Israel nach dem 7. Oktober: Im Haus der Geiselfamilien

In Israel haben die Angehörigen von Hamas-Geiseln neue Aufnahmen von verschleppten Frauen veröffentlicht – ein Besuch des „Geiselforums“ in Tel Aviv.

Eine Frau vor gelben Objekten.

Hanita Ramon bastelt, um die Geiseln freizubekommen Foto: Nicholas Potter

TEL AVIV taz | Die Aufnahmen zeigen die letzten Momente, bevor die Hamas die fünf 19-jährigen israelischen Frauen entführt: Ihre Pyjamas sind mit Blut durchtränkt, ihre Hände gebunden. Die islamistischen Terroristen nennen sie Hunde, einer sagt: „Du bist so schön.“ Dann verschleppen sie die jungen Wehrpflichtigen an jenem 7. Oktober 2023 vom militärischen Außenposten Nahal Oz in Pick-up-Trucks über die Grenze in den Gazastreifen.

230 Tage sind diese Szenen mittlerweile her, die von Bodycams aufgenommen wurden. Viele der Terroristen trugen Kameras, einige gerieten in Hände der israelischen Armee. Die bislang unveröffentlichten Aufnahmen wurden am Mittwochabend vom „Hostage and Missing Families Forum“ geteilt, einem Zusammenschluss von Angehörigen der Geiseln. Die Angehörigen wollen den Druck auf Regierungschef Benjamin Netanjahu erhöhen, einen Deal mit der Hamas zu erreichen, der unter anderem die Befreiung der Geiseln vorsieht.

Schon am Tag nach dem Anschlag, dem tödlichsten in der Geschichte Israels, bei dem mehr als 1.100 Menschen ermordet und rund 250 verschleppt wurden, hatten sich Angehörige der Geiseln zusammengeschlossen und das Forum gegründet. Inzwischen werden sie von tausenden Freiwilligen unterstützt, darunter Ärzt*innen, PR-Profis, Ex­per­t*in­nen für psychische Gesundheit, auch zwölf ehemalige Botschafter*innen.

Einer von ihnen ist Daniel Shek, bis 2010 Botschafter in Paris. „Wir haben eine Diplomatie-Abteilung initiiert, um uns um die internationalen Aspekte der Arbeit zu kümmern“, sagt der 68-Jährige. 250 Delegationen mit Geiselangehörigen habe das Forum bereits ins Ausland geschickt.

Macbook, Cappuccino und Vermisstenfotos

An einem Tag Mitte April sitzt Shek im Haus des „Hostage and Missing Families Forum“ in Tel Aviv. Wie ein unscheinbarer Büroblock im Bauhausstil sieht das Gebäude aus, bis auf das lange Transparent, das eine Säule vom Dach bis zur Straße drapiert. „Bring them home now“, steht darauf, „Bringt sie sofort nach Hause“. Gemeint sind die Geiseln. 128 sind noch in Geiselhaft, mindestens 39 von ihnen gelten allerdings bereits als tot.

Inzwischen dienen sechs Etagen des Hauses, die ein Cyberunternehmen dem Forum geschenkt hat, als Zentrale des Forums. Junge Menschen mit Macbook und Cappuccino in der Hand laufen hin und her. Plakate an den Wänden mit Namen und Fotos der Vermissten erinnern aber daran, dass dies kein junges Start-up-Unternehmen ist.

Nach Angaben des Forums gehen täglich bis zu eintausend Freiwillige ein und aus, um Soli-Bändchen zu basteln, Presseanfragen zu beantworten und Social-Media-Kanäle zu bespielen – alles, damit die Geiseln freikommen. „Vor sechs Monaten dachte keiner von uns, dass wir heute noch in dieser Situation stecken würden“, sagt Shek.

Neben ihm sitzt Sharon Sharabi, 48 Jahre alt. Am 7. Oktober entführte die Hamas seine zwei Brüder Eli und Yossi. Sharabi ergänzt: „Wir haben keine Ahnung, wann das ein Ende haben wird.“ Shek und Sharabi sind ein ungewöhnliches Duo. Sie sind Freunde geworden, verbunden durch ihr Engagement. Sie sprechen mit einer Gruppe internationaler Medienschaffender, die ausgerechnet vom israelischen Außenministerium ins Haus des Forums eingeladen wurde. Immer wieder kritisiert das Forum die Kriegsführung der Regierung in Gaza, vor allem dafür, dass sie die Befreiung der Geiseln nicht priorisiert. Allein die Existenz des Forums deutet auf ein Versagen der Politik hin.

ein Mann vor einer mit Fotos bedeckten Wand

Sharon Sharabi

„Wir sind eine zivilgesellschaftliche Organisation, wir haben eine ergänzende Beziehung zur Regierung“, erklärt Shek diplomatisch, „aber wir tun einige Dinge, die die Regierung selbst tun sollte.“ Ob das Forum ein Ärgernis für die Regierung sei, fragt er sich laut. „Ich denke schon und ich hoffe das auch.“

Im Bett, als die Hamas kam

An einigen Delegationen im Ausland, die Shek mitorganisiert hatte, nahm Sharon Sharabi teil. Er traf den US-Präsidenten und den britischen Premierminister. Seit dem 7. Oktober bestimmt sein Engagement sein Leben. Er habe sogar seinen Job gekündigt. „Das ist jetzt meine Lebensmission.“ Sharabi trägt ein T-Shirt mit einem Foto seiner entführten Brüder Yossi und Eli. Die drei sehen sich sehr ähnlich.

Als die Hamas am 7. Oktober den Grenzzaun zu Israel durchbricht, schlafen Yossi und Eli mit ihren Familien im Kibbuz Be’eri, nur fünf Kilometer vom Gazastreifen entfernt. „Elis Frau und die zwei Töchter wurden nicht ermordet, sie wurden regelrecht abgeschlachtet“, sagt Sharabi. Er zeigt ein Foto auf seinem Handy, das er noch nie gezeigt habe, und bittet die anwesenden Journalist*innen, keine Fotos davon zu machen. Auf dem Handy ist ein blutdurchtränktes Kinderzimmer zu sehen. Sharabi wirkt, als könne er nur mit Mühe die Tränen zurückhalten. „Ihre Töchter Yahel und Noya waren erst 13 und 16 Jahre alt.“

Sharon Sharabi, dessen Brüder am 7. Oktober nach Gaza verschleppt wurden

„Wir sind nicht bereit, einen fünften Sarg zu akzeptieren“

Die Frau und zwei Kinder von Sharabis Bruder Yossi überlebten den Angriff – „durch ein Wunder“, wie Sharabi sagt. Aber nach rund hundert Tagen Geiselhaft, im Januar 2024, erfährt Sharabi, dass Yossi nicht mehr lebt. Er sei wahrscheinlich durch einen israelischen Luftangriff versehentlich getötet worden, hieß es nach einer Untersuchung der Armee. „Wir haben schon vier Familienmitglieder verloren“, sagt Sharabi, „wir sind nicht bereit, einen fünften Sarg zu akzeptieren.“

Am Ende des Flurs im Haus des Forums sitzt die Freiwillige Hanita Ramon, eine 59-Jährige mit müden Augen. Sie bastelt Anstecker mit gelben Bänden, ein Symbol für die Freilassung der Geiseln. Die Anstecker werden am benachbarten „Platz der Geisel“ verkauft. So nennen viele Israelis den Platz vor dem Tel Aviver Museum der Künste seit dem 7. Oktober. Inzwischen ist er zu einem Mahnmal geworden.

Mal bastele sie Anstecker, erzählt Ramon, mal koche sie für die Familien der Geiseln, da viele von ihnen ihre Communitys nahe der Grenze zum Gazastreifen verlassen mussten. Zwei Tage pro Woche sei sie hier, mindestens, ansonsten arbeitete sie als Personaltrainerin.

Ramon kennt eine der Geiseln persönlich, die 39-jährige Carmel Gat, die wie die Brüder von Sharon Sharabi aus dem Kibbuz Be’eri entführt wurde. „Ich will einfach nur, dass sie alle nach Hause kommen“, sagt sie. Ihre Stimme ist betrübt, energielos. Sie bastelt weiter, als hätte das etwas Therapeutisches für sie.

Netanjahu unter Druck von rechts

Dass die Geiseln bald wieder nach Hause kommen, ist jedoch alles andere als sicher. Die indirekten Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas wurden jüngst abgebrochen. Das israelische Kriegskabinett billigte am Donnerstag allerdings eine Wiederaufnahme der Gespräche. Netanjahu wird seit Monaten von seinen rechtsradikalen Koalitionspartnern unter Druck gesetzt, die Vernichtung der Hamas zu priorisieren und die israelische Armee noch weiter in Rafah im südlichen Gazastreifen einmarschieren zu lassen – um jeden Preis, auch zulasten der Geiseln. Die radikalislamistische Hamas wiederum zeigt sich immer wieder kompromisslos und realitätsfern.

„Es ist sehr schwierig, rational zu verhandeln mit Menschen, die einfach nicht rational agieren“, erklärt Ex-Botschafter Shek. „Es geht aber gerade nicht darum, was wichtiger ist – die Freilassung der Geiseln oder ein Sieg gegen die Hamas –, sondern was dringlicher ist“, sagt er. „Um die Geiseln zu befreien, haben wir nicht noch einmal sechs Monate Zeit.“

Ähnlich sieht es Sharon Sharabi. „Ich hoffe und bete jeden Tag, dass Eli und alle anderen Geiseln noch leben und zurückkommen. Wir werden nicht aufhören, bis alle wieder zu Hause sind.“ Doch die Uhr tickt, auch für die fünf Frauen im Video, das das „Hostage and Missing Families Forum“ am Mittwoch veröffentlichte. „Für meinen Bruder Yossi ist die Zeit schon abgelaufen.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.