BKA-Chef Münch zu Gewalt im Wahlkampf: „Die Zahlen sind ein Alarmsignal“

Im Wahlkampf häuft sich die Gewalt gegen Po­li­ti­ke­r:in­nen. BKA-Chef Holger Münch warnt vor einer Verrohung und verspricht Verfolgungsdruck.

Ein Wahlkampfplakat der SPD zeigt Bundeskanzler Olaf Scholz und die SPD- Europaabgeordnete Katarina Barley mit der Aufschrift Olaf Du Jude und einem Davidstern.

Nicht nur der EU-Wahlkampf wird von vielen mutwillig beschädigten Wahlplakaten und Angriffen auf Politiker und Wahlhelfer geprägt Foto: Marc Stinger/imago

wochentaz: Herr Münch, Sie warnten schon vor acht Jahren vor Angriffen auf Kommunalpolitiker: Dies seien „keine Einzelfälle“, man müsse dagegen „entschieden vorgehen“. Nun gibt es erneut Attacken auf Wahlkämpfende, der sächsische SPD-Europakandidat Matthias Ecke wurde in Dresden krankenhausreif geprügelt. Was haben Sie gedacht, als Sie diese Nachricht hörten?

55, ist seit Dezember 2014 Präsident des Bundeskriminalamts. Zuvor war er Staatsrat bei Bremens SPD-Innensenator ­Ulrich Mäurer. Münch ist parteilos und seit 1978 in verschiedenen Funktionen bei der Polizei tätig, er hat unter anderem als Personenschützer und von 2009 bis 2011 als Bremer Polizei­präsident gearbeitet.

Holger Münch: Das war natürlich ein schreckliches Ereignis, aber wir beobachten diesen Trend tatsächlich schon länger. Wir haben im vergangenen Jahr 5.400 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger registriert, in den vergangenen fünf Jahren hat sich die Zahl verdreifacht. Zum Glück waren davon nur ein Bruchteil Gewaltdelikte. Aber wir sehen, dass die Unzufriedenheit mit staatlichen Institutionen Beleidigungen und Bedrohungen befördert, und auch Gewalt. Und das häuft sich nun vor den anstehenden Wahlen.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser, SPD, sprach nach dem Angriff auf Matthias Ecke von einer „neuen Dimension antidemokratischer Gewalt“. Ist das so? Oder doch trauriger Alltag?

Ich würde von einer auffälligen Häufung der Gewalt sprechen. Der Angriff gegen Matthias Ecke war eine äußerst brutale Gewalttat, die zeigt, wohin politische Aggression führen kann. Solche Gewalt kann sich bis hin zu versuchten oder vollendeten Morddelikten steigern – wie wir es etwa im Fall Walter Lübcke erleben mussten. Um genau nicht dorthin zu kommen, sind wir sehr aufmerksam und alarmiert.

Matthias Ecke erklärte, er werde sich nicht unterkriegen lassen, konstatierte aber „eine organisierte Verrohung, getrieben durch die extreme Rechte“. Hat er Recht?

Wir führen halbjährlich innerhalb des Forschungsverbunds Motra Befragungen von kommunalen Amts- und Mandatsträgern durch. Fast 40 Prozent sagen, dass sie im zurückliegenden Halbjahr schon Opfer von Anfeindungen geworden sind. Aber nur 20 Prozent erklärten, die Angriffe seien aus klar politischen Motiven erfolgt. Die anderen Fälle schrieben sie allgemeinem Frust oder Unzufriedenheiten mit behördlichen Entscheidungen zu.

Also keine organisierte Verrohung, sondern wütender Individualismus?

Nicht nur. Es werden auch, gerade über Social Media, gezielt Narrative und Feindbilder gesetzt. Jeder politische Akteur, der nicht dazu beiträgt, dass es einen sachlichen Diskurs gibt, sondern Sündenböcke aufbaut – Stichwort Ausländerproblem und Remigration – trägt zu dieser Polarisierung bei.

Hat die AfD eine Mitschuld?

Die AfD hat eine besondere Rolle, weil sie gerade in Social Media eine sehr breite Präsenz hat. Eine solche Präsenz kann man einsetzen, um zu beruhigen oder zu beunruhigen. Und zur Beruhigung tragen viele der AfD-Veröffentlichungen nicht bei. Aber natürlich ist es auch keine Lösung, wenn Angriffe auf die AfD verübt werden, wie wir es auch immer wieder erleben. Auch das trägt zur Polarisierung bei und wird von uns ebenso verfolgt.

2023 wurden die meisten Straftaten gegen Vertreter der Grünen verübt, die meiste Gewalt gegen die der AfD.

Ja, vor ein paar Jahren traf es vor allem die AfD, seit 2022 stehen besonders die Grünen im Visier. Das kann mit umstrittenen Entscheidungen im Zuge des Ukrainekriegs zu tun haben, wie dem sogenannten Heizungsgesetz – für die die Grünen als Schuldige ausgemacht wurden. Aber es hat eben auch mit bewusst produzierten Feindbildern zu tun.

Wie gefährdet ist dadurch die Demokratie?

Die Zahlen sind zumindest ein Alarmsignal. Keiner kann sagen, was der Schwellenwert ist, an dem die Demokratie kippt. Aber wenn 10 Prozent der Amts- und Mandatsträger sagen, sie überlegten wegen der Anfeindungen aufzuhören und weitere fast 10 Prozent angeben, aufgrund der Anfeindungen nicht mehr kandidieren zu wollen, ist dieser Wert deutlich zu hoch. Die Mitgliederzahlen der Parteien in den letzten 30 Jahren gehen rapide bergab. Wir müssen uns dringend Gedanken machen, wie wir in Deutschland für dieses Staatswesen eintreten wollen. Ein Schlüssel liegt in der vielfältigen Gesellschaft. Viele Menschen kommen etwa zum BKA oder anderen Polizeibehörden, weil sie sich für das Gemeinwohl einbringen wollen. Diese Kräfte noch stärker zu aktivieren, darauf wird es in den nächsten Jahren ankommen.

Gerade erst stellten Sie die Zahlen der politischen Kriminalität für 2023 vor: Sie liegen auf einem Rekordhoch, rechte Delikte weit vorn. Zeigt das, dass etwas aus den Fugen gerät?

Die Zahlen sind ein Gradmesser für die Verunsicherung und Polarisierung dieser Gesellschaft. Das ist der Nährboden für politische Gewalt. Wir hatten eine Menge an Krisen in den letzten Jahren zu bewältigen, im Grunde seit der Finanzkrise 2008, in denen sich dann auch Personen, die vorher unpolitisch waren, zu politischer Gewalt hinreißen ließen – Stichwort Querdenker. Nach Rücknahme der Pandemiemaßnahmen im vergangenen Jahr waren wir von sinkenden Zahlen ausgegangen, aber dann kam der 7. Oktober und die Straftaten mit Nahostbezug schnellten nach oben, Antisemitismus genauso wie Islamfeindlichkeit.

Auch derzeit erleben wir weiter propalästinesische Proteste oder Universitätsbesetzungen. Wie blicken Sie darauf?

Der zunächst extrem steile Anstieg der Straftaten hatte sich zum Jahresende 2023 beruhigt, auch in den ersten drei Monaten dieses Jahres. Hatten wir im Oktober 2023 pro Woche 600 bis 800 Straftaten mit Nahostbezug, sind es nun 100 bis 200. Alles hängt aber sehr stark davon ab, wie sich die Lage im Gazastreifen weiter entwickelt. Eine Eskalation dort kann sich auch hierzulande wieder auswirken.

Auch Islamisten nutzen das Nahost-Thema für sich. Bleibt für Sie der Rechtsextremismus dennoch weiter die größte Bedrohung?

Man muss unterscheiden zwischen einer Terrorgefahr und einer für die Demokratie. Im islamistischen Spektrum versucht der afghanische IS-Ableger ISPK Strukturen aufzubauen, um Anschläge auch in Europa zu begehen. Zudem bleiben radikalisierte, allein handelnde Täter eine Gefahr. Auch im linksextremen Bereich gab es zuletzt herausragende Gewalttaten oder Sabotageaktionen wie die gegen Tesla. Aber bezogen auf die Gefahr für die Gesellschaft bleibe ich dabei, dass die Bedrohung aus dem rechtsextremen Spektrum am größten ist. Weil dort am stärksten der Anschluss an die Mitte der Gesellschaft gesucht und in Teilen gefunden wird.

Gerade erst begann in Frankfurt am Main der Prozess gegen die Reichsbürger-Gruppe um Prinz Reuß, die laut Ihren Ermittlungen einen Umsturz plante. Wie groß ist aktuell die rechte Terrorgefahr?

Vorweg: Die Gruppe ist bei uns nicht als PMK-rechts eingestuft. Wir sehen dort durchaus einige, die wir dem rechten Spektrum zuordnen, aber nicht alle. Diese Zuordnung passiert bei Reichsbürgern nicht automatisch, sondern nur, wenn eine rechte Gesinnung dazukommt, wie das Propagieren von Ungleichheit. 2023 sind beispielsweise von den insgesamt 1.300 Straftaten, die Reichsbürgern beziehungsweise Selbstverwaltern zugeordnet wurden, lediglich knapp 20 Prozent im Phänomenbereich PMK-rechts- zu verorten.

Wie kann das sein? Reichsbürger folgen revisionistischen, oft antisemitischen Ideologien.

So eindeutig ist es eben oft nicht. Aber es wird natürlich auch so jedes Delikt von Reichsbürgern erfasst, jeder Gefährder. Wir haben hier kein Erkenntnisdefizit.

Und wie groß ist nun die rechte Terrorgefahr?

Mit den Anschlägen des NSU, auf Walter Lübcke, in Halle und Hanau, oder mit Gruppen wie Oldschool Society oder Knockout51 haben wir gesehen, dass die rechtsextreme Terrorgefahr real ist. Deshalb haben wir das sehr intensiv im Blick und hier auch unsere Kapazitäten ausgebaut.

Und Sie sehen auch eine linke Terrorgefahr?

Von Terrorgefahr würde ich noch nicht sprechen. Aber von einer veränderten Lage. Die Hemmschwelle zur Gewalt ist in der linken Szene gesunken. Neben dem Anstieg an Gewalttaten hat auch die Intensität zugenommen, wie etwa die gewaltsamen Übergriffe deutscher Autonomer in Budapest zeigten. Dazu kommt eine zweistellige Zahl an Verdächtigen, die untergetaucht sind und somit versuchen, sich den staatlichen Maßnahmen dauerhaft zu entziehen.

Wenn wir immer neue Höchststände erleben, dann hat Ihr „entschiedenes Vorgehen“, das Sie 2016 angekündigten, nicht geklappt?

Es wäre zu einfach, dafür die Polizei und Justiz verantwortlich zu machen. Wir arbeiten an den Symptomen der gesellschaftlichen Umbrüche. Was wir als Polizei tun können, ist die Debatte zu versachlichen und die weiteren Auswüchse der politischen Kriminalität, aus denen eine Terrorgefahr wachsen kann, zu bekämpfen. Wir nehmen dafür Personen, die ein Risiko sein könnten, stärker in den Blick, seit Jahren schon. Und wir ermitteln intensiv zu unbekannten Personen, um Netzwerke besser zu erkennen. So wie zuletzt eben bei der Reichsbürger-Gruppierung, die nun vor Gericht steht. Zudem haben wir 2021 auch eine Zentralstelle für Internetkriminalität aufgebaut, um Hasspostings zu bekämpfen. Am Ende aber braucht es eine gesamtgesellschaftliche Antwort.

Wie muss die aussehen?

Jeder muss seinen Beitrag leisten, um das Vertrauen in die Demokratie wieder zu stärken. Die Politik, das Bildungssystem, die Ehrenamtlichen, wir als Polizei. Die Demonstrationen für Demokratie zu Jahresbeginn waren ein wichtiges Signal, dass die Mehrheitsgesellschaft hinter diesem System steht. Wir dürfen denen, die destruktiv sind, nicht die Diskussionsräume überlassen. Die Frage, wie wir Debatten analog und digital führen, ist ganz entscheidend. Wir müssen in den Schulen anfangen, in den Gemeinden, und über die Spielregeln unserer Diskussionen reden. Dass wir uns austauschen, aber nicht abwerten. Dass Gewalt nicht toleriert werden kann. Und dass allen klar ist, was Politik leisten kann und was die Grenzen sind.

Faeser forderte angesichts der PMK-Zahlen mehr Ermittlungsdruck und schnelle Verfahren. Arbeitet Ihre Polizei nicht schnell genug?

Wir ermitteln in allen Bereichen sehr intensiv, aber wir müssen uns auch auf neue Situationen einstellen, vor allem im Digitalen. Die Zahlen unserer Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet entwickeln sich ständig nach oben. 13.000 Hinweisen sind wir im gesamten vergangenen Jahr nachgegangen, im letzten Monat waren es nun bereits 2.600. Das ist auch gut so, denn wir wollen, dass Straftäter Konsequenzen spüren. Aber es kostet Ressourcen. Deshalb müssen wir stärker priorisieren, im frühzeitigen Austausch mit der Justiz. Wir müssen die Mehrfach- und Intensivtäterkonzepte aus dem analogen in den digitalen Bereich übertragen.

Bei der Meldestelle hatten Sie ursprünglich mit rund 250.000 Meldungen jährlich gerechnet, übermittelt von den Onlineplattformen – die aber bis heute nicht kooperieren.

Die Plattformen haben erfolgreich gegen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz geklagt, dass sie strafbare Postings nicht übermitteln müssen. Wir kooperieren bei der Zentralen Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet weiterhin mit NGOs, die uns Meldungen übermitteln, mit steigender Tendenz. Seit Februar 2024 gelten zudem die Vorschriften des europäischen Digital Services Act nun für alle Hostingdiensteanbieter unabhängig von der Größe.

Gefordert werden jetzt auch mehr Polizeischutz für Wahlkämpfende und höhere Strafen für Angriffe. Richtig so?

Beim Schutz für politisch Aktive ist die Sensibilität in allen Dienststellen aktuell vorhanden. Hier sind eine enge Vernetzung wichtig und Ansprechstellen für die Betroffenen. Ein Problem ist, dass nur 11 Prozent der Mandatsträger die Anfeindungen bisher anzeigten. Das müssen wir steigern, mit Hilfe von NGOs oder Onlineportalen, denn nur so können wir Straftaten auch ermitteln. Eine konsequente Strafverfolgung ist wichtiger als die Diskussion über noch höhere Strafen.

Sie selbst fordern auch die Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen – Datenschützer, FDP und Grüne warnen dagegen vor einer anlasslosen Massenspeicherung.

Wir fordern die Speicherung ausschließlich für IP-Adressen und Port-Nummern, mit denen kein Personen- oder Bewegungsprofil erstellt werden kann. Bereits eine Speicherdauer von wenigen Wochen würde bei der Strafverfolgung immens helfen. Der Grundrechtseingriff wäre also gering. Es geht nur darum, im Fall einer Straftat zu wissen, von welchem Endgerät diese begangen wurde. Auch der EuGH betonte in seinen jüngsten Urteilen, dass diese Speicherung grundsätzlich rechtlich zulässig und nötig ist, da sonst eine strukturelle Ermittlungslücke bleibe.

Die Ampel einigte sich zuletzt auf das Quick Freeze Verfahren, das erst Daten speichert, wenn ein Verbrechen geschehen ist. Das reicht Ihnen nicht?

Quick Freeze kann eine Ergänzung sein – aber nur wenn die Daten noch verfügbar sind. Und das ist eben bei der IP-Adresse oft nicht mehr der Fall. Im digitalen Zeitalter ist die IP-Adressenspeicherung unabdingbar, wenn wir künftig allein bei Hasspostings sechsstellige Zahlen bearbeiten wollen.

Droht am Ende auch die Gefahr, dass der Staat überzieht? So wie es einige bereits bei den Verboten für propalästinensische Demos sehen?

Solche Diskussionen müssen wir immer mit kühlem Kopf und Blick ins Grundgesetz führen. Gerade die Meinungs- und Versammlungsfreiheit ist ein hohes Gut und ein Rückgrat unseres demokratischen Systems. Mein Eindruck ist aber nicht, dass die Demonstrationsfreiheit zuletzt über Gebühr eingeschränkt wurde. Es wurden seit Oktober 2023 rund 2.900 Demonstrationen abgehalten und 113 verboten. Das Demonstrationsrecht ist zu gewährleisten, wenn es friedlich ausgeübt wird. Die Grenze ist immer, wenn es zu Straftaten kommt.

Nun beginnt in Kürze die Europameisterschaft: Wie blicken Sie da auf die Sicherheitslage?

Es werden 12 Millionen Besucher erwartet. Überall, wo Menschen in großer Zahl aufeinandertreffen, ist das Risiko für Straftaten erhöht. Die Sicherheitsbehörden stellen sich auf alle Szenarien ein: Wir haben die Hooligans im Blick, auch mit szenekundigen Beamten. Es gibt Sicherheitskonzepte für die Stadien und Fanmeilen. Wir schauen, ob es politische Störaktionen gibt, wir haben eine Drohnenabwehr. Und natürlich prüfen wir auch eine Anschlagsgefahr.

Sie sind nun zehn Jahre BKA-Chef, haben Anschläge von Anis Amri bis Hanau erlebt. Wann ist der Punkt, an dem Sie sagen: Es reicht?

Die Herausforderung sind nicht die einzelnen Ereignisse, sondern die Aufgabe, sich auf ständig wechselnden Gegebenheiten einzustellen. Die Verlagerung des Kriminellen ins Digitale beschäftigt uns aktuell stark, nun wird als Mammutaufgabe das Thema Künstliche Intelligenz folgen. Amtsmüdigkeit kommt da nicht auf.

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