Internationaler Gerichtshof: Kein Ende der Kämpfe in Gaza

Der Internationale Gerichtshof weist den Antrag auf Einstellung der Angriffe ab. Israel müsse aber Maßnahmen ergreifen, um einen Genozid zu vermeiden.

Zwie israelische Soldaten schauen ratlos in die Luft. Hinter ihnen stegt Rauch auf, sie stehen in einm Trümmerfeld

Israels Militäropera­tion in Gaza darf weitergehen, aber die Soldaten sollen weder einen Völkermord begehen noch sich gegenseitig dazu anstacheln Foto: Ronen Zvulun/reuters

Den Haag/Ramallah/Berlin taz | In einer ersten Entscheidung zum israelischen militärischen Vorgehen in Gaza hat der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag nicht, wie von Südafrika erhofft, Israel zu einer sofortigen Einstellung der Kampfhandlungen aufgefordert. Der Gerichtshof ordnete allerdings an, Israel müsse „alles in seiner Macht Stehende“ tun, um einen Völkermord in Gaza zu verhindern.

Das höchste UN-Gericht erklärte sich zudem für zuständig, über Südafrikas Klage, Israel begehe in Gaza einen Völkermord, zu entscheiden.

Die Sofortmaßnahmen, die das 17-köpfige richterliche Gremium beinahe einstimmig beschloss, sollen die Leben von Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in Gaza schützen, so Joan Donoghue, die Präsidentin. Konkret hat Israel nun dafür Sorge zu tragen, dass seine Militärs keine Taten begehen, die unter die Genozid-Konvention der Vereinten Nationen fallen. Weiterhin muss das Land Maßnahmen ergreifen, einen Genozid sowie den Aufruf dazu verhindern und bestrafen und die humanitäre Situation in Gaza verbessern. Innerhalb eines Monats muss der Gerichtshof über die ergriffenen Schritte unterrichtet werden, der diese dann Südafrika vorlegen wird.

An die Adresse der Hamas richtete der IGH den Aufruf, die verbliebenen israelischen Geiseln „sofort und bedingungslos“ freizulassen.

Südafrika ist zufrieden

Das Urteil ist bindend, allerdings verfügt der Gerichtshof nicht über Mittel, es auch durchzusetzen. Indem er Israel über das Umsetzen der Maßnahmen rechenschaftspflichtig macht, verleiht er dem Urteil dennoch Nachdruck. Die südafrikanische Regierung zeigte sich darüber zufrieden und sprach in einem Statement von einem „überzeugenden Sieg für das internationale Recht und einem Meilenstein auf Suche nach Gerechtigkeit für das palästinensische Volk“.

Bis zu einem endgültigen Urteil des Gerichtshofs dürften mehrere Jahre vergehen. Begonnen hatte der Prozess vor zwei Wochen mit der Präsentation der südafrikanischen Anklageschrift. Diese wirft Israel Genozid vor – aufgrund von „angedrohten, angewendeten, geduldeten, unternommenen sowie aktuell ausgeführten Handlungen gegen das palästinensische Volk in der Folge der Angriffe in Israel am 7. Oktober 2023“. Israel beruft sich dagegen auf sein Recht zur Selbstverteidigung und betont, die Massaker der Hamas gegen israelische Zi­vi­lis­t*in­nen erfüllten den Tatbestand des Völkermords.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) betonte in ihrer Reaktion auf das Urteil am Freitag, dass auch die Hamas an das humanitäre Völkerrecht gebunden sei und endlich alle Geiseln freilassen müsse. „Das werden wir mit aller Kraft unterstützen, ebenso die angeordnete Maßnahme an Israel, dringend mehr humanitäre Hilfe nach Gaza zu lassen“, erklärte Baerbock. Die vorläufigen Maßnahmen seien völkerrechtlich verbindlich. „Daran muss sich Israel halten.“

Ungewöhnlich scharf hatte sich Baerbock bereits zu Angriffen des israelischen Militärs auf Khan Yunis geäußert. „Auch beim Recht auf Selbstverteidigung gibt es Regeln und auch beim Kampf gegen Terroristen gilt das humanitäre Völkerrecht“, so Baerbock. Erneut forderte sie Israel auf, mehr humanitäre Hilfe nach Gaza zu lassen – und ihre Militärstrategie anzupassen. Die Menschen könnten sich nicht einfach in Luft auflösen. „Deswegen reicht ein Aufruf zum Verlassen dieser Orte nicht, sondern es braucht endlich eine humanitäre Feuerpause – auch damit endlich alle Geiseln freigelassen werden.“ Bereits Anfang Januar hatte Baerbock bei einem Besuch am ägyptisch-israelischen Grenzübergang Rafah Israel aufgefordert, mehr Hilfsgüter in den Gazastreifen zu lassen.

Enttäuschung in Ramallah

Wie schon bei der Eröffnung des Verfahrens waren vor dem Gerichtsgebäude De­mons­tran­t*in­nen beider Gruppen präsent und verfolgten das Geschehen jeweils auf eigenen Bildschirmen. Auf palästinensischer Seite zeigte sich Sprecherin Nadia Slimi zuversichtlich, dass das Urteil Gerechtigkeit für die Menschen in Gaza bringen würde. Eine Straßenecke weiter fand eine proisraelische Kundgebung statt. Dort kommentierte der Rotterdamer Nico van Noordt: „Ein Konflikt, bei der die eine Seite dich töten will, du aber leben willst, ist nicht zu lösen, denn du kannst nicht halb leben.“

In den Städten des Westjor­dan­lands, in Jerusalem und Israel waren die Straßen während der Verkündung des Richterspruchs menschenleer. Wegen starker Regenfälle, einer Kältewelle und dem Beginn des Wochenendes waren die auf palästinensischer Seite geplanten Solidaritätsveranstaltungen ausgefallen. Nur in der Stadthalle von Ramallah hatten sich einige hundert Gäste eingefunden, um unter dem Titel „Danke, Südafrika“ einer Liveübertragung aus Den Haag zu folgen.

Viele sind enttäuscht, dass die Richter in Den Haag keinen Waffenstillstand fordern. „Ich denke angesichts der Kälte an die Familien in Gaza“, sagt die Studentin Abla Saleh, die aus einem Vorort von Jerusalem nach Ramallah gekommen ist. „Nur 80 Kilometer von hier hungern sie in selbstgebauten Zelten und in diesem Moment fallen Bomben.“

Für viele Palästinenser ist allerdings schon die Tatsache, dass in Den Haag über das Vorgehen Israels verhandelt wurde, ein Erfolg. „Mir ist klar, dass Netanjahu einen Waffenstillstand nicht anerkannt hätte“, sagt Shatah Hanaysha, eine Journalistin. Aber der durch das Urteil steigende Druck der internationalen Gemeinschaft könne wenigstens die derzeitige Eskalation im Westjordanland stoppen, hofft die 26-Jährige.

„Ich wünsche mir, dass sich durch die zukünftige Überwachung durch das Gericht die Lage langsam beruhigt“, sagt Mohammad Al-Liftawi, ein Händler aus der Altstadt von Jerusalem. „Ohne Touristen sind wir bald pleite“, warnt er. „Dann wird neben dem Genozid in Gaza auch noch die Lage im Westjordanland explodieren.“

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