Die Wahrheit: Ei, Ei, Ei, Apokalypse
Blutiger als die Passionsspiele: Krasse österliche Mutproben erobern rasant die Jugendkultur. Eine Ostergeschichte der gefährlichen Art.
Emma hockt hinter den dichten, dornigen Rosenbüschen und traut sich keinen Schritt weiter. Nur zehn, fünfzehn Meter sind es noch bis zum rettenden Ziel, und doch scheint ihr dieses unendlich weit entfernt. Es ist Ostersonntag, Kaffeezeit.
Emma sieht die leuchtend bunte Alufolie des verheißungsvollen Schoko-Ostereis in der Frühlingssonne glitzern, auf dem Fenstersims des Wohnzimmers ihrer geisteskranken Schuldirektorin – und dahinter, schemenhaft hin und her wackelnd, deren rattengrauen Dutt. Wenn Emma dieses allerletzte Ei noch einsammelt und zum Beweis für ihren Coup ein Selfie macht, ist die Easter-Challenge endlich erfüllt. Oh, wie sie ihre Mädelsclique in diesem Moment hasst!
Emma muss das tun. Sie ist fünfzehn, und wie alle Fünfzehnjährigen sehnt sie sich nach Anerkennung und danach, Teil eines großen Ganzen zu sein – anders gesagt, Teil dieses ultimativen Ostertrends, der seit einigen Jahren auf den Social-Media-Kanälen immer wilder grassiert: Deine Freunde verstecken Eier an gefahrvollen oder peinlichen Unorten, schicken dir per Handy die Standorte, und du musst die Eier holen. Alle! Egal, wo.
Okay, denkt Emma, das hier wird jetzt durchgezogen. In den letzten Stunden hat sie bereits so einiges durchlebt: Das Nilka-Ei zwischen den Eisenbahnschienen einkassiert – uff, da hatte ihr Herz gerast. Den goldenen Schlundt-Osterhasen auf dem elektrischen Zaun der Pferdewiese eingesammelt und die schnapsgefüllten Eier oben auf der wackligen Abbruchkante im örtlichen Steinbruch.
Die Suche auf dem Friedhof war dagegen ein Spaziergang gewesen. Auf dem Sargdeckel des alten Dorfnazis Heinz E. lagen die giftgrünen Gelee-Dinger munter verstreut. Entspannt hatte Emma zugegriffen: Ja Gott, tot war tot, an Untote glaubte sie nicht, trotz all der feministischen Zombiefilme, die sie mit ihren Freundinnen verschlang.
Auch ins Innere des Ameisenhügels drüben am Waldrand hatte Emma beherzt greifen müssen, davon kribbelten ihre Hände jetzt noch, und zuletzt hatte sie die zwei Zuckergusseier aus den stinkenden Sneakers ihres Exfreundes hinter dem nahen Bolzplatz todesmutig geborgen.
Das verdammte Ei liegt ruhig auf dem Fenstersims und ist ohne ein Wunder nicht leicht zu erreichen
Aber nichts, gar nichts war so unerreichbar gewesen wie hier und jetzt dieses Schoko-Monstrum unweit der Direktorin. Gut sichtbar thront es dort, keinerlei Vorhänge verschleiern das Fenster, und am Ende ist das Ei vielleicht auch noch mit Sekundenkleber festgeklebt? Seelenruhig, fast diabolisch ruht das verdammte Ei auf dem Fenstersims, und das Einzige, was sich hin und her bewegt, ist der Kopf der ollen Dr. Müller-Schulze dahinter.
Natürlich hasst Emma die Schulleiterin. Durchgeknallt und cholerisch ist die Tyrannin und riecht aus dem Maul nach gedünstetem Fenchel. Nur ihr Haus ist recht hübsch: Das dunkelrote Backsteinhäuschen mit dem wucherndern Efeu drum herum, das wie das Domizil einer kontaktgestörten Hexe anmutet. Was es ja irgendwie auch ist.
Na gut, irgendwie machen Emma diese Mutproben auch Spaß, ist ein bisschen wie das Herumspazieren beim Pokémon-Go-Spielen. Immerhin hat Emma durch die Mutproben auf die Ostertage endlich wieder Bock: ein langes Wochenende voller Action und Thrill und die seltene Gelegenheit, sich endlich mal wieder „selbst zu spüren“.
Viel besser als das spannungsarme Eiersuchen früher, als ihre Eltern das Osterkörbchen im Garten versteckten und am laufenden Band „gute Tipps“ gaben: „Du Emmi, ich würde vielleicht auch mal hinter dem Carport nachschauen“, zwinker, zwinker. Ekelhaft! Und dann noch der grauenhafte Karfreitag, wenn Mutter den labberigen Fisch-Fraß auftischte und die Kreuzigungsgeschichte in allen unappetitlichen Details.
Emma könnte auch einfach durch die Gartenpforte spazieren und sich dem Fenster der Schulleiterin auf offiziellem Wege nähern, aber so lebensmüde ist sie nicht. Dann lieber auf allen vieren durch den Dornendschungel kriechen wie dereinst diese verrückten Dornröschen-Stalker, was Emma genau jetzt auch tut.
Aua! Die Stachel reißen ihr die Hände blutig und ein Loch in den Stoff ihrer Super-Wide-Leg-Jeans, aber ein Riss mehr oder weniger ist jetzt auch egal. Und überhaupt, ihre Aufgaben sind ja eigentlich noch harmlos im Vergleich zu denen, von denen sie gehört oder die sie auf Tiktok gesehen hat, wo etwa so ein eiterpickliger Typ im Zoo über das Gitter eines Puma-Geheges geklettert ist, für ein einziges Überraschungsei! Eine belgische Studentin soll ja für einen Schokohasen durch die örtliche Kanalisation gekrochen und niemals zurückgekehrt sein.
Emmas Klassenkamerad, Hannover-96-Fan, musste sein Osterkörbchen aus der gegnerischen Fankurve klauben und kam blau geprügelt zurück, und ein Mädchen aus der Abiturklasse in einen Bienenstock mit blanken Händen hineingreifen. Auch auf Giftmülldeponien und in Festival-Mobiltoiletten wurden schon Schokopräsente platziert.
Hinter dem rettenden Obstbaum sind es nur noch drei oder vier Meter bis zu dem ersehnten Ei
Am Ende des Gartengestrüpps erreicht Emma einen rettenden Obstbaum und versteckt sich hinter dem Stamm. Von hier aus ist sie nur noch drei, vier Meter vom ersehnten Ei entfernt und hat einen guten Blick. Sie sieht jetzt gestochen scharf den Kopf der Direktorin. Und erschrickt. Auf dem Kopf trägt diese zwei rosa Hasenohren, so billige aus dem Faschingsladen, und obenrum nichts als einen gepunkteten BH! So hockt die Tyrannin am Wohnzimmertisch und futtert seelenruhig ein Kuchenstück. Aber nicht lange.
Als hätte sie draußen etwas läuten gehört, erhebt sie sich plötzlich, stapft zum Fenster und starrt hinaus. Zunächst gen Himmel. Dann Richtung Obstbaum. Ob sie Emma sieht? Irgendwann gleitet ihr Blick hinab und entdeckt, verflucht, Emmas Ei. Dr. Müller-Schulze reißt das Fenster auf, ihre Hexenfinger umfassen das Ei und entführen es ins Innere des Raums. Das Fenster schließt mit einem Rums. Emma muss mit ansehen, wie die Sadistin die Alufolie herunterpellt und das Ei mit einem Lächeln verschlingt, als wisse sie genau, welche Tragweite ihre Handlung hat.
Okay, das war’s. Emma verdrückt eine Träne. Sie wird sich neue „Freundinnen“ suchen müssen. Ihre Clique wird sie für immer verstoßen. Oder … lieben? Denn, Moment mal, Emma fällt etwas ein. Sekundenschnell fummelt sie ihr Handy hervor und schießt ein Foto der Schulleiterin: Hasenohren, Stütz-BH, schokoverschmierte Schnute, hahaha, alles ist drauf! Die Alte kann abdanken. Das ist doch mal ein gutes Beweisfoto, denkt Emma und verdrückt noch eine Träne, aber diesmal vor Glück: das beste Foto des Tages.
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