Die Wahrheit: Lockdown in den Neunzigern
Stellen wir uns einen Moment vor, die Pandemie wäre vor einem Vierteljahrhundert ausgebrochen – unter den Bedingungen der Steinzeittechnik.
W ie gut, dass es noch keine Pandemie und damit keinen Lockdown gab, als es mit der digitalen Revolution noch nicht so weit her war. Damals, als ich jugendlich war, in den frühen bis mittleren neunziger Jahren. Ennuyiert hätte ich zu Hause gesessen und verzweifelt versucht, mit meiner Peergroup irgendwie Kontakt zu halten. Per Festnetztelefon.
„Billigvorwahl! Vergiss nicht, eine Billigvorwahl zu wählen!“, hätte mein Vater durch die abgeschlossene Tür meines Jugendzimmers krakeelt und mir beim Abendbrot die Liste mit den preisgünstigen Vorwahlen unter die Nase gehalten, um die Halsabschneider-Tarife der Deutschen Telekom zu umgehen. Außerdem nicht vor soundso Uhr telefonieren, Stichwort: bezahlbarer Mondscheintarif. Zu sechst hätten wir uns den ganzen Abend um den einen Telefonanschluss gebalgt.
Tagesaktuelle Infos über das Infektionsgeschehen hätten wir uns über Videotext holen müssen. Den halben Tag Videotext, bis unsere Augen flimmerten. Bis da nach Mitternacht die neueste Warnung des RKI eingelaufen wäre, wären wir längst entschlummert.
Und „Fortnite“ und „Zelda“ und all die anderen Konsolen- und Handy-Spiele hatte zum Zeitvertreib auch keiner, außer irgendein Amiga-Nerd. Ich jedenfalls nicht. Wochen-, ja monatelang mit den Geschwistern Brettspiele wie „Fang den Hut!“, „Malefiz“ und „Verrücktes Labyrinth“ spielen – der Horror! Wobei, „Verrücktes Labyrinth“ kann sein Suchtpotenzial schon entfalten, das kann man gut ein, zwei Nächte hintereinander wegspielen.
„Jetzt legt doch endlich mal das Brettspiel weg, ihr werdet davon noch ganz bräsig im Kopp!“, hätte meine Mutter gemosert und versucht, den Spielekasten in den feuchten Untiefen unseres Kellers zu verstecken.
Statt schicker Netflix-Serien, die in exotischen Ländern spielen, hätten wir im ZDF „Die Wicherts von nebenan“ gucken müssen. Eine „ganz normale Durchschnittsfamilie“, die gar nichts erlebte und die Zuschauer zu Tode langweilte.
Dampf ablassen in irgendwelchen sozialen Medien ging auch noch nicht. Nur über den Gartenzaun mit den Nachbarn. „Schon gehört? Die Engländer sind fast durchgeimpft, die EU-Verräter! Ging gerade per Videotext durch“, hätten wir Nachbar Schmidtmann durch Mutters Heckenrosen räsonieren hören, den ganzen Tag. Das Allerschlimmste aber: Für sämtliche Liebesdinge gab es keine elektronischen Textnachrichten, sondern lediglich Papier. Da der Briefchenaustausch zwischen den Pulten schulschließungsbedingt weggefallen wäre, gäbe es nur den guten alten Brief per Post. Ein durchschnittlicher Streit bis zum Schlussmachen hätte da schon mal fünfzig durchgeheulte Nächte gedauert.
Da hat es die heutige Jugend gottlob besser. Heute gibt es so viele schöne Möglichkeiten der digitalen Freizeitgestaltung und der Kommunikation. Da darf sich die Generation Z oder wie sie gerade heißt, wirklich nicht allzu sehr beklagen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was