Terror in Russland: Kein Widerstand in Sicht
Nach dem Attentat bei Moskau werden Rufe nach der Einführung der Todesstrafe laut. Diese könnte dem Regime auch bei der Mobilisierung helfen.
Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, an die Geiselnahme in einer Schule im nordossetischen Beslan in den ersten Regierungsjahren von Wladimir Putin. Aufgrund der Intervention von russischen Sicherheitskräften kamen im September 2004 mehr als 300 Menschen, vor allem Kinder, ums Leben.
Unmittelbar danach begannen die Behörden, Massenkundgebungen der Trauer und Wut zu organisieren, um Proteste zu vermeiden. Mitarbeiter von Regierungsbehörden sowie Kadetten von Militär- und Polizeischulen wurden beharrlich aufgefordert, dort zu erscheinen.
Ich selbst habe damals eine solche Veranstaltung auf dem Schlossplatz in St. Petersburg besucht, als Korrespondent für den Radiosender Echo Moskau, der 2022 auf Druck der Behörden abgeschaltet wurde. Von der Bühne gab es Rufe nach der Einführung der Todesstrafe, die Menge reagierte darauf mit gehorsamem Ovationen. Die entsprechenden Gesetzesänderungen wurden aber bis heute nicht umgesetzt.
Angst bei Oppositionellen und Reservisten
In der Duma wird nun erneut seitens vieler Abgeordneter die Einführung der Todesstrafe gefordert, und viele Oppositionelle und Reservisten haben Angst, sie könnte bald gegen sie in Anschlag gebracht werden. Denn bei den Behörden gibt es ein wachsendes Bedürfnis nach diesem Schritt: Es herrscht Krieg, und im Gefängnis ist die Chance, das eigene Leben zu retten, größer als an der Front.
Für manche Rekruten liegt es nahe, sich durch Fehlverhalten oder Wehrdienstverweigerung der Front zu entziehen. Durch die Androhung des Todes könnten manche leichter dazu gezwungen werden, ihr Leben an der Front zu riskieren.
Aber selbst, wenn die Todesstrafe nicht kommt: Ab sofort versteht jeder, dass ein russisches Gefängnis ein schlimmerer Ort sein kann als der militärische Fleischwolf in der Nähe von Awdijiwka. Das wurde nicht nur durch den Tod Nawalnys bewiesen, sondern auch durch das bewusste Zurschaustellen der Folter an den mutmaßlichen Terroristen des „Islamischen Staates“. Aus all diesen Gründen sind, anders als im Jahr 2004, die Plätze russischer Städte nach dem jüngsten Anschlag leer.
Versagen der Geimdienste
Seit dem Beginn von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine im Februar 2022 und der Mobilisierung junger Männer für diesen Krieg verließen zudem Hunderttausende Menschen, die mit dieser Politik nicht einverstanden waren, das Land. Die Zurückgebliebenen sind durch den blutigen Kampf sowie die Gräueltaten im Kyjiwer Vorort Butscha und in der Stadt Mariupol eingeschüchtert.
Diejenigen, die davon ausgehen, dass das Massaker und der Brand in der Crocus City Hall von russischen Behörden verursacht wurden, stürmen nicht auf die Straße. Aus denselben Gründen bleiben auch Vertreter der liberalen Schicht untätig, die denken, dass dies ein beschämendes Versagen der einheimischen Geheimdienste war.
Denn wenn die „Dienste“ die Fans einer regimetreuen Rockgruppe nicht vor Terror bewahren konnten, werden sie es erst recht nicht schaffen, einen Haufen von „Verrätern“ zu beschützen.
Jene wiederum, die den Krieg laut und oft auch leise unterstützen, sind – auch wenn sie Putins Worten nicht glauben, dass die ukrainischen Geheimdienste den Terroranschlag organisiert hätten – immer noch verärgert über ihren widerständigen Nachbarn. Weil sie die Ukraine trotzdem als Verbündeten des IS betrachten.
Alter Bekannter IS
Das geht aus Kommentaren in den sozialen Netzwerken hervor. Die Logik ist ungefähr so: Es ist die sich hartnäckig zur Wehr setzende Ukraine, die die Kräfte der russischen Staatssicherheit und des militärischen Nachrichtendienstes davon abhält, die Islamisten zu bekämpfen. Es wird bedauert, dass „unsere Streitkräfte“ die Lösung der Ukraine-Frage so lange hinauszögern.
Nach dem Anschlag richten nur wenige Kommentatoren ihr Augenmerk darauf, dass Moskau den „Islamischen Staat“, der die Verantwortung für dieses Verbrechen übernommen hat, sehr gut kennt. Denn der IS kämpfte von Anfang an gegen das kremlnahe Assad-Regime in Damaskus und später gegen die russischen Truppen in Syrien.
Darüber hinaus ist es nicht ausgeschlossen, dass die russischen Geheimdienste dank ihrer Beziehungen zu Assad, zum Iran, zu Tadschikistan und sogar zu den Taliban besser über den zentralasiatischen Ableger ISKP Bescheid wissen als die Geheimdienste jedes anderen Landes auf der Welt. Es ist offensichtlich, dass zwischen Moskau und diesen Autokratien ein Austausch operativer Informationen über den gemeinsamen Feind stattfindet.
Es ist auch nicht das erste Mal, dass der Kreml Kyjiw beschuldigt, den islamistischen Extremismus zu unterstützen und grausame Verbrechen vorzubereiten. So erklärte beispielsweise der Chef des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, Alexander Bortnikow, am 11. Oktober 2023 auf einer Sitzung des Rates der Leiter von Sicherheitsbehörden und Sonderdiensten: „Wir haben verlässliche Informationen darüber, dass der IS und Gleichgesinnte als Teil der Einheiten von Tschetschenen und Krimtataren gegen uns kämpfen. Sie gehören auch Sabotage- und Aufklärungsgruppen an, die nach Russland geschickt werden, um Sabotage und Terroranschläge zu verüben.“
Selbsternannte Expert*innen
Auf lebhafte Resonanz stoßen solche Worte bei selbsternannten Expert*innen, die den Inhalt der russischen Wikipedia-Seite „ISKP (ISIS-K)“ gründlich analysiert und in den sozialen Medien so zusammengefasst haben: „Es ist klar, dass die CIA nicht nur die Fäden der Hauptverwaltung der Aufklärung in Kyjiw (GUR), sondern auch des Islamischen Staates in der Hand hält. Schließlich hat Wilayat Khorasan, d. h. ISKP, in den vergangenen Jahren nichts gegen Amerika unternommen, sondern sät Tod und Verderben auf unserer Erde und unter unseren islamischen Verbündeten.“
Es ist nach dem Terroranschlag kaum damit zu rechnen, dass jene demonstrieren, die keine weitere Welle der Mobilisierung wollen – obwohl sich im ganzen Land hartnäckig das Gerücht hält, dass zur Finanzierung des Krieges bald die Steuern erhöht werden. Da es schon kaum Protest auf der Straße gab, als Hunderttausende Menschen auf die ukrainischen Schlachtfelder und damit in den Tod oder in die Invalidität geschickt wurden, ist das nun, wo eventuell der Gürtel enger geschnallt werden muss, erst recht nicht zu erwarten.
Quellen aus den Teilen der russischen Armee, die auf ukrainischem Boden kämpfen, sagen, das Mantra der politischen Offiziere gegenüber den Soldaten sei in den vergangenen Monaten stets gewesen: „Seid geduldig, das ist bald vorbei.“
Würde die aktuelle „militärische Sonderoperation“ darüber hinaus jetzt offiziell als „Krieg“ oder, was nicht ausgeschlossen ist, als „Anti-Terror-Operation“ bezeichnet, wird es einfacher sein, die Rekruten davon zu überzeugen, die Früchte des lang erwarteten, aber bereits bevorstehenden Sieges zu ernten.
Aus dem Russischen: Barbara Oertel
Alexander Gogun ist Militärhistoriker und lebt in Berlin
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