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Alternative Stadtführung in NeapelBuchdealer und illegale Gärten

Der neapolitanische Vorort Scampia gilt als Drogen- und Mafiahochburg. Ein Musiker will Tou­ris­t*in­nen die schönen Seiten des Viertels nahebringen.

Sozialer Wohnungsbau inspiriert von Le Corbusier: der Komplex Vele di Scampia hat eine bewegte Geschichte Foto: Michele Amoruso

Scampia taz | Daniele Sanzone grinst und sagt: „Willkommen am Ende von Neapel.“ Der Musiker und Autor – geschorenes Haar, rotes Shirt – lehnt an der Wand des U-Bahnhofs Piscinola-Scampia; in seinem Rücken ist er in Schwarz-Weiß zu sehen, wie er barfuß am Meer entlangläuft, daneben hängen Fotos anderer Größen der neapolitanischen Musik.

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2019 wurde die Endhaltestelle der U-Bahn-Linie 1, deren künstlerisch gestaltete Bahnhöfe als „metro d’arte“ bei Tou­ris­t*in­nen beliebt sind, nach Scampia verlegt und der einst verrufene Vorort mit dem Zentrum verbunden. Seither hat sich einiges getan. So viel, dass es für eine alternative Stadtführung reicht, wie sie Sanzone anbietet.

Der 45-Jährige ist in dem Viertel groß geworden, das lange als Drogen- und Mafiahochburg galt. 2005 landete er mit seiner Band A 67 einen Hit mit dem Antimafia-Song „’a Camorra song’ io“ (Die Camorra, das bin ich). Seine „Scampia Trip Tour“ will vermitteln, dass Scampia mehr ist als der Dreh­ort der Mafiaserie „Gomorrha“: „Wir haben hier keine alten Gebäude, unsere Schönheit ist der Zusammenhalt und unsere aktive Zivilgesellschaft“, verspricht Sanzone und lädt ein, auf dem Beifahrersitz seines verbeulten Kleinwagens Platz zu nehmen.

Links und rechts der Straße erheben sich gesichtslose Wohnblöcke. Das Viertel entstand in den 1980ern als Schlafstadt. Zwei monumentale Wandgemälde zieren wie ein Eingangstor die Fassadenreihen: links das Porträt des Regisseurs Pier Paolo Pasolini, rechts die US-Bürgerrechtlerin Angela Davis.

Ein Werk des neapolitanischen Street-Art-Künstlers Jorit, erzählt Sanzone, um dann vor einem gigantischen brutalistischen Bau in Rot anzuhalten, dessen zwei Hälften durch Betonstelen verbunden sind. „Es hilft ja nichts“, sagt er und seufzt: „Darf ich vorstellen, unser Wahrzeichen, die Vele.“

Brutstätten von Gewalt und Elend

Vele ist italienisch für Segel, und so sehen die ursprünglich sieben Wohntürme auch aus. Sie wurden vom Architekten Franz Di Salvo für den sozialen Wohnungsbau errichtet. Den Ideen Le Corbusiers folgend, sollten die Be­woh­ne­r*in­nen in den 15-stöckigen „Wohnmaschinen“ als Gemeinschaft zusammenleben. Doch die Gebäude verkamen, Feuchtigkeit breitete sich aus, in dunklen Nischen nisteten sich Dealer ein.

Als nach dem Erdbeben 1980 Hunderttausende in Kampanien ihre Wohnungen verloren, nutzte die lokale Mafia die Chance, zu ihren eigenen Bedingungen Menschen in die verfallenden Gebäude einzuquartieren. Auch Sanzone kam damals hier her: „Ich war zwei, als unser Haus in Poggioreale unbewohnbar wurde. Weil vom Staat keine Hilfe kam, besetzte meine Mutter kurzerhand eine Wohnung in Scampia.“

Seine Familie habe Glück gehabt. Sie seien in einem ordentlichen Wohnblock gelandet und bald vom Staat „legalisiert“ worden; er wohnt dort noch heute. Die Vele aber wurden zu Brutstätten von Gewalt und Elend.

Die Mafia habe Rom*­nja und Mi­gran­t*in­nen ohne Aufenthaltsstatus in den bröckelnden Bauten zusammengepfercht, teils ohne Strom und Wasser. Mitte der nuller Jahre war Scampia der größte Drogenumschlagplatz in Europa; eine Fehde zwischen zwei Clans ließ die Gewalt explodieren; zwischen 2005 und 2007 wurden rund 70 Menschen ermordet, darunter einige Zufallsopfer. „Es war hart, hier aufzuwachsen“, erzählt Sanzone und startet den Motor. „Nicht nur wegen der Gewalt.“ Es habe keine Arbeit gegeben, kaum Beschäftigung, nicht mal einen Supermarkt oder ein Kino.

Ein paar Ecken weiter parkt Sanzone erneut. Über Steinstufen geht er voran zu einer von zerbröckelnden Säulen gesäumten Galerie, von der aus man einen Park überblickt. „Kaum jemand weiß, dass wir den zweitgrößten Park Neapels haben“, sagt der Musiker. Klingt gut, aber der Parkeingang ist verschlossen, das barock anmutende Wasserbassin hinter dem Zaun ausgetrocknet und vermüllt.

Illegal angebauter Mais gegen die Regellosigkeit

Am Parkrand wachsen auf einem schmalen, mit Flatterband abgetrennten Streifen Erde Maispflanzen, ein Mann macht sich dazwischen mit der Spitzhacke zu schaffen. Verblüfft bleibt Sanzone stehen, seine gute Laune ist verflogen. „Macht hier eigentlich jeder, was er will?“, schimpft er und tippt wild in sein Handy – er müsse mal kurz jemanden aus der Gemeinde benachrichtigen.

Angesichts dieser harmlosen Landnahme ist seine Erregung schwer zu verstehen. Was ist etwas illegal angebauter Mais gegen die Regellosigkeit der Camorra? Sanzone schnaubt, winkt ab und steigt wieder in sein Auto. Auf der anderen Parkseite hält er an, zeigt auf ein zerbröckelndes Gebäude, das man für eine Ruine halten könnte – das Polizeikommissariat mit seiner Antimafia-Einheit ist der heruntergekommenste Bau der Gegend. Gegenüber ist Sanzones alte Grundschule, vor der jetzt eine Gruppe Pfadfinder die Straße überquert.

Sanzone stellt den Motor ab, öffnet die Tür und erzählt von seiner Jugend: Er habe viel Glück gehabt, sein Vater, ein Maler, und seine Mutter, Hausfrau, hätten viele Opfer gebracht, um ihm das Abitur zu ermöglichen. Er habe es nach Neapel an die Uni geschafft. Stolz sei er gewesen, das Stigma seiner Herkunft abgeschüttelt zu haben, bis eines Nachmittags etwas passierte: „Ich studierte damals Philosophie“, erzählt er.

„Wir saßen nach dem Essen auf einem Mäuerchen in der Sonne, als ein Typ vorbei ging und mir ins Gesicht sah. Ich war direkt auf Hundert­achtzig, rannte auf ihn zu und schrie: Was schaust du mich an?! Ich wäre bereit gewesen, den zu killen.“ Damals sei ihm bewusst geworden, wie tief ihn die alltägliche Gewalt im Viertel geprägt habe. Aus diesem Erlebnis heraus entstand der Song: „’a camorra song’ io“. Mit der eindringlichen Schilderung des Kreislaufs aus Gewalt, Ohnmacht und Schweigen verkauften A 67 eine Million Platten.

Daniele Sanzone vor einer Schwarzweiß-Fotografie seiner selbst Foto: Michele Amoruso

Fast 20 Jahre ist das nun her, in Scampia verbesserten sich die Dinge aber nur langsam. Sanzone deutet auf einen gewaltigen neuen Rundbau, der wie ein Ufo in der Landschaft steht: 2022 wurde eins der Vele-Hochhäuser abgerissen und auf dem Standort das neue medizinische Zentrum der Universität Federico II. eröffnet. Hier kann man jetzt einen Abschluss in Medizin, Chirurgie oder Gesundheitsmanagement machen. „Das ist großartig, aber von der Planung bis zur Umsetzung hat es 16 Jahre gedauert.“

Noch immer gebe es in Scampia kein Krankenhaus, bei geschätzten 100.000 Be­woh­ne­r*in­nen – und kaum Jobs. Armut und Perspektivlosigkeit bleiben ein Problem, doch mit dem Abklingen der Straßengewalt ist ein Aufwärtstrend zu beobachten. „Mehr als 200 Vereine gibt es in Scampia“, berichtet Sanzone und schwärmt von dem Bürgergeist, der sich in den letzten Jahren entfaltet habe.

Im Ortskern des jungen Viertels ducken sich niedrige Häuser um eine Kirche, hier ist fast so etwas wie Dorfatmosphäre zu spüren. In einem mit bunten Wandmalereien geschmückten Betonkubus residiert die Kulturinitiative GRIDAS, Keimzelle des neuen Bürgersinns, die seit 1981 den Karneval von Scampia organisiert. Das Künstlerpaar Felice Pignataro und Mirella La Magna begründeten den Umzug, der mit seinen liebevoll gestalteten Pappfiguren jedes Jahr mehr Be­su­che­r*in­nen anzieht.

Auch Ver­tre­te­r*in­nen der großen Romn*ja-Community sind in den Karneval mit einbezogen. Mit der „Napulitan Gipsy Power“-Band ’o Rom hat Sanzone 2019 einen Song aufgenommen. Im Video zu „Scampia Felix“ sieht man die Ein­woh­ne­r*in­nen Kulissen basteln und die Frauen des integrativen Italo-Balkan-Restaurants Chikù Teigtaschen rollen.

Das Wahrzeichen der Scugnizzeria: ein Esel mit Flügeln

Das Restaurant hat nur an fünf Nachmittagen die Woche auf, auch die Scugnizzeria, eine Buchhandlung mit Café und Kleinverlag, hat geschlossen: Alle seien erschöpft, tags zuvor fand ein Lesemarathon statt, berichtet Sanzone. Vor dem Eingang baumeln Körbe mit gebrauchten Büchern zum Mitnehmen, eine Anspielung auf die Angewohnheit der Dealer, Drogen mittels hochgezogener Körbe zu vertreiben. Vor dem Café steht das Wahrzeichen der Scugnizzeria: ein Esel, Wappentier Neapels, mit Flügeln. „Das Unmögliche träumen“ lautet das Motto, das sich die Scugnizzeria gegeben hat.

Am Ende seiner Tour will Daniele Sanzone noch das zeigen, was er „das Wunder von Scampia“ nennt: Ein Nachbarschaftsgarten am Rande eines Wohnblocks mit Pflanzen aus aller Welt. Das „Progetto Pangea“ wird von den Nach­ba­r*in­nen gepflegt und sauber gehalten. „Früher war hier eine wilde Müllkippe“, sagt er, „jetzt fühlen sich die Leute verantwortlich, das ist so schön.“

Auf der Rückfahrt zum U-Bahnhof springt ein riesiges Graffito auf einem der Vele ins Auge: „No al turismo dell’orore“, Nein zum Horrortourismus. Die Be­woh­ne­r*in­nen sind es leid, als Hintergrund für Gruselselfies herhalten zu müssen. Sanzone hofft darauf, dass seine Tour durch die Zivilgesellschaft bald zum Standardprogramm aufgeschlossener Tou­ris­t*in­nen gehört, wie der Karneval von Scampia. „Die Menschen hier verdienen es“, sagt er, bevor er in seinem Kleinwagen zwischen den Hochhäusern verschwindet.

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