Die EU vor den Europawahlen 2024: Europa als Föderation

Die schwerfällige Europäische Gemeinschaft braucht dringend Reformen. Das Einstimmigkeitsprinzip zuallererst hängt wie ein Klotz am Bein der EU.

Illustration - ein Reisender winkt einer Gruppe zu, die sich unter einem Schirm mit EU-Logo versteckt

Illustration: Katja Gendikova

Im Dezember 2023 beschlossen die Staats- und Regierungschefs der EU, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine, der Republik Moldau, Georgien und allen Balkanländern aufzunehmen, die noch nicht Mitglied der EU sind. Was die Türkei betrifft, so sind die 2024 eingeleiteten Verhandlungen zum Erliegen gekommen, ohne dass diese formell abgebrochen wurden. Sollte der Prozess zu Ende geführt werden, hätten wir eine EU der 36.

Es ist richtig, Ländern, die brutal angegriffen oder bedroht werden, eine Zukunftsperspektive zu bieten. Es liegt auch in unserem Interesse, dass unsere Werte und eine gewisse Stabilität unsere Nachbarschaft prägen, aber großzügige Versprechungen greifen schlicht zu kurz. Wie verhindern wir, dass die Union in einem großen, heterogenen und nicht handhabbaren Gebilde aufzugehen droht? Niemand weiß das. Es wurden Versprechungen gemacht, ohne dass ein Gesamtkonzept oder Stufenplan vorliegen.

Frankreich und Deutschland teilen nicht die gleiche Überzeugung, gleichwohl beide Länder eine einzigartige Verantwortung tragen: im Namen der Geschichte und aufgrund der zerstörerischen Kraft ihrer Zerwürfnisse. Wenn diese jedoch ausgeräumt werden, wird die Komplementarität der bestehenden Unterschiede sichtbar. So betont Frankreich mit Blick auf die russische Aggression die Bedrohung, die eine Entsendung von Bodentruppen erforderlich machen könnte.

Und die Bundesregierung erinnert daran, dass man einen Krieg nie auf die leichte Schulter nehmen sollte. Abgesehen von wahltaktischen Überlegungen zeigt diese Debatte, dass wir wahrhaftig beide Ansätze brauchen. Die deutsch-französische Zusammenarbeit offenbart sich wieder einmal als „Checks and Balances“ Europas.

Die Autorin Sylvie Goulard

war in den Jahren 2009 bis 2017 Mitglied des Europäischen Parlaments und 2017 Verteidigungsministerin Frankreichs.

EU ist für ihre Mission nicht ausgestattet

Es ist unvernünftig zu meinen, man könne mit der (endlosen) Erweiterung der 1950 gegründeten Europäischen Gemeinschaft und den bestehenden europäischen und oft missverstandenen Institutionen eine Wand gegen aggressive Mächte errichten. Wenn sich alle einig sind, dass die Union nicht mit staatlichen Hoheitsrechten ausgestattet werden soll, müssen wir aufhören, sie ständig mit den mächtigsten Staaten der Welt zu vergleichen. Es sei denn, am Ende setzt sich das Offensichtliche durch:

Die EU ist für das, was man von ihr verlangt, nicht angemessen ausgestattet. Und daher drängt sich ein föderales Europa auf. Angesichts der russischen Bedrohungen und der Gefahr eines US-Isolationismus sollten wir uns reinen Wein einschenken: Es gibt keine politische Macht ohne solide Finanzen (wie es in Frankreich gern geglaubt wird) noch wirtschaftliche Macht, ohne Verantwortung für Sicherheit zu übernehmen (wie es die Deutschen lange Zeit gehofft haben).

Älterer Herr mit grauen Haaren und Brille: Daniel Cohn-Bendit

Geboren 1945 in Montauban, Frankreich. Publizist und Politiker der Grünen in Frankreich und Deutschland. Lebt in Paris und Frankfurt/M. Von 1994 bis 2014 Mitglied im Europäischen Parlament in Brüssel und Co-Vorsitzender der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz.

Und ganz zu schweigen von der Notwendigkeit einer tiefgreifenden Demokratisierung der Entscheidungsprozesse: kein demokratisches Europa ohne die Zustimmung der Bürger, kein Europa ohne ein Wir-Gefühl, das die Abgabe und das Teilen von Souveränität rechtfertigt. In dem Maße, in dem die großen Europäer der Vergangenheit nicht mehr unter uns weilen (Napolitano, Delors, Schäuble, um nur einige zu nennen), verliert das europäische Zugehörigkeitsgefühl weiter an Boden.

Auf der politischen Rechten und Linken sind die Extreme auf dem Vormarsch, getragen von nationalistischen und protektionistischen Versprechen. Ihre genialen Ideen würden uns zum Völkerbund zurückführen, mit dem uns allen bekannten Erfolg. Auch die traditionellen Parteien sind weit davon entfernt, etwas für die europäische Einigung zu riskieren und ziehen sich lieber in ihr bequemes Schneckenhaus zurück. Und die Kommission wird nebenbei zum Sekretariat der Hauptstädte degradiert.

Jeder zuvorderst für sich selbst

Der Beweis? Ein Stabilitätspakt, der zu einem gegenseitigen Nichtangriffspakt entwertet wurde, eine Wettbewerbspolitik, die mit der Aussetzung der Verbote staatlicher Beihilfen auf ein Minimum reduziert wurde. Bei den Subventionen gilt: Jeder für sich allein, zum Vorteil der Stärksten. Bei der Kampagne für die Europawahlen geht es weniger um Europa als um den Bauchnabel eines jeden Einzelnen. Wir sind auf dem besten Weg, 27 Einzelpartien zu spielen.

Um erfolgreich zu sein, muss die Europäische Union ihre Politik, ihren Haushalt und ihre Rechtsnormen auf den Prüfstand stellen. Deshalb würden wir am liebsten rufen: Die Wette gilt! Traut ihr euch endlich, ein föderales Europa zu schaffen? 30 Jahre nach ihrer Einführung steckt die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik immer noch in den Kinderschuhen, um nicht zu sagen, sie ist inexistent.

Das Versprechen, die EU zu einem „geopolitischen“ Akteur zu machen, wird keine leichte Aufgabe sein, vor allem wenn wir unsere Art der Entscheidungsfindung nicht reformieren. Aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips bezieht die Union keine eindeutige Position zu dem abscheulichen Angriff der Hamas vom 7. Oktober und dem schrecklichen Drama, das sich in Gaza abspielt.

Die europäischen Steuerzahler haben Gesundheits-, Bildungs- und Verwaltungseinrichtungen im Gazastreifen finanziert, aber die EU ist nicht in der Lage, die Parteien von einem Waffenstillstand zu überzeugen, die Freilassung der Geiseln zu erwirken oder substanziell zu einer dauerhaften Lösung des Konflikts beizutragen. Wie kann man unsere offensichtliche Verwundbarkeit übersehen, wenn die Entsendung von Truppen durch 27 nationale Entscheidungsprozesse legitimiert werden muss?

Nur keinen Zickzackkurs

Als Teil des europäischen Schauspiels tauchen die nationalen Regierungschefs sporadisch in Brüssel auf, um ihre von nationalen Scheuklappen beschränkten Standpunkte kundzutun und diese danach auf getrennten Pressekonferenzen der jeweiligen nationalen Öffentlichkeit zukommen zu lassen. Anders als beim Euro: Als wir ihn schufen, kam der Euro dabei heraus, wir haben dem Bürger nicht einen Korb voller Währungen für eine Währungsunion verkaufen wollen.

Was aber würden uns die geplanten Verteidigungsanstrengungen kosten? Mit welchen Auswirkungen auf die nichtmilitärischen Haushaltsposten? Ein auf transparente Weise vom Parlament verabschiedeter Haushalt, der dem undurchsichtigen Feilschen zwischen Mitgliedstaaten ein Ende setzt, wäre das Mindeste, das die Union angehen sollte, die solch geopolitische Ambitionen an den Tag legt. Verhandlungen, die mit 27 Mitgliedstaaten ineffizient sind, wären bei einer Anzahl von 35 oder 36 selbstmörderisch.

Es werden Abwägungen erforderlich sein, bei denen es zwingend notwendig ist, den Green Deal – das Paket ehrgeiziger Klima- und Umweltpolitiken – weiter umzusetzen und zu vertiefen. Die Wissenschaftler sind sich darüber im Klaren, dass Eile geboten ist. Wiederherstellung der Natur, Sorgfaltspflicht, Pestizide: Konsequenz erfordert Beständigkeit. Nichts ist schädlicher als ein Zickzackkurs, der Unternehmen und Bürgern widersprüchliche Signale sendet.

Wird die Agrarpolitik in ihrer momentanen Konzeption, die seit Jahrzehnten den größten Ausgabenposten der EU ausmacht, fortgesetzt? Der Beitritt der Ukraine würde zwar das Agrar- und Lebensmittelpotenzial Europas stärken, aber wir verschweigen die damit verbundenen Kosten und diskutieren nicht über ein wünschenswertes Agrarmodell:

Kein Europa zum Schleuderpreis

Entweder nachhaltig, ohne die Gesundheit der europäischen Landwirte oder die Märkte der südlichen Länder zu gefährden oder aber gewinnorientiert, intensiv und letztlich unhaltbar für unsere Gesundheit und den Planeten? Schließlich erfordert die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit mehr Ernsthaftigkeit. Bisher verfügt die Kommission nicht über die Mittel, die Umsetzung der EU-Grundrechtecharta zu überwachen.

Nicht nur im Osten sehen wir bereits jetzt Verstöße hinsichtlich Medienkonzentration, Desinformation oder des Zustands der Gefängnisse. Um die Erweiterung besser gestalten zu können, glaubt die Kommission eine Zauberformel gefunden zu haben: die Integration in Etappen. Diese Selbstdemontage ist das Gegenteil der Position, die die Union im Brexit vertreten hat.

Es kommt einem Täuschungsmanöver nah, ja einem Europa zum Schleuderpreis, während der Wert der Mitgliedschaft in der Teilhabe der Institutionen wie dem Parlament (das die Regeln setzt) und dem Gerichtshof (der sie durchsetzt) liegt. Hinter den Slogans von einem mächtigeren Europa steht eigentlich der reduzierte Gedanke des Europas als Markt, nur dass dieser nun besser verpackt wurde.

Die Vergabe von Rechten, ohne die Pflichten einzufordern, würde letztendlich nur zu Verwirrung und zur Zerfaserung des gemeinsamen Regelwerks führen. Man kann jetzt schon davon ausgehen, dass die bisherigen Mitgliedstaaten auch Anpassungen einfordern werden. Und wie sollen die Bürger dann noch wissen, wo die Union anfängt und wo sie endet? Warum stehen wir für ein föderales Europa ein? Diese Forderung hat weder etwas mit Träumerei noch mit Nostalgie zu tun.

Wir sollten den gesunden Menschenverstand walten lassen und das föderale Modell annehmen, um ein handlungsfähiges, demokratisches Europa zu schaffen, das den Bürgern zwingend Rechenschaft ablegt. Ein föderales Europa würde den Vorrechten der Mitgliedstaaten in angemessenerer Weise nachkommen als eine Union, in der wir dem Gutdünken der nationalen Regierungen ausgesetzt sind.

Es ist unsere einzige Chance, um als erweiterte EU zu überleben und den enormen Herausforderungen gerecht zu werden. Die Alternative wäre, uns weiter in Sonntagsreden zu verlieren.

Aus dem Französischen von Tjark Egenhoff

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