Medikamentenmangel in Deutschland: Wenn die Tabletten zur Neige gehen
Ein Medikament gegen HIV wird knapp. Die Ursachen ähneln denen anderer Fälle von Arzneimittelmangel. Für einige Patienten ist das lebensbedrohlich.
Vor wenigen Tagen schlug die Deutsche Arbeitsgemeinschaft ambulant tätiger Ärztinnen und Ärzte für Infektionskrankheiten und HIV-Medizin (DAGNÄ) Alarm. Nicht nur könnten HIV-Infektionen wieder zunehmen, warnte sie. Für HIV-Infizierte, die auf diese Tabletten angewiesen seien, bestehe sogar Lebensgefahr.
In Apotheken und HIV-Schwerpunktpraxen spitzt sich die Lage bereits seit Monaten zu. Nun sei die Situation noch schlimmer als befürchtet, heißt es von der Deutschen Arbeitsgemeinschaft HIV- und Hepatitis-kompetenter Apotheken ( DAH2KA). Über 90 Prozent der 100 HIV-Schwerpunktambulanzen bundesweit hätten das Medikament nicht mehr auf Lager. Die Gründe dafür werfen ein Schlaglicht auf den deutschen Arzneimittelmarkt.
Für einige Patienten ist das Medikament alternativlos
Das HIV-Medikament enthält die Wirkstoffe Emtricitabin und Tenofovirdisoproxil. Sie verhindern, dass das HI-Virus in Körperzellen eindringen und sich dadurch vermehren kann. Drei Gruppen von Patient*innen nehmen dieses Medikament ein. Für zwei von ihnen ist es alternativlos, für eine lebensnotwendig.
Die erste Gruppe sind HIV-negative Menschen mit erhöhtem Infektionsrisiko. Bundesweit knapp 40.000 Menschen – vor allem Männer, die Sex mit Männern haben – nehmen das Mittel im Rahmen der Präexpositionsprophylaxe (Prep) ein, um sich vor einer HIV-Infektion zu schützen. Denn eine Impfung gegen das noch immer unheilbare HI-Virus, das unbehandelt die tödliche Immunschwäche Aids auslöst, gibt es auch über 40 Jahre nach seiner Entdeckung noch nicht.
Menschen mit häufig wechselnden Sexualkontakten oder mit einer*einem noch nicht sicher eingestellten HIV-positiven Partner*in profitieren von der Möglichkeit der Prep. Die Behandlung wird täglich oder anlassbezogen durchgeführt. Seit 2019 übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten. Das Robert-Koch-Institut bewertete die Prep in einer Studie als „hoch effektiv“ für die HIV-Prophylaxe. Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil ist das einzige Medikament, das in Deutschland für die Prep zugelassen ist, und damit alternativlos. Das zeigt den Ernst der Lage.
Heribert Hillenbrand ist niedergelassener Arzt in einer Berliner HIV-Schwerpunktpraxis. Schon im Dezember hätten die Apotheken nur noch Monatspackungen ausgegeben. Täglich kämen um die fünf Patienten zu ihm, denen das Medikament für die Prep ausgeht. Er rät ihnen dann, auf die anlassbezogene Prophylaxe umzusteigen, wenn sie dafür noch genug Tabletten haben. Manche würden sich das Medikament auch im europäischen Ausland bestellen. „Es ist meine Sorge und nicht nur meine, dass die Neuinfektionen steigen, wenn die Patienten das nicht mehr regelmäßig nehmen können“, sagt Hillenbrand.
Die zweite Gruppe, die auf das Medikament angewiesen ist, sind HIV-positive Menschen, die das Medikament im Rahmen einer antiretroviralen Therapie erhalten. Zwar gibt es eine Vielzahl von Medikamenten, auf die sie ausweichen können. „Aber eine Umstellung ist aufwendig und sorgt für große Verunsicherung unter den Patienten“, sagt Hillenbrand. Über 500 Patient*innen mit HIV behandelt er in seiner Praxis, rund ein Fünftel nehme Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil im Rahmen der antiretroviralen Therapie. Für sie müsse er nun eine Alternative finden, die genauso verträglich und wirksam ist. Denn die Einnahme zu unterbrechen ist bei HIV undenkbar.
Die dritte Gruppe sind HIV-positive Menschen, die das Medikament im Rahmen einer Salvage-Therapie erhalten. Salvage heißt Rettung – letzte Rettung trifft es wohl besser. Denn bei den Patient*innen handelt es sich um Menschen, die häufig schon sehr lange mit HIV leben und Resistenzen gegen die verfügbaren Medikamente entwickelt haben.
„Nur nach langem Herumprobieren konnte hier noch eine verträgliche, wirksame Therapie bei schwerstkranken Menschen gefunden werden“, sagt Stefan Esser. Er leitet die HIV-Ambulanz am Universitätsklinikum Essen und ist Vorsitzender der Deutschen AIDS-Gesellschaft. Wenn Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil in dieser Therapie enthalten ist, dann wird ihr Ausfall lebensbedrohlich. In der HIV-Ambulanz in Essen werden laut Esser 2.000 HIV-positive Patient*innen behandelt. 30 von ihnen seien auf Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil angewiesen. „Das ist eine sehr kleine Gruppe, die aber zeigt, wie dramatisch der Mangel werden kann“, so Esser.
Anfällige Oligopole
Aber wie konnte es denn nun so weit kommen, dass das HIV-Medikament fast nirgends mehr zu bekommen ist?
Die Ursachen ähneln sich in nahezu allen Fällen von Medikamentenknappheit, die in den letzten Jahren aufgetreten sind. Wenn das Patent für ein Originalprodukt ausläuft, setzt unter den Herstellern von Generika – also von günstigen Nachahmerprodukten – ein Preiswettbewerb ein. Bei Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil heißt das Originalprodukt Truvada, das Patent des US-amerikanischen Herstellers lief 2017 aus. Eine Vielzahl von Generikaherstellern positionierte sich in einem Preiswettkampf am Markt – nur so wurde die Prep-Behandlung für viele Menschen überhaupt erschwinglich.
Mit der Kostenübernahme der Prep durch die gesetzlichen Krankenkassen wurde ein maximaler Festbetrag bestimmt, und es wurden Rabattverträge mit den Herstellern der günstigsten Arzneimittel abgeschlossen. Die Apotheken müssen diese bei Verfügbarkeit herausgeben, das drückt noch einmal die Preise.
Zum Vergleich: Eine Tablette kostet bei den günstigsten Generikaherstellern weniger als 2 Euro, beim Originalhersteller fast 30 Euro. Mehrere Hersteller zogen sich in den letzten Jahren ganz aus dem deutschen Markt zurück, andere reduzierten ihre Marktanteile deutlich. In der Wirtschaft spricht man von einem Oligopol – wenige Unternehmen beherrschen den Markt.
Und solch ein Oligopol ist anfällig. Mindestens seit Oktober und November haben zwei der günstigsten Hersteller von Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil Probleme, das Medikament herzustellen. Im Dezember meldete mit Ratiopharm auch der dritte und aktuell größte Hersteller, er könne der erhöhten Nachfrage nicht mehr gerecht werden. Zusammen bedienen diese drei Unternehmen nach Angaben von Branchenkenner*innen über 70 Prozent des Marktes.
Diese Lieferengpässe können die übrigen Hersteller nicht ausgleichen. Es wäre für sie auch ein Risiko. Denn sobald die Unternehmen, die im Rahmen von Rabattverträgen bevorzugt werden, wieder liefern können, bleiben sie auf ihrer hochgefahrenen Produktion sitzen. Den Apotheken, die diese teureren Medikamente bestellen, geht es ähnlich.
Wenn bei den Hauptanbietern also die Produktion stockt oder Lieferketten unterbrochen sind, dann gerät die Versorgung schnell in Gefahr. Denn größere Vorräte gibt es angesichts hoher Lagerkosten kaum. In einer globalisierten Wirtschaftswelt kommt es immer wieder zu Ereignissen, die die Lieferung gefährden: zu Verunreinigungen in der Herstellungskette zum Beispiel, die eine langwierige Umstellung der Produktion erfordern, oder zu Streiks von Arbeiter*innen, zu Havarien in den Fabriken, zu durch Kriege abgeschnittenen Transportwegen und nicht zuletzt zu Problemen bei einem der Grundstoffe oder beim Verpackungsmaterial.
Mangel auch in anderen europäischen Ländern
Was genau die aktuellen Produktionsprobleme bei dem HIV-Medikament ausgelöst hat, lässt sich schwer sagen. Klar ist, dass inzwischen auch andere europäische Länder einen Mangel melden. In einigen dieser Länder sind die Erlöse, die Hersteller mit diesem Medikament erzielen können, deutlich höher, was den Mangel auf dem deutschen Markt verschärfen kann.
In Deutschland überwacht das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die Versorgungslage. Laut BfArM dürften die Lieferschwierigkeiten bei Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil im Wesentlichen bis März/April andauern. Im Februar könnte sich die Lage leicht entspannen, da einzelne Hersteller planen, ihre Lieferungen zu erhöhen oder vorzuziehen. Gegenüber der taz bestätigte ein Sprecher von Ratiopharm, dem aktuell größten Anbieter, das Unternehmen könne „den nächsten Liefertermin von Anfang März auf Mitte Februar nach vorne korrigieren“.
Vom BfArM heißt es, man habe überschüssige Warenkontingente in den USA identifiziert, die importiert werden könnten. Das Bundesgesundheitsministerium kann ebenfalls Maßnahmen ergreifen, indem es offiziell einen Versorgungsmangel erklärt. Zuletzt hat es das im Dezember 2023 für salbutamolhaltige Medikamente getan. Das Minisierium wollte sich gegenüber der taz nicht dazu äußern, ob es solch eine Maßnahme plant. Man habe den Aussagen des BfArM nichts hinzuzufügen, hieß es von einem Sprecher.
Das Gesundheitsministerium hatte im vergangenen Jahr verschiedene Maßnahmen vorgestellt, um den immer wiederkehrenden Lieferengpässen zu begegnen – darunter höhere Lagermengen für kritische Medikamente und neue Vergabekriterien für Rabattverträge, bei denen bevorzugt europäische Hersteller zum Zug kommen. Kurzfristig wird das laut Branchenkenner*innen allerdings kaum Wirkung zeigen.
Ein Medikamentenmangel in solch einem sensiblen Bereich wie HIV störe das Vertrauen der Menschen ins Gesundheitssystem nachhaltig, warnte DAGNÄ-Vorstand Stefan Mauss schon im Dezember. Da hieß es noch, im Januar werde das HIV-Medikament Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil wieder geliefert. Nun hoffen alle auf den Februar.
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