traten 2013 Zehntausende Häftlinge in den Hungerstreik. Diese Menschen haben normalerweise keine Möglichkeit, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Insofern ist der Hungerstreik in diesen Fällen als letztes, verzweifeltes Mittel zu verstehen, das die Gefangenen anwenden können. Im Falle der Hungerstreiks von Klimaaktivisten sieht das anders aus. Meist geht es dabei um Leute, die in demokratisch regierten Ländern leben und viele Möglichkeiten haben, sich politisch zu beteiligen. So gesehen gibt es ein gewisses Missverhältnis zwischen der Drastik der Aktion und der Fülle von alternativen Möglichkeiten, mit denen die Aktivisten für ihr Anliegen werben können. Eigentlich würde ein Hungerstreik voraussetzen, dass alle anderen Möglichkeiten erfolglos ausgeschöpft wurden.
Der Aktivist Metzeler-Kick argumentiert: Genau das sei bei der Klimakrise der Fall, alle anderen Möglichkeiten, sie zu stoppen, seien ausgeschöpft.
Das ist bestreitbar. Es ist auch unklar, ob Klimaaktivismus jenseits des Hungerstreiks zum Erfolg führen wird. Doch diese Unsicherheit gilt genauso für den Hungerstreik. Es ist möglich, dass einer der Aktivisten verstirbt. Selbst dann bleibt offen, ob die Klimapolitik dadurch entscheidend verändert werden würde.
Das heißt, die Forderung, die die Hungerstreikenden aktuell stellen, könnte zwar erreicht werden, dass dadurch eine Kehrtwende in der weltweiten Klimapolitik angestoßen wird, ist aber äußerst unwahrscheinlich?
Genau. Das unterscheidet auch die Hungerstreiks der Klimaaktivisten von denen Gefangener. Als Tausende palästinensische Gefangene hungerten, um gegen ihre Haftbedingungen zu protestieren, wäre ein Federstrich des israelischen Regierungschefs ausreichend gewesen, um die Forderungen zu erfüllen. Wenn in Sachen Klimapolitik ein fundamentales Umsteuern gefordert wird, ist das nicht in dieser Weise umzusetzen: Die Klimapolitik in China wird von einem toten Hungerstreikenden in Berlin sicher nicht beeinflusst. Außerdem wird die Aufmerksamkeit, die es im Falle des Todes eines Aktivisten geben würde, schnell verfliegen. Das zeigt auch der Fall von Hartmut Gründler, einem Anti-Atomkraftaktivisten, der sich nach einem erfolglosen Hungerstreik 1977 vor der St. Petrikirche in Hamburg verbrannte! Selbst dieser extreme Fall ist kaum jemandem präsent. Dass Einzelne die Möglichkeit haben, die politische Öffentlichkeit nachhaltig zu beeinflussen, ist äußerst selten.
Würden sie der Klimabewegung also davon abraten, das Mittel des Hungerstreiks zu verwenden?
Ja, ich würde davon abraten. Ich respektiere zwar, dass die Leute das tun und aufrichtig handeln. Doch der bescheidene Effekt, der durch den Hungerstreik erreicht werden könnte, steht in keinem Verhältnis zu der drastischen Aktion und den möglichen Konsequenzen für die Aktivist:innen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Etgar Keret über Boykotte und Literatur
„Wir erleben gerade Dummheit, durch die Bank“
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Telefonat mit Putin
Falsche Nummer
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen