piwik no script img

Holstein Kiel gewinnt 1:0 gegen den HSVIn der Ruhe liegt die Kraft

Holstein Kiel muss nicht in die erste Bundesliga aufsteigen, wird es aber wohl. Beim HSV ist es andersherum. In Hamburg gewannen die Kieler mit 1:0.

Kieler Jubel nach dem Spiel: Vorlagengeber und Rot-Sünder Lewis Holtby hat schon seine Jacke an Foto: Marcus Brandt/dpa

Hamburg taz | Ecke für den HSV, Ludovit Reis läuft an, rutscht aus, der Ball trudelt die Grundlinie entlang – eine symptomatische Szene für das Spiel des HSV gegen Holstein Kiel. Die reguläre Spielzeit ist da schon abgelaufen, der HSV liegt mit 0:1 hinten gegen zehn Kieler.

Lewis Holtby ist vom Platz geflogen, übermotiviert hat er sich innerhalb von zwei Minuten zwei gelbwürdige Fouls geleistet. Holtby hat fünf Jahre beim HSV gespielt, ist mit ihm abgestiegen und wurde mit Schimpf und Schande vom Hof gejagt. In Kiel ist der 33-Jährige Anführer einer über Jahre gewachsenen Mannschaft, der die entscheidenden Akzente setzt – manchmal mit Fouls, viel öfter aber mit perfekt getimeten Pässen in die Spitze und wichtigen Toren. Auch diesmal gab er die Vorlage zum Siegtor.

Als er vom Platz geht, lächelt Holtby, klatscht mit Trainer Marcel Rapp ab. Er weiß, dass sein Team hier einen Riesenschritt machen kann, wenn es die nächsten 20 Minuten übersteht. Und er vertraut darauf. Später, als das geschafft ist, sagt er in die Fernsehkameras: „Die Jungs haben gekämpft wie Löwen. Ich habe selten so eine Truppe gesehen. Das ist ein Team, das sind Brüder.“

Damit hat er einen wesentlichen Faktor für den Erfolg benannt. Holstein steht unmittelbar vor dem erstmaligen Aufstieg in die erste Fußball-Bundesliga, hat den HSV mit dem Auswärtssieg auf zwölf Punkte distanziert. Das Schlimmste, was dem Tabellenersten noch passieren kann, sind zwei Relegationsspiele gegen den Drittletzten der Bundesliga.

Für den HSV ist nun sogar die Relegation fast utopisch

Genau das war für den HSV vor dem Spiel das letzte verbliebene Saisonziel, nach der Niederlage ist es angesichts von sechs Punkten Rückstand auf Düsseldorf und des deutlich schlechteren Torverhältnisses schon fast utopisch. Der HSV steht vor den Scherben seiner Saison, muss sich auf ein siebtes Jahr in der Zweiten Liga einstellen.

St. Pauli zurück in der Spur

Mit einem 2:1 Auswärtssieg bei Hannover 96 hat der FC St. Pauli zurück in die Spur gefunden.

Nach zuletzt zwei Niederlagen in Karlsruhe (1:2) und am Millerntor gegen Aufsteiger SV Elversberg (3:4) war der Aufstiegsfavorit ins Schlingern geraten.

In Hannover wirkte das Team von Trainer Fabian Hürzeler zunächst verunsichert, fand dann besser ins Spiel. Dapo Afolayan köpfte St. Pauli in Führung, kurz vor der Pause glich Hannovers Lars Gindorf bei seinem Startelf-Debüt aus. Johannes Eggestein traf per Kopf nach einer Ecke zum 2:1 Endstand für St. Pauli.

Auf Platz zwei der Tabelle bleibt St. Pauli, fünf Punkte vor Fortuna Düsseldorf und elf vor dem HSV, der bei vier ausstehenden Spielen nur noch theoretische Chancen hat, den Nachbarn einzuholen. Hannover 96 kann bei zehn Punkten Rückstand den Relegationsplatz drei auch kaum mehr erreichen.

Der späte Trainerwechsel hat nicht den erhofften Erfolg gebracht. Unter Steffen Baumgart wurden zwar die hanebüchenen Abwehrfehler seltener, aber der Preis dafür ist eine geringere Durchschlagskraft in der Offensive.

Nun wird beim HSV wieder die Suche nach den Schuldigen beginnen. Und unweigerlich wird der Blick dabei auf Sportvorstand Jonas Boldt fallen. Er hatte Baumgarts Vorgänger Tim Walter geholt und zu lange an dem beratungsresistenten Offensiv-Ideologen festgehalten. Kaum vorstellbar, dass er auch in der kommenden Saison noch am Ruder sein wird.

Aber wer lenkt dann eigentlich die Geschicke des HSV? Nach jahrelangen Machtkämpfen haben selbst viele Sympathisanten den Überblick verloren. Die einzige personelle Konstante der vergangenen Jahre, Vereinspräsident Marcell Jansen, ist in der HSV AG entmachtet. Als der HSV kürzlich seine Rechtsform ändern wollte, um mehr Anteile veräußern zu können, kamen nicht mal 0,5 Prozent der Mitglieder zur Versammlung und ließen den wirtschaftlich dringend benötigten Anteilsverkauf scheitern.

Holstein wäre zweimal fast aus Versehen aufgestiegen

Holstein Kiel ist sozusagen der Gegenentwurf dazu. Bis heute als Verein organisiert, arbeitet das Präsidium seit Jahren geräuschlos zusammen. Der Aufstieg in die Erste Liga war nie erklärtes Ziel. Dennoch wäre er 2018 und 2021 beinahe einfach so passiert, Holstein scheiterte jeweils in der Relegation.

Sportchef Uwe Stöver gibt sein Amt am Ende dieser Saison auf eigenen Wunsch auf. Seinen Nachfolger hat er selbst mit ausgesucht: Carsten Wehlmann, Architekt des Bundesliga-Aufstiegs von Darmstadt 98, steht für Kontinuität.

Mit seinem ruhigen Umfeld und der übersichtlichen Medienlandschaft vor Ort ist Holstein eine Art Inkubator für Trainer-Talente geworden. Immer wieder haben die Kieler Jugendtrainer von Proficlubs zum Chefcoach gemacht und sind damit gut gefahren. Auch wenn sie sie häufig schnell wieder ziehen lassen mussten.

Der vorerst Letzte in dieser Reihe ist Marcel Rapp, der von der TSG Hoffenheim kam, ein freundlicher Badener mit Hang zum Tiefstapeln. Er hat sein Team ziemlich überraschend an die Spitze der Liga geführt, trotz zahlreicher verletzter Spieler. Immer wieder hat er starken Ersatz im eigenen Kader gefunden, auch ein Zeichen dafür, dass die langfristige Aufbauarbeit des Vereins Früchte trägt.

Nach dem Sieg beim HSV wollte Rapp das Wort „Aufstieg“ immer noch nicht in den Mund nehmen, sprach nur vom nächsten Spiel. Und von seiner Vorbereitung auf den HSV: „Ich hab einen Mittagsschlaf gemacht.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!