Neuer Roman von Markus Berges: Große Gefühle und sozialer Druck
Angst vorm Atomstaat, Verliebtheit und Loslösung vom Konformismus: Markus Berges erzählt in „Irre Wolken“ vom Aufwachsen in den Achtzigern.
Sie nennen ihn „Tonne“ oder „dicke Sau“ oder „Hoss“ nach dem mittleren Sohn von Ben Cartwright. Wir schreiben das Jahr 1986, also das Tschernobyl-Jahr. Fotos werden bei „Ihr Platz“ entwickelt, überall wird geraucht, Kopfnüsse vom Lehrer erhöhen das Denkvermögen. Der Ich-Erzähler ist 19, hat das Abitur geschafft und macht nun ein freiwilliges soziales Jahr in einer Psychiatrie.
Er wird vom Vater immer noch regelmäßig ganz normal zusammengebrüllt, hört im popkulturellen Widerstand Elvis Costello und die Talking Heads, versucht, Ernst Bloch zu lesen, und wienert sich einen bei Betrachtung verschatteter Mösen in den Magazinen Playboy oder Lui. Vor allem ist er im Bann seiner eigenen Peinlichkeit und gibt deshalb den Introvertierten.
Jetzt wird man denken: Aha, männliche Boomer-Literatur.
Gar nicht. Das ist keine Im-Schlafanzug-nach-dem-Wannenbad-Rudi-Carrell-Show schauen-Nostalgie. Zeitgenössische Grusel-Elemente wie „Der Puppenspieler von Mexiko“ oder „Der Nippel“ werden sparsam und präzise eingesetzt, weil das Zeug halt damals wirklich lief.
Und Tschernobyl ist zentral, weil die Frau, in die er sich verliebt, nach dem Gau in seine Klinik zurückkommt. Sie leidet an Schizophrenie, genauer an der Wahnvorstellung eines totalitären Atomstaates. Das ist eine Superpointe, weil das damals in progressiv sein wollenden Kreisen nicht als Wahn, sondern als notwendige Haltung galt. Die heutigen Wahn- und Verschwörungsvorstellungen von Rechtspopulisten spiegeln die unsrigen aus den 80er Jahren, das wird einem beim Lesen klar.
Kraft des großen Verliebtseins
Im Kern geht es in diesem Buch aber um etwas anderes, nämlich um die befreiende Kraft eines großen Verliebtseins in der Coming-of-Age-Lebensphase. Es ist nämlich so: Liebe und der erste Sex (auf einem Hochstand) sind einschneidender für ein zu bewältigendes Leben im Westfälischen als dieser Super-Gau in der Ukraine.
Markus Berges: „Irre Wolken“. Rowohlt. Berlin, Berlin 2024, 288 Seiten, 24 Euro
Das erste Buch schreibt man meistens über sich, „autobiografisch“, weil man selbst die einzige Super-Geschichte ist, die man erzählen kann und erzählen will. Markus Berges schrieb erstmal zwei Romane, die weit weg waren von ihm, und das ist gar nicht überraschend für die, die ihn als Sänger und Texter der wirklich solitären Kölner Band Erdmöbel kennen. Anders als Lindenberg, Grönemeyer oder Dingsbums hat er nie Ich-Erzählungen, Ich-Perspektiven, Ich-Meinungen mit Popmusik transportieren wollen und schon gar keinen „Diskurs-Rock“ machen. Eine Meinung haben ist keine Kunst, sagte Berges mal.
An diesem Tag betritt Markus Berges ein Studenten-Café nahe der Humboldt-Uni in Berlin-Mitte. Jeans, Second-Hand-Jacket, oder jedenfalls sieht es so aus. Er kommt vom ZDF-Mittagsmagazin Unter den Linden, wo man seinem Buch 10 oder 15 Minuten gewidmet hat. War offenbar okay, er wirkt heiter oder sogar aufgekratzt. „Mein Lebensgefühl war immer: Mir ist in meinem Leben zu langweilig. Da gibt es nichts zu erzählen. Deshalb ist auch Schreiben über mich langweilig“, sagt er.
Irgendwann habe er begriffen, dass Fiktion Möglichkeiten eröffne, aus der vermeintlichen Langeweile eines normalen Lebens eine große Geschichte zu machen. Er nahm das Leben eines 1966 in Telgte geborenen Jungen aus einem kleinbürgerlich-engen Milieu (damals normal eng, aus heutiger Sicht brutal eng), der verschiedenstem sozialen Druck ausgesetzt ist. Das verband Berges mit seinen Erfahrungen als Pflegediensthelfer in der geschlossenen Psychiatrie, mit dem erwähnten Supergau, der aber viele Leute im gelebten Alltag längst nicht so durchschüttelte, wie man manchmal denken möchte – und alles kulminiert in einer verbotenen Liebe dieses Pflegers und einer Patientin.
Der Wahn ist nicht lustig
Sie ist Künstlerin, Fotografin, sie glaubt, dass der „Atomstaat“ ihre Gedanken absaugt. Die Krankheit ist gar nicht lustig, einmal schlägt sie in ihrem Wahn fast einen Betreuer tot. Der Junge hat davor nie gegen Gesetz und Ordnung rebelliert (abgesehen von einem Diebstahl bei „Ihr Platz“, bei dem er erwischt wurde), aber nun tut er etwas für sie, was für ihn einen Kontrollverlust bedeutet, der dann die Verliebtheit auslöst.
Das ist der Auslöser für seine Loslösung von dem alles beherrschenden Konformismusdruck der Law-and-Order-Gesellschaft und speziell vom Vater, der den Typus Flakhelfer-Generation repräsentiert, die knapp zu jung war, um dem Nazi-Wahn zu verfallen, aber die Folgen erlitten hat und nun auf Kleindenken, Regeln und Ball flach halten setzt.
Aber emanzipiert sich auch von der pseudo-rebellierenden Peergroup, etwa seiner Band, deren kleinster gemeinsamer Distinktions-Nenner darin besteht, dass sie Deutschrock verabscheuen. Durch diese erste Liebe (davor hat er nur ein Mädchen geküsst, allerdings ohne Zunge) kann er zugeben, dass er auch mal eine Supertramp-Phase hatte. Er wird selbstbewusster, größer, freier. Und weniger dick.
War er ein dicker Junge?
Jetzt die uncharmante Frage, aber das will man ja nun schon wissen: War Markus Berges ein dicker Junge?
„Wenn's nicht Realität gewesen wäre, hätte es mir einfallen müssen“, sagt er in den Krach des Cafe's hinein. Ein echter Berges-Satz, der sehr wahrscheinlich auch darauf verweist, was ihm sonst so eingefallen ist, was nicht „Realität“ war, aber für die gelingende Geschichte notwendig.
Also, ja, er war selbst ein dicker Junge, er wurde ständig gemobbt, er hat in seinem freiwilligen Jahr nach dem Abitur abgenommen. Aber als er zu Recherchezwecken mit alten Weggefährten in seine 80er zurücktauchte, erinnerten die sich kaum noch daran, dass er dick war. Geschweige denn an das permanente Mobbing. Es spielte womöglich für die Beziehungen eine sehr viel geringere Rolle, als er immer fürchtete. Sehr wohl allerdings dafür, das kann man nicht schönreden, wie er in Sachen Liebe bei Mädchen ankam.
Das letzte Drittel des Romans, jetzt wird es spektakulär, hat Berges mit der Hand geschrieben. Das habe er im Kopf gehabt. Es brauchte keine Technologie, um die sich entwickelnden Worte und Sätze vielfach zu überarbeiten und hin und her zu schieben. Es war alles da.
Eine den Schreibprozess betreuende Leserin sagte zu ihm: „Ich habe Angst vor einem tragischen Ende.“ Ich hatte das beim Lesen zwischendrin auch mal, Tschernobyl, Tod und so weiter, ich dachte, das würde dann viel zu fett und was hätte das dann überhaupt für eine größere Wahrheit sein sollen?
Tiefergelegter Wumms
Es wird dann ein emotionaler Wumms, aber inhaltlich tiefergelegt, ein tiefergelegtes gutes Ende in mehrfacher Beziehung. Im Herbst 1986 ist der Sarkophag über Tschernobyl gebaut, aber das interessiert hier maximal am Rande.
Der junge Mann reitet in den Sonnenuntergang, seine fetten Jahre sind vorbei, er findet das handelsübliche Abiturientengeschwätz über Atomstaat und Frieden jetzt „poplig“, Distinktion über Popbands auch. Und beim Lesen kulminiert diese besondere Stimmung, die Berges und sein co-genialer Musikchef Ekimas auch mit Erdmöbel-Songs hervorbringen können; mit der das Nicht-Sagbare einen Ausdruck bekommt und große Gefühle aufkommen, ohne in Sentimentalität abzugleiten.
Man denkt: Naja, Revolution braucht der Junge keine, aber Kegelabende und Kellerbar eben auch nicht. Der wird das schon alles okay hinkriegen. Mit seinen Eltern, mit einem Leben zwischen Verpflichtung und Freiheit, mit irgendeinem ordentlichen Beruf, mit einer anderen tollen Frau.
Ist es so gesehen doch Boomer-Literatur geworden? „Das Wort Boomer-Literatur ist schrecklich“, schreibt Berges an einem anderen Tag auf Nachfrage. Vielleicht sei er selbst heute ein „Boomer“ im Sinne von unideologisch und ziemlich pragmatisch.
„Vielleicht bin ich auch einfach nur 57 Jahre alt. Aber mein Ich-Erzähler ist jung. Und für ihn ist es, wie es für mich selbst mit 19 war: Alles ist möglich und nichts. Wirklich alles! Und vor allem nichts.“
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