piwik no script img

Polizeieinsatz in Göttinger Wohnkomplex„Ortsbegehung“ im Morgengrauen

In Göttingen wurde mit einem Großaufgebot ein Hochhaus kontrolliert, in dem überwiegend Rom*­nja wohnen. Das martialische Vorgehen wird kritisiert.

Zum Teil in Schutz­kleidung im Einsatz: Po­li­zis­t*in­nen führten am Dienstag Kontrollen in einem Göttinger Wohnkomplex durch Foto: Stefan Rampfel/dpa

Göttingen taz | Es waren Hunderte Einsatzkräfte, die sich am Dienstagmorgen um den Göttinger Hochhauskomplex nahe des Bahnhofs aufstellten. An zwei Hauptzufahrtsstraßen in die Stadt parkten um sechs Uhr die Polizeimannschaftsbusse, manche der Po­li­zis­t*in­nen trugen gelbe oder blaue Schutzanzüge, als die Einheiten in die Einfahrt des Hauses in der Groner Landstraße marschierten. Drohnen kreisten währenddessen in der Luft.

Was nach einer groß angelegten Razzia klingt, bezeichnete Göttingens Sozialdezernentin Anja Krause nach Abschluss des gemeinsamen Einsatzes von Stadtverwaltung und Polizei als „Ortsbegehung zur Verbesserung der Lebensumstände“. In Tandems hätten Po­li­zis­t*in­nen und Mitarbeitende der Stadt „ganz in Ruhe“ Personalien der Be­woh­ne­r*in­nen aufgenommen, Leerstand, Schädlingsbefall und Überbelegung überprüft. Damit wolle man dem Haupteigentümer nachweisen, dass es in seiner Immobilie inakzeptable Missstände gibt, unter denen die rund 700 Menschen, darunter 200 Kinder und Jugendliche, zu leben hätten.

Doch die Kritik an der Aktion ist groß. „Wieso kommen hier 600 Polizisten? Die Kinder wurden alle um 6 Uhr aufgeweckt und hatten Angst“, sagt ein 50-jähriger Bewohner der taz. Ohne den Tausch von Personalien gegen einen Kontrollschein habe niemand das Gelände verlassen dürfen, auch die Kinder hätten nur nach Kontrolle zur Schule gehen dürfen.

Das sei „einfach Stress für die Kinder“, sagt er. „Wir sind für die wie Hunde, nur Hunde lassen sie laufen, aber uns nicht“. Die Polizei habe außerdem „Geld, Goldschmuck und Handys“ konfisziert und immer wieder gefragt: „Wieso habt ihr das?“ Einige An­woh­ne­r*in­nen hätten nun Probleme, ihre Einkäufe zu zahlen.

Kritik an „rassistischer Repression“

Neben einem sozialen Brennpunkt sei die Groner Landstraße 9–9b auch ein „polizeilicher Brennpunkt“, sagte am Dienstagnachmittag Rainer Nolte, leitender Polizeidirektor in Göttingen. Insgesamt habe man während der Maßnahme fünf Haftbefehle vollstrecken können und sieben Wohnungsdurchsuchungen durchgeführt. Die Haftbefehle seien alle aufgrund kleiner Delikte und Ordnungswidrigkeiten erlassen worden.

„Unsere Gespräche mit den Be­woh­ne­r*in­nen und das Auftreten der Behörden zeigen deutlich, dass die Stadt sich als liebe Helferin inszeniert und dahinter gewaltvolle, rassistische Repressionen stecken“, erklärt Lena Rademacher, Sprecherin der Basisdemokratischen Linken.

Die Gruppe war es auch, die den letzten behördlichen Großeinsatz im Juni 2020 massiv kritisierte. Damals stellte die Stadtverwaltung das gesamte Gebäude aufgrund einiger Corona­fälle unter Quarantäne und setzte diese mit einer Einzäunung des Gebäudekomplexes und massivem Polizeiaufgebot durch.

Inzwischen hat das Göttinger Verwaltungsgericht das Vorgehen für rechtswidrig erklärt. Daraufhin klagten im Dezember vergangenen Jahres von den etwa 700 An­woh­ne­r*in­nen 223 Personen aus 78 Familien auf ein Schmerzensgeld wegen rechtswidriger Freiheitsentziehung in Höhe von 880.850 Euro. Das geht aus einer Pressemitteilung der Anwaltskanzlei Sven Adam hervor. Bekommen haben die Be­woh­ne­r*in­nen bis heute allerdings nichts.

Auch Grüne kritisieren Vorgehen

Auch die Göttinger Ratsfraktion der Grünen stellt den Einsatz am Dienstag infrage: „Es ist gut, dass wir uns endlich den Wohnverhältnissen in der Groner Landstraße 9 zuwenden, und es ist auch gut, dass die Bewohnbarkeit des Hauses Priorität bekommt und wir nicht mehr tatenlos zusehen – aber dafür ein solch massiver Einsatz im Morgengrauen?“, stellt Susanne Stobbe, Fraktionsvorsitzende der Göttinger Ratsfraktion der Grünen das Vorgehen infrage.

Es sei klar, dass die Ge­fähr­de­r*in­nen­la­ge von der Polizei eingeschätzt werde und diese schlussendlich festlege, wie viele Po­li­zis­t*in­nen zum Einsatz kämen, so Stobbe, aber bei Verhältnismäßigkeit und Umgang mit den Bewohnenden sei die Verwaltung gefragt.

Auch das Göttinger Roma-Center kritisiert den Einsatz am Dienstag scharf. „Die Maßnahme stigmatisiert die Bewohner*innen, traumatisiert die Kinder durch den massiven Einsatz der Polizei. In dem Haus leben viele Roma aus Rumänien, ein Land das regelmäßig von europäischen Institutionen wegen Polizeigewalt verurteilt wird.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Nun, durch den unangemeldeten Besuch konnten immerhin 5 gesuchte Leute mit Haftbefehl festgesetzt werden, die man bei Ortsbegehung mit Sozialarbeitern wohl eher nicht angetroffen hätte.

    Haftbefehle auf "kleiner Delikte und Ordnungswirdrigkeiten", das ist schon ungewöhnlich.

  • "Daraufhin klagten im Dezember vergangenen Jahres von den etwa 700 An­woh­ne­r*in­nen 223 Personen aus 78 Familien auf ein Schmerzensgeld [...]"

    Ach. Und das jetzt ist wohl die Retourkutsche.

    Neeeeein. Natürlich nicht. Nur eine "Ortsbegehung zur..."

    Einfach nur widerlich.

  • schon wieder im selben Haus?



    Ach nee.