Aktivist über Inklusion im Arztwesen: „Es geht um die Regelversorgung“
Das Gesundheitswesen ist bei der Inklusion von Menschen mit Behinderung hinterher. Aktivist H.-Günter Heiden fordert mehr als barrierefreie Toiletten.
wochentaz: Herr Heiden, haben alle gesetzlich versicherten Menschen in Deutschland gleichberechtigten Zugang zum Gesundheitssystem?
H.-Günter Heiden: Absolut nicht. Für Menschen mit Behinderungen kann ich Ihnen da gleich ein konkretes Beispiel nennen: Gestern suchte eine Kollegin aus unserem Bündnis von Behindertenrechtsorganisationen, die den Rollstuhl nutzt, ganz verzweifelt nach einem barrierefreien Zahnarzt. Wir haben dann aus allen Himmelsrichtungen versucht, einen Zahnarzt ausfindig zu machen. Das ist die Situation, und das zeigt eigentlich schon: Es gibt für Menschen mit Behinderungen überhaupt keine freie Arztwahl.
Obwohl dieses Recht allen gesetzlich Versicherten zusteht.
Selbst wenn die Praxis erreichbar ist, fehlt es oft an barrierefreiem Mobiliar oder Toiletten. Es gibt zum Beispiel in ganz Deutschland nur eine Handvoll gynäkologischer Praxen, die wirklich barrierefrei behandeln können. Darauf machen Organisationen behinderter Frauen seit Jahren aufmerksam. Das ist die Realität 15 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention.
71, ist Koordinator des Bündnisses Inklusives Gesundheitswesen, in dem sich Selbstvertretungen und Träger der Behindertenhilfe zusammengeschlossen haben. Heiden hat Heilpädagogik und Publizistik studiert, seit den 1980er Jahren engagiert er sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
Sie arbeiten selbst seit Jahrzehnten zum Thema Behindertenrechte und Inklusion. Ist es hierzulande um das Gesundheitswesen besonders schlecht bestellt?
Eindeutig ja. Mit der UN-Behindertenrechtskonvention sollte sich der Blick auf Behinderung verändern – hin zum menschenrechtlichen Modell. Aber das Gesundheitswesen und das Gesundheitsministerium beharren noch am beständigsten auf dem medizinischen Modell: Die Behinderung ist das Defizit und das ist dann dafür verantwortlich, dass ich irgendwo nicht reinkomme. Und nicht andersherum: Es ist ein Menschenrecht, gleichberechtigt mit anderen Menschen Zugang zu allen Lebensbereichen zu haben. Da sind andere Ministerien schon viel weiter.
Ausgerechnet der Gesundheitsbereich hinkt hinterher? Wo eine gute Versorgung für viele Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen doch so elementar ist.
Ja, da stoßen wir immer wieder auf Granit. Teilweise will man uns dann wieder in spezialisierte Sonderabteilungen abschieben. Aber darum geht es halt nicht. Es geht darum, die stinknormale Regelversorgung – auch außerhalb der Großstädte – diskriminierungsfrei zu gestalten, sodass ich als Mensch mit Beeinträchtigung die freie Wahl habe. Das geben unsere Gesetze schon jetzt vor: Im Sozialgesetzbuch steht, dass die Versorgung barrierefrei erbracht werden soll und dass den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen ist. Aber wenn man dann mit den Ärztekammern spricht, dann geht das immer alles nicht und ist zu teuer. Dabei wäre es ein Leichtes, bei Neuzulassungen und Praxisübernahmen Barrierefreiheit zur Bedingung zu machen. Stattdessen werden immer noch Praxen zugelassen, die dann wieder Jahrzehnte nicht barrierefrei nutzbar sind.
Wenn wir über Barrierefreiheit im Gesundheitswesen sprechen, dann umfasst das ja nicht nur die Zugänglichkeit für Rollstuhlnutzer*innen.
Der Begriff der Barrierefreiheit ist im Behindertengleichstellungsgesetz definiert und umfasst alle Formen von Beeinträchtigungen. Denken Sie da nur an die Lesbarkeit von Aufklärungsformularen für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen oder die Verfügbarkeit von medizinischen Informationen in Gebärden- oder Leichter Sprache.
Nun will doch aber das Bundesgesundheitsministerium einen Aktionsplan für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen vorlegen. Ändert sich jetzt endlich etwas?
Es ist immerhin ein Schritt in die richtige Richtung. Das Problem ist aber aus unserer Sicht, dass dieser Aktionsplan nicht an der UN-Behindertenrechtskonvention ausgerichtet ist.
Wieso denn nicht, es heißt doch „für ein inklusives Gesundheitssystem“?
Wenn uns Leute aus dem Ministerium anrufen und fragen, was wir eigentlich unter Inklusion verstehen, dann frage ich mich: Wie weit sind wir eigentlich?! In der Projektgruppe im Ministerium sitzen engagierte Menschen, die versuchen, die vielen Vorschläge aus dem schriftlichen Beteiligungsverfahren einzuordnen. Aber ich habe das Gefühl, wir befinden uns da noch auf dem Level eines Fortbildungsprogramms für das Ministerium. Irgendwann wird es sicher ein dickes Bündel Papier geben. Aber wenn da keine konkreten Maßnahmen drinstehen, sondern nur Modellprojekte, wenn keine verbindlichen Regelungen und Sanktionen in Gesetzen und Zulassungsverordnungen verankert werden und keine Mittel zur Verfügung gestellt werden, dann wird das so wirksam, wie wir es schon von anderen Aktionsplänen kennen. Im Moment ist eh Funkstille, obwohl eigentlich im Frühjahr ein Entwurf vorgelegt werden sollte. Wir werden da jetzt mal nachfragen im Ministerium.
Egal, was da jetzt genau kommt: So schnell werden Arztpraxen nicht im großen Stil barrierefrei werden.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Das stimmt, aber für Neuzulassungen ließe sich das verankern. Außerdem gibt es noch das Mittel der angemessenen Vorkehrungen: Auch wenn eine Praxis nicht sofort komplett barrierefrei gestaltet werden kann, kann sie zum Beispiel eine Abmachung mit dem benachbarten Sanitätshaus zur Nutzung der barrierefreien Toilette treffen. Im anglo-amerikanischen Raum gibt es dieses Konzept schon sehr lange.
Was sind weitere Baustellen?
Es gibt noch immer keine allgemeingültige Regelung zur Aufnahme von Begleitpersonen im Krankenhaus, und die Selbstbestimmungsrechte von Patient*innen mit Behinderungen werden oft nicht gewahrt. Da wird zum Beispiel nicht die Person mit Beeinträchtigung angesprochen, sondern zuerst die Begleitperson: „Was hat er oder sie denn …“
Eine Frage von Wissen und Sensibilisierung …
Ja, das gehört in die Aus- und Fortbildung der medizinischen Kräfte. Auch da müssen Verordnungen entsprechend geändert werden. Im Moment ist es tatsächlich Glückssache, ob und wie ich behandelt werde. Und das muss sich ganz dringend ändern.
Am 5. Mai ist mal wieder ein Aktionstag, an dem vielleicht mehr Menschen auf das Thema Inklusion schauen. Aber ist die Geschwindigkeit der Veränderungen nicht insgesamt frustrierend?
Ich war ja schon 1992 dabei, vor über 30 Jahren, als wir den 5. Mai als Europäischen Protesttag zur Gleichstellung behinderter Menschen ins Leben gerufen haben. Seitdem gab es sehr langsame Fortschritte. Wir haben Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 im Grundgesetz („Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“, Anm. d. Red.) erkämpft, gegen den Widerstand von vielen. 2001 kam das Neunte Buch des Sozialgesetzbuchs zur Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, 2002 das Behindertengleichstellungsgesetz. Wir haben damals schon gesagt: Wir wissen, es geht nicht alles von heute auf morgen, aber lasst uns Fristen vereinbaren, innerhalb derer Umrüstungen stattfinden müssen. Das ist nicht passiert, sonst wären wir schon sehr viel weiter.
Und jetzt glauben Sie beim Aktionsplan des Bundesgesundheitsministeriums auch nicht an verbindliche Regelungen?
Ich erwarte einen zahnlosen Tiger und fürchte, wir müssen die Forderung nach konkreten Gesetzesänderungen in die nächste Legislaturperiode mitnehmen.
Das klingt jetzt schon ziemlich frustrierend.
Wenn man lange in dem Geschäft ist, hat man kämpfen gelernt und weiß, dass Fortschritte verdammt lange dauern. Die Aktiven, die jetzt dran sind, kämpfen im Grunde für die Kids im Rollstuhl – damit die vielleicht in zehn Jahren die freie Arztwahl haben.
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