Provenienzrecherche zu NS-Raubgut: In jeder Akte steckt ein Mensch
Die „Vermögensverwertungsstelle“ in Potsdam zeigt die Rolle der Bürokratie in der NS-Vernichtungsmaschinerie. Eine Spurensuche.
„Bezeichnend ist, dass die Menschen in diesen Akten völlig verschwinden“, sagt der wissenschaftliche Archivar Dominic Strieder. Allein die materiellen Werte interessieren – der Großteil der Akten besteht aus Inventarlisten, Kaufverträgen, Quittungen sowie Korrespondenzen mit Ämtern, Banken und Privatfirmen. Die geraubten Güter, um die es hier geht, reichen von Immobilien über Geldkonten, Hausrat, Möbeln, Kunst und persönlichen Gegenständen bis buchstäblich zum letzten Hemd.
„Da ist wirklich alles dabei“, sagt Stella Baßenhoff. Sie ist eine der drei Provenienzforscherinnen, die im Zuge eines von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien geförderten Projekts die Akten der Vermögensverwertungsstelle systematisch nach geraubtem Kulturgut durchforsten. Der winzigste Gegenstand, auf den sie hierbei stieß, sei ein Kinderzahn in Goldfassung gewesen, erzählt sie der taz.
Perfide ist auch: Die NS-Beamt:innen haben die Angst und das Pflichtbewusstsein der jüdischen Bürger:innen gegenüber den staatlichen Institutionen gezielt missbraucht. In der „Vermögenserklärung“ ließen sie die Opfer ausführlich über sich Auskunft geben. Meist handschriftlich legen die Betroffenen ihr Leben in dem 12- bis 16-seitigen Formular offen, indem sie detaillierte Angaben zu ihrer letzten Adresse – meist handelt es sich hier um Zimmer in „Judenhäusern“, in die sie umziehen mussten –, zu ihrer Arbeitsstelle – meist Zwangsarbeit -, zu dem Verbleib ihrer Angehörigen und natürlich zu ihrem Vermögen machen. Nicht ahnend, dass dies das letzte Zeugnis sein wird, das viele von ihnen hinterlassen werden.
Momentaufnahme jüdischen Lebens
Die mobilen und immobilen Werte, die in diesem Zuge aufgelistet wurden, geben eine präzise Momentaufnahme von jüdischem Leben im Nationalsozialismus. Weil Not und Mangel den Alltag beherrschten, blieben viele Zeilen leer. Etliche Finanzgesetze wie die Judenvermögensabgabe hatten seit 1933 zu erheblichen Vermögensverlusten geführt, Berufsverbote verhinderten Einkünfte.
So notiert die Malerin Elly Arnheim in ihrer Vermögenserklärung in der Zeile „Gemälde, Kunst, Antiquitäten“: „Große Anzahl Malstudien, die keinen Wert haben, weil sie nicht verkauft werden dürfen.“ Arnheim lebte vor der Deportation in das Getto Riga im Januar 1942 von einem kleinen staatlichen Darlehen in Form einer Wahlrente. Aber auch die, die Zwangsarbeit leisten mussten, standen nicht besser da. Der Lohn war so knapp bemessen wie die Lebensmittel auf jüdischen Lebensmittelkarten. Viele der in den Listen fehlenden Güter müssen als Tauschmittel auf den Schwarzmarkt gewandert sein.
Auch Else Ernestine Neuländer-Simon beantwortete einen Großteil des Fragebogens mit einem simplen Strich. Die Modefotografin, die sich unter dem Künstlernamen „Yva“ einen Namen gemacht hatte, besaß zum Zeitpunkt ihrer Deportation im Juni 1942 nicht einmal mehr einen Fotoapparat. Als sie 1940 zusammen mit Mann Alfred ihre Wohnung verlassen und ein Zimmer in einer „Judenwohnung“ beziehen musste, konnten nur wenig Sachen mit. Das Ehepaar hatte sich zur Auswanderung entschieden – zu der es jedoch nicht kam. Yva wurde gezwungen, als Röntgenassistentin im Jüdischen Krankenhaus zu arbeiten. Vergeblich erwartete sie ihr altes Leben in Form von 34 Kisten mit Fotoausrüstung, Möbeln und Hausrat in einem Lager im Hamburger Hafen.
Aber auch Kleinvieh macht Mist, wussten die Nazi-Bürokraten, und so finden sich auf der Inventarliste des zu räumenden Zimmers des Ehepaars Else und Alfred Simon neben wenigen Möbeln ein paar Koffer, Schuhe, Bettsachen, Schallplatten sowie ein Zeichenbrett. Die Schallplatten wurden wohl vom Propagandaministerium einkassiert, den Rest erstand ein Händler namens Karl Gross für einen Betrag von 154,50 Reichsmark, errechnet aus dem Schätzpreis minus dreißig Prozent. Das war im August 1942, nicht einmal zwei Monate nach der Deportation und dem Mord an den Simons. Die rund 200 Bürokraten der Vermögensverwertungsstelle waren nicht nur genau, sondern auch schnell.
Schnell und planvoll
„Das mussten sie auch sein“, erklärt Archivar Dominic Strieder. „Der Oberfinanzpräsident übernahm ja nicht nur das Eigentum, sondern auch die Schulden der Juden und Jüdinnen.“ Damit sich nicht weitere Kosten in Form von ausfallenden Mieteinnahmen anhäuften, mussten die von den Deportierten angemieteten Räume so schnell wie möglich geräumt werden, selbst für die Abmeldung des Stroms sorgte das Amt, zeigen Belege in den Akten.
Derart reibungslose Abläufe erforderten einen genauen Plan sowie ein sorgfältig abgestimmtes Zusammenspiel mit anderen staatlichen Institutionen sowie zahlreichen privaten Firmen. So gab die Gestapo Transportlisten an die Vermögensverwertungsstelle weiter, die Nummer, die sie der deportierten Person verpassten, findet sich in der Vermögensakte wieder. Es werden Gerichtsvollzieher zur Inventur sowie Sachverständige zur Schätzung von Kunstobjekten bestellt. Wohnungsämter quartieren ausgebombte „Arier“ in die jüdischen Wohnstätten ein, an sie gingen auch „Spenden“ jüdischer Kleider und Alltagsdinge.
Den Rest „übernahmen“ unzählige Händler zu Schleuderpreisen, neben ihnen profitierten Auktionator:innen und Transportunternehmen – wenn sich der Transport nicht erübrigte, weil die Nachbarn schon gierig zugeschlagen hatten. So fand die Historikerin Carolin Lange über die Akte der dreiköpfigen Familie Priebatsch heraus, dass sich die nichtjüdische Nachbarin vom selben Stockwerk Ehebett, Kinderzimmer- und Wohnzimmereinrichtung unter den Nagel riss. „Anhand dieser Akten wird deutlich, wie verbreitet und alltäglich der Raub an der jüdischen Bevölkerung war“, so Dominic Strieder. „Dass niemand davon gewusst hat, lässt sich eindeutig widerlegen.“
Selbst da, wo sich trotz aller bürokratischen Akribie Lücken in den Akten auftun, lässt sich die Geschichte dieses massenhaft organisierten Raubes weitererzählen. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was wohl mit den 21 Kisten geschehen ist, die zu dem im Hamburger Hafen eingelagerten Besitz der Fotografin Yva und ihres Mannes gehörten – die aber bei der aus Berlin angeordneten Versteigerung plötzlich fehlten. Dass die Kisten bei einem Bombenangriff zerstört wurden, so wie das Logistikunternehmen Röhlig in einem Schreiben behauptet, scheint wenig glaubwürdig. Vermutlich wird hier nur jemand schneller gewesen sein. Damit hätten Fotoapparate und andere Dinge ihre Besitzer also überdauert – und sind womöglich heute noch in deutschen Schränken zu finden.
Suche nach Nachkommen
Was die Bilder von Elly Arnheim angeht, so kann man sie heute immer wieder mal auf Kunstauktionen kaufen. Viel bringen sie nicht ein. Die Malerin und einstige Schülerin von Käthe Kollwitz ist heute kaum bekannt, jenseits der Potsdamer Akte lässt sich nur wenig über sie in Erfahrung bringen. Nicht einmal eine Fotografie gibt es von ihr.
In anderen Fällen ist die Recherche erfolgreicher. So weist das Team der Provenienzforschung im Landeshauptarchiv als Zwischenergebnis auf 230 Kunstwerke hin, die 13 jüdischen Familien zugeordnet werden können. Über die entsprechenden Einträge auf „Looted Art“, eine der beiden großen Datenbanken, auf denen nach NS-geraubtem Kulturgut gesucht werden kann, hoffen die Forscherinnen nun auf Nachkommen dieser Familien zu stoßen und oder verschollenen Kunstwerken auf die Spur zu kommen.
Bei Kulturgütern, die sich in staatlichen Einrichtungen befinden, ist eine Rückgabe beziehungsweise Entschädigung auch heute noch möglich – so will es die Washingtoner Erklärung, mit der sich auch Deutschland verpflichtet hat, für „gerechte und faire Lösungen“ zu sorgen. Ein erster Kontakt hat sich bereits ergeben, erzählt Provenienzforscherin Stella Baßenhoff: „Diesem Nachkommen geht es nicht nur um das Kunstwerk. Er möchte mehr über die Geschichte seiner Familie erfahren.“
Geschichten lassen sich in den Akten der Vermögensverwertungsstelle noch viele finden, dessen sind sich die Mitarbeiter:innen des Landeshauptarchivs sicher. „Jeder Interessierte, ganz egal, ob Laie oder Profihistoriker ist eingeladen, in diesen Akten zu recherchieren“, sagt Dominic Strieder. Nach Potsdam reisen muss man dafür nicht. Seit Februar sind die Akten online abrufbar.
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