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Schachweltmeister Ding in der KriseUnerklärliche Schwankungen

Knapp ein Jahr nach dem WM-Titel-Gewinn verliert Ding Liren eine Schachpartie nach der anderen. Plagen ihn Selbstzweifel?

Ding Liren helfen derzeit auch die längsten Denkpausen wenig Foto: imago

W as ist nur los mit Ding Liren? Das ist aktuell mit die größte Frage, die die Schachgemeinde beschäftigt. Auf Twitter sieht man den Chinesen in Videos durch den grauen Winterregen spazieren, die Arme an seinen schmalen Oberkörper gepresst, auf dem Weg zu einer seiner Partien, die zu spielen er momentan fast nicht in der Lage scheint.

Schauplatz dieser Tragödie ist ein Luxusressort an der deutschen Ostseeküste, wo gerade ein top besetztes Freestyle-Schachturnier ausgetragen wird. Freestyle chess, das auch 960 oder Fisher Random genannt wird, ist eine Schachvariante, in der, grob gesagt, die Figuren der hinteren Reihen durcheinandergewürfelt werden. Als Konsequenz daraus nutzt den Spie­le­r*in­nen all das Theoriewissen, das sie sich über klassische Eröffnungen angeeignet haben, nur sehr wenig, und die Stellungen werden schnell unübersichtlich und entsprechend umkämpft.

Es kommt immer wieder vor, dass auch die besten Großmeister miese Turniere spielen. Was aber Ding Liren in diesen Tagen passiert ist, fällt nicht unter diese normalen Formschwankungen. Die Vorrunde beendete er mit niederschmetternden 0,5 aus 8 Punkten auf dem letzten Platz, gegen Fabiano Caruana übersah er eine Taktik, die selbst mittelmäßige Hob­by­spie­le­r*in­nen in der Regel nicht entgeht. Es scheint unerklärlich.

Es ist kaum ein Jahr her, da war Ding Liren auf dem Höhepunkt seiner Karriere. In einem nervenaufreibenden, hochdramatisch hin- und herwogenden Match besiegte er Ian Nepomniachtchi im Kampf um die Weltmeisterschaft. Freilich ist es so, dass der Titel des Weltmeisters in diesem Jahr nicht das gleiche Gewicht zukam wie die Jahre zuvor, weil der unbestritten beste Schachspieler seiner Zeit (und vielleicht sogar aller Zeiten) Magnus Carlsen nicht angetreten war. Weltmeister im klassischen Schach zu sein, bedeutete schlicht, best of the rest zu sein.

Zu viel Trubel

Ding Liren ist eine zarte Seele, schüchtern wie ein Reh, der, wenn man ihn nach seinen Lieblingsfilmen fragt, „Disney movies“ antwortet. Er selbst hat zu mehreren Gelegenheiten betont, er hätte wohl seine Schachkarriere beendet, wenn er das Match gegen Ian Nepomniachtchi verloren hätte. Der ganze Trubel sei ihm auch schlicht zu viel.

Nach dem Titelgewinn zog er sich eine Weile aus der Öffentlichkeit zurück, um sich wieder zu sammeln; das jedenfalls ist ihm nicht gelungen. Ganz im Gegenteil, wer ihn jetzt in den Interviews gesehen hat mit einem Puls von mutmaßlich 160, könnte sich wohl kaum des Gedankens erwehren, dass da jemand steht, der Hilfe braucht.

Dings Kollege Maxime Vachier-Lagrave beschrieb neulich in einem Podcast, dass er seit seiner Corona-Infektion Schwierigkeiten habe, seinem Spiel Stabilität zu geben. An guten Tagen liefe es wie zuvor, da fühle er sich sicher; das Problem seien aber die weniger guten Tage, in denen man sich durch seine Spiele durchbeißen müsse. Ausgerechnet Vachier-Lagrave, dem seine Tendenz, schlechter aus den Eröffnungen herauszukommen als der Gegner, den Beinamen „director of the french school of suffering“ bescherte.

Vielleicht sind es aber auch gar keine extrinsischen Faktoren, die Ding Lirens Blockade verursachen; vielleicht fehlt es ihm an Selbstbewusstsein, über das seine Konkurrenten verfügen, und das gerade bei Magnus Carlsen und Ian Nepomniachtchi gerne auch einmal in Arroganz umschlägt. Vielleicht ist im Spitzensport kein Platz für zarte Seelen, nicht einmal im Schach. Das würde das aktuelle Scheitern Ding Lirens allerdings umso tragischer machen.

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