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Bürgerentscheid über RadverkehrUm 18 Millionen Euro verrechnet?

In Göttingen kommt es zum Bürgerentscheid über den Ausbau des Radverkehrs. Allerdings eskaliert der Streit über die möglichen finanziellen Folgen.

Der Bedarf einer besseren Radinfrastruktur ist da: Fahrräder am Göttinger Bahnhof Foto: Eckhard Stengel/Imago

Hamburg taz | Noch ist der Göttinger Bürger­entscheid über einen Ausbau der Radverkehrswege einige Wochen hin, doch die Kritik an Oberbürgermeisterin Petra Broistedt (SPD) und ihrer Stadtverwaltung spitzt sich schon zu. Erst hatte die Bürgermeisterin mit dem Schreckgespenst, ein Ja würde die Stadt mehr als 100 Millionen Euro kosten und zulasten des Kultur- und Sozialbereichs gehen, für Wirbel gesorgt und ihr den Vorwurf eingebracht, sie unterschlage beträchtliche Bundes- und Landesförderungen.

Nun kommt der nächste große Vorwurf: Die Initiative Göttingen Zero, die hinter dem Entscheid steht, wirft Broi­stedt vor, mit fehlerhaften Zahlen zu hantieren. „Durch mehrere peinliche mathematische Denkfehler wurden dem Rad­entscheid insgesamt 18 Millionen Euro in die Schuhe geschoben“, kritisiert die Initiative.

Bevor über den Ausbau von Göttingens Radverkehr am 9. Juni parallel zur Europawahl abgestimmt wird, hat die Göttinger Stadtverwaltung pflichtgemäß eine Kostenkalkulation über die Folgen des Votums abgegeben. Göttingen Zero hatte zwei Abstimmungen beantragt: ein erstes Votum über allgemeine Ziele für eine fahrradfreundliche Stadt, ein zweites über konkrete Umbauprojekte, etwa Protected Bike Lanes. Für das erste bezifferte Broistedt die Kosten auf 39,4 Millionen Euro, für das zweite auf 56,4 Millionen, zusammen also knapp 100 Millionen.

In beiden Kalkulationen seien bei der Überprüfung handfeste Berechnungsfehler aufgetaucht, kritisiert die Initiative gemeinsam mit Francisco Welter-Schultes, der für das Göttinger Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung im Stadtrat sitzt.

Mehrere Berechnungsfehler entdeckt

In der Kalkulation für das erste Votum habe die Verwaltung zwei Millionen Euro zu viel errechnet. „Die Verwaltung hat übersehen, die Kosten für das erste Halbjahr 2024 abzuziehen – und hat sich sozusagen zwei Millionen Euro fürs Nichtstun angerechnet“, sagt Welter-Schultes. „Der Bürgerentscheid findet ja erst im Juni 2024 statt.“

Bei der Kalkulation zum Entscheid über konkrete Umsetzungsmaßnahmen haben die Ak­ti­vis­t:in­nen einen deutlich dramatischeren Fehler entdeckt. So seien für den Umbau einer der großen innerstädtischen Straßen einzelne Kostenpunkte doppelt berechnet worden.

„Der Fehler macht 19,5 Millionen Euro aus“, kritisieren die Aktivist:innen. Dass die Kalkulation aber unterm Strich nur um 16,2 Millionen zu hoch ausfalle, liege wiederum daran, dass weitere mathematische Fehler begangen worden seien, die sich allerdings zugunsten des Bürgerentscheids auswirkten.

Nachdem sich die Initiative schon zuvor über die Kostenkalkulation beschwert hatte, veröffentlichte die Stadtverwaltung vergangene Woche eine „Richtigstellung“. Mit dem Satz „Die Kosten für die beiden Bürger­entscheide zum Radentscheid I und II sind korrekt berechnet“, weist die Stadt die Kalkulation von Göttingen Zero pauschal zurück. Die Initiative hatte für ein doppeltes Ja bei den Rad­entscheiden Kosten von rund 25 Millionen Euro über sechs Jahre verteilt errechnet.

Mehr Demokratie fordert Gesetzesänderung

Auch auf Nachfrage der taz, ob die neuen Vorwürfe hinsichtlich fehlerhafter Kalkulationen schon geprüft seien, reagiert die Stadt mit knappen Worten: „Die Vorwürfe sind nicht haltbar“, sagt Broistedts Sprecher Dominik Kimyon. Die Kostenkalkulation der Stadt sei realistisch und berücksichtige auch weitere Ansätze, etwa für Beteiligungsverfahren.

Angesichts der schwelenden Debatte fordert der Landesverband von „Mehr Demokratie“ die Streichung der seit 2021 in Niedersachsen vorgeschriebenen Kostenschätzung, die auch auf die Wahlzettel gedruckt wird. Die sei für Laien kaum überprüfbar. „Die Zahl ist wie immer umstritten“, sagt Landessprecher Dirk Schumacher. „Es gibt keine allgemeingültige, seligmachende, geschweige denn exakte Zahl. Deshalb gehört diese Zahl nicht auf Unterschriftenlisten und Stimmzettel.“

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2 Kommentare

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  • "Es gibt keine allgemeingültige, seligmachende, geschweige denn exakte Zahl."



    Es gibt aber die ziemlich allgemeingültige Erfahrung, dass öffentliche Bauvorhaben stets teurer werden, als ursprünglich geschätzt.

  • Kostenschätzungen und politische Entscheidungen haben nur einen losen Zusammenhang, tendenziell zum Nachteil für das Gemeinwesen.



    Beispiele: Hauptbahnhof Berlin, Hauptbahnhof Stuttgart, Elbphilharmonie, diverse Landes- und Bundesgartenschauen, öffentlich finanziell geförderte Gewerbeansiedlungen (Nokia, Tesla etc.), politisch geförderte Wirtschaftsakteure (Wirecard, Benko)



    Daher wäre es folgerichtig, solche Kostenschätzungen nicht nur nicht auf Wahlzettel zu drucken, sondern sie komplett zu unterlassen, da sie im wesentlichen Desinformationen beinhalten. Das finanzielle Ergebnis für das Gemeinwesen ist mit oder ohne Schätzung in der überwiegenden Zahl der Fallbetrachtungen gleich.



    Die entscheidende Frage ist jeweils: Welche Bedeutung hat ein Projekt oder eine politische Entscheidung für das Gemeinwesen. Wenn die nicht ehrlich beantwortet werden kann, ist alles andere gleichgültig.