Romani Rose über Rechte von Sinti & Roma: „Für Roma gibt es eine Apartheid“

Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma tritt seit Jahrzehnten für die Minderheit ein. Ein Gespräch, auch über Kritik aus seiner Community.

Ein Mann schaut versonnen

Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma in Berlin Foto: imago

taz: Herr Rose, wie geht es Ihnen am heutigen Internationalen Tag der Roma?

Romani Rose: Ich bin besorgt über die Entwicklung in unserem Land und den neuen Nationalismus. Mit Fassungslosigkeit habe ich das Treffen in Potsdam wahrgenommen.

Romani Rose wurde 1946 in Heidelberg geboren. Er hat 1982 den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma mitgegründet und ist seitdem dessen Vorsitzender.

Rechte Stimmung trifft Sinti und Roma meist besonders hart.

Rechtsextremismus und Nationalismus zeigen sich mit Gewalt, und Sinti und Roma waren in der Vergangenheit Opfer – nach der Wende beispielsweise in Rostock und Hoyerswerda. Die Amadeu Antonio Stiftung spricht von über 200 Opfern rechter Gewalt nach der Wiedervereinigung. Das ist schrecklich. Dieser Staat hat über lange Jahrzehnte hinweg den Rechtsextremismus und Nationalismus verharmlost und kleingeredet, weil viele in unserem Land den Rechtsextremismus gleichtun mit Patriotismus. Und das ist ein Fehler, der sich gegen unsere Gesellschaft als Ganzes wendet.

Würden Sie sagen, Sie sind Patriot?

Ich betrachte mich als ein Patriot. Das ist meine Heimat, auch mein Land und das Land meiner Kinder und Enkelkinder. Die Verteidigung der Demokratie und des Rechtsstaats steht für mich im Vordergrund – vor allem anderen. Die Minderheitenrechte werden nur über die Demokratie und über den Rechtsstaat garantiert. Minderheiten haben keine Sonderrechte – sie haben nur die gleichen Rechte. Wenn nun Demokratie und Rechtsstaat beseitigt werden – was einige dieser Leute, die von einer Renaissance der Vergangenheit träumen, als krankhafte Vorstellung haben –, dann hat das totale Auswirkungen auf unsere gesamte Gesellschaft.

Was muss getan werden?

Die Auseinandersetzung mit der AfD muss kompetenter sein und ist zu oberflächlich. Die Partei nur in die rechte Ecke zu stellen ist zu wenig. Wir müssen der Bevölkerung klarmachen, was es bedeutet, wenn diese Leute an der Regierung sind, wenn der Staat von diesen „Herrenmenschen“ repräsentiert wird, die glauben, in Europa die Führung zu übernehmen. Es hätte auch für unsere Wirtschaft katastrophale Folgen. Die Leute werden sich alle wundern über ihre Arbeitsplätze, die wegfallen.

Wie kann der richtige Umgang mit der AfD aussehen?

Es gibt es ja jetzt in Thüringen vor der anstehenden Landtagswahl schon Tendenzen, mit der AfD ein Fernsehduell zu führen. Ich halte das für sehr problematisch. Mit jemandem ein Gespräch zu führen, der seine Menschenfeindlichkeit, seinen Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus ganz klar zum Ausdruck gebracht hat, das kommt der Verantwortung aus der Geschichte nicht nach. Diese Leute verharmlosen die NS-Verbrechen, sie verhöhnen die Opfer, und sie müssen von der Demokratie geächtet werden.

Sie setzen sich seit den 1970er Jahren für die Bürgerrechte der Sinti und Roma ein. Wenn Sie auf die letzten Jahrzehnte zurückblicken, welche Erfolge Ihres Kampfes würden Sie besonders hervorheben?

Vor allen Dingen: die Anerkennung als nationale Minderheit 1995. Ebenso die Anerkennung des Holocaust, des Völkermords an den 500.000 Sinti und Roma im NS-besetzten Europa, die natürlich erst 1982, fast 40 Jahre verspätet, kam. Auch die Errichtung des Denkmals in Berlin, für die wir viele Jahre eingetreten sind, und dass in Städten und Gemeinden in unserem Land Erinnerungstafeln und Gedenksteine angebracht werden, die an die ehemaligen Mitbürger erinnern. All das, was wir gemacht haben, hätte ich mir vor 40 Jahren nicht vorstellen können. Das sind wichtige Zeichen für eine gemeinsame Verantwortung und für eine allgemeine Aufarbeitung der Geschichte. Mir ist hierbei wichtig, dass Erinnern nichts mit einer Schuldübertragung auf die heutige Generation zu tun hat.

Aber es geht doch um eine Verantwortung der heutigen Generationen?

Verantwortung hat ja mit Schuld nichts zu tun. Verantwortung lehnt sich an das Wissen aus der Geschichte an, und wir alle müssen wissen, wo die uns hingeführt hat: Der Nationalsozialismus hat ganz Europa in den Abgrund gerissen. Erinnern heißt für uns, Verantwortung zu übernehmen für das Vermächtnis der Opfer von Auschwitz, der 6 Millionen Juden und der 500.000 Sinti und Roma und für die Situation des Unrechts in ganz Europa. Nationalisten sollten in der Konsequenz in unserem Land keinen Platz mehr haben.

Im Juni sind Europawahlen. Roma sind die größte Minderheit Europas. Welche Themen müssten auf europäischer Ebene angegangen werden?

Papier ist geduldig, und es gibt eine Menge Erklärungen, die auf europäischer Ebene abgegeben wurden. Ich würde mir wünschen, dass die EU-Kommissionspräsidentin oder ihre Stellvertreter mal in ein Ghetto in Rumänien, Bulgarien, Tschechien oder der Slowakei gehen und sich dort die Segregation angucken, die unmenschlichen unwürdigen Lebenssituationen, in die Menschen abgeschoben worden sind. Vor dem Ende der Planwirtschaft hatten die Angehörigen der Minderheit eine Arbeit. Nach dem Wegfall der Mauer waren sie die Ersten, die aus den Fabriken geflogen sind. Sie konnten ihre Miete nicht mehr bezahlen und leben jetzt in einer Situation, die an eine Apartheid erinnert. Und das vor unserer Haustür.

Warum gibt es in Bezug auf den Holocaust eine Ungleichbehandlung der Politik in der Wahrnehmung von Verantwortung gegenüber den Opfern? Wir fühlen uns verpflichtet, in Bezug auf Israel und in Bezug auf die Juden in Europa den Antisemitismus zu ächten. Warum akzeptieren wir und tolerieren wir in unseren Nachbarländern, in Ländern der EU, den Antiziganismus?

In Deutschland soll ein Staatsvertrag mit der Minderheit der Sinti und Roma abgeschlossen werden. Was ist der Stand der Verhandlungen?

Als Zentralrat können wir auf eine vierzigjährige erfolgreiche Arbeit zurückblicken. Alles, was es gibt, von der Anerkennung des Völkermords, der Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen der Überlebenden des Holocaust, der Berufung eines Antiziganismusbeauftragten bis hin zu den Meldestellen für Antiziganimus in den Bundesländern, all das und vieles mehr hat der Zentralrat in seiner Arbeit durchgesetzt. Es wäre ein Zeichen der Anerkennung, wenn das Bundesinnenministerium, das federführend für diese Sache zuständig ist, den Staatsvertrag endlich mit uns abschließt. Seit 2018 sind wir darüber in Verhandlungen, und das Ministerium blockiert die Unterzeichnung.

Das Bundesinnenministerium verweist darauf, dass sich die Zivilgesellschaft – also die verschiedenen Verbände – einig werden sollen.

Das Bundesinnenministerium kam auf die Idee, bei den Verhandlungen über den Staatsvertrag die Bundesvereinigung der Sinti und Roma mit einzubeziehen. Dabei muss man wissen: Die Bundesvereinigung entstand 2021 aus dem Nichts. Einer der Gründer ist Romeo Franz. Er ist grüner Abgeordneter im Europaparlament. Einer unserer Landesverbände, der in Baden-Württemberg, hat sich der neuen Vereinigung sehr schnell angeschlossen. Wir haben auf einer Mitgliederversammlung daraufhin einstimmig beschlossen, den Landesverband auszuschließen. Das Sonderbare ist das erkennbare Verhalten der Politik – und damit kritisiere ich die Grünen –, dass sie diese Bundesvereinigung allein aus parteipolitischen Gründen unterstützt haben.

Romeo Franz spricht davon, dass es Diversität auch innerhalb der Organisation braucht und es verschiedene Verbände geben kann.

Der Zentralrat hat 20 Mitgliedsverbände, die ihm angeschlossen sind und die in unseren Bundesländern aktiv sind. Er hat eine große Repräsentativität und Anerkennung in der Minderheit und besteht seit 1982. Es geht bei einem Staatsvertrag auch um Beständigkeit. Und es geht auch um Würdigung und Anerkennung der Verdienste, die der Zentralrat geleistet hat, um Sinti und Roma auf Augenhöhe mit den anderen drei Minderheiten zu stellen, den Dänen, Friesen und Sorben. Was wir in diesem Zusammenhang erleben, ist die Politik eines „Teilen und Herrschens“ und das kennen wir aus der Geschichte. Dass wir uns beispielsweise mit der Sinti-Allianz, einem weiteren Verband, einig werden sollen, war bereits ein Vorwand, der über Jahre hinweg verhindert hat, dass wir bei der Stiftung „Erinnern, Verantwortung, Zukunft“ angemessen bedacht wurden. Auch beim Mahnmal in Berlin gab es dadurch jahrelange Verzögerungen. Die Sinti-Allianz wird von uns als rassistisch gegen die Roma aus Osteuropa wahrgenommen. Das Bundesinnenministerium weiß das. Hier nun eine Zusammenarbeit zu fordern, kann man nur als gezielten Boykott bezeichnen.

Die anderen Verbände, die Bundesvereinigung der Sinti und Roma und die Sinti-Allianz, wollen kooperieren und auch Sie mit einbeziehen.

Der Zentralrat hat gegenüber dem Bundesinnenministerium bereits dargelegt, warum es keine Zusammenarbeit geben wird.

Sie beanspruchen als Zentralrat die alleinige Vertretung?

Die Bundesregierung muss jetzt eine Entscheidung treffen. Sie kam gern mit der Allianz oder der Bundesvereinigung einen Staatsvertrag abschließen. Mit uns wird es unter diesen Bedingungen keinen Staatsvertrag geben.

Einige Roma, die nach Deutschland geflohen sind, werfen dem Zentralrat vor, sich zu wenig für ihr Bleiberecht eingesetzt zu haben. Erst in den letzten Jahren hat der Zentralrat sich hier vermehrt auch migrationspolitisch für Roma engagiert. Kam das zu spät?

Wir waren seit der Gründung 1982 mit so vielen Dingen konfrontiert. Die wichtigste politische Forderung war für uns zunächst, dass das Unrecht Nazi-Deutschlands anerkannt wird. Mit der Anerkennung des Unrechts ist die Verantwortung europäisch geworden, weil der Völkermord auch in den besetzten Ländern stattgefunden hat. Ich bin schon sehr früh in diese Länder gereist. Kurz nach dem Ende des Krieges war ich beispielsweise im Kosovo. Auch bei meinen Besuchen in osteuropäischen Ländern musste ich feststellen, dass es für Roma eine Art Apartheid gibt. Die Kindersterblichkeit ist zwei- bis dreimal höher als im Durchschnitt, die Lebenserwartung zehn Jahre kürzer. Es gibt Roma-Siedlungen, wo es für 5.000 Menschen nur eine Wasserstelle gibt.

Was wäre Ihr Lösungsvorschlag?

Man muss die Situation in den Ländern verbessern. Dass Menschen nach Deutschland kommen, hängt ja auch mit der unmenschlichen Perspektivlosigkeit zusammen, der sie ausgesetzt sind. Ich bedauere sehr, dass die Bundesrepublik Deutschland hier keine Verantwortung sieht.

Wie könnte die aussehen?

Wieso wird der slowakische Staatspräsident nicht geächtet, wenn er sagt, die Roma würden nicht arbeiten wollen? Diese Form von rassistischer Zuschreibung kennen wir von den Buren, die das genauso über Schwarze gesagt haben. Und wieso wird beispielsweise bei EU-Beitrittsverhandlungen, etwa mit Kosovo oder Serbien, nicht die Verbesserung der Situation der Roma zur Bedingung gemacht? Wir müssen erreichen, dass die Leute wieder eine Perspektive haben, dass die Polizeien dieser Länder über die Geschichte informiert werden und dass die Roma nicht länger als soziale Gruppe am Rand dahinvegetieren.

Bis sich diese Situation verbessert, flüchten Roma beispielsweise aus Serbien aber weiterhin nach Deutschland. Hier wird der Rassismus nicht als Asylgrund anerkannt.

Solange die Situation ist, wie sie ist, sollte auch eine Sensibilität dafür herrschen, dass Roma im Zweifel gute Fluchtgründe haben, weil sie massive strukturelle Diskriminierung erfahren.

Diskussionen gab und gibt es in Deutschland auch um das Mahnmal in Berlin, das „Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas“. Die Deutsche Bahn plant Bauarbeiten wegen der S-Bahn-Linie 21, die auch das Mahnmal beeinträchtigen. Nun hieß es, als Ausgleich könnte ein Besucherzentrum kommen. Wie ist da der Stand?

Die anstehenden Baumaßnahmen hatten wir als eine Gelegenheit gesehen, darüber zu sprechen, es gab da aber bereits Gespräche mit dem Kulturstaatsminsterium über eine Erweiterung des Denkmals um eine Ausstellung mit Biografien. Die Entscheidung ist gefallen, die Freiluftausstellung wurde im Oktober 2022 von Bundespräsident Steinmeier eröffnet. Damit ist die Sache für uns zunächst vom Tisch.

Wie beurteilen Sie die nun beschlossene Bauplanung und die Veränderungen, die dadurch am Mahnmal entstehen werden?

Ich habe mich seit der ersten Information im Frühjahr 2020 mit der Bahn auseinandergesetzt, weil sie uns jahrelang nicht informiert hat und in die Planung der Baumaßnahmen nicht mit einbezogen hat. Ich sah das als Skandal. Wir haben dann gefordert, dass alles transparent überprüft werden muss. Diese Gespräche haben sehr lange gedauert.

Die S-Bahn soll unterirdisch am Brandenburger Tor und dem Reichstagsgebäude vorbeigeführt werden. Dafür wird es mehrere Baugruben und Baustellflächen geben, eine auch auf dem Gelände des Denkmals, wo auch Bäume gefällt werden müssen. Wurden bei den Baumaßnahmen Alternativen diskutiert?

Ja, aufgrund unserer Forderung wurden über 50 Varianten der Trassenführung geprüft. Eine Möglichkeit ist wegen der Sicherheit des Deutschen Bundestages gescheitert, eine andere wegen der Sicherheit der amerikanischen Botschaft. Eine weitere, weil es schon S-Bahn-Gegenverkehr gibt. Wenn die Deutsche Bahn und die Politik eindeutig festlegen, dass es keine andere Möglichkeit gibt, dann sind wir gesprächsbereit. Wir haben den Senat aufgefordert, dass die Öffentlichkeit über den Abwägungsprozess umfassend informiert werden soll.

Sollte das Mahnmal nicht unantastbar sein?

Es wird immer der Eindruck erweckt, als würde das Denkmal beiseitegeräumt. Dem ist nicht so, sondern die S-Bahn-Linie wird unterhalb des Denkmals durchgeführt. Und: Es gibt bereits heute eine Bahnlinie, die darunter durchfährt. Es werden Bäume gefällt. Natürlich haben wir über alles gesprochen. Am Denkmal darf es keine Veränderungen geben, der Zugang muss gesichert sein, auch wenn es zu den Baumaßnahmen kommt. Aber konkret muss das alles noch diskutiert werden.

Manche der anderen Roma-Vertreter werfen Ihnen diese Kompromissbereitschaft vor.

Wir sind Teil der deutschen Gesellschaft und das Denkmal ist nicht das Denkmal der Sinti und Roma. Sondern es ist das Denkmal unseres Staates, der Regierung und unserer Gesellschaft, um die Verantwortung zu sehen, gegen jede Form von Antiziganismus einzutreten und für die Erinnerung, welches Unrecht gegenüber der Minderheit in der Zeit des Nationalsozialismus geschehen ist. Aber unsere Toten liegen in Auschwitz, sie liegen in Buchenwald und in den ganzen Konzentrationslagern. Und wir gedenken ihrer an diesen Orten.

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