Zwei alte Frauen stehen vor einer Haustür

Foto: Sonja Smolenski

Holocaust-Überlebende in den USA:Die Widerständigen

Die Cousinen Aline und Lina haben sich jahrzehntelang nicht mehr gesehen. Unsere Autorin und Nachfahrin der Familie hat sie wieder zusammengebracht.

Ein Artikel von

19.12.2023, 10:47  Uhr

Sehr kurz nachdem die Welt am 7. Oktober Zeuge der Ermordung von unschuldigen Menschen durch die radikalislamische Terrororganisation Hamas wird, bejubeln Teile meiner linken Bubble – jene, die sonst unermüdlich predigen, marginalisierten Stimmen Gehör zu schenken – mit erschreckender Skrupellosigkeit eine der ältesten Formen der Marginalisierung: den blanken Hass gegen Jüdinnen und Juden.

Seitdem zerbrechen fast täglich alle Prinzipien, die in dieser Blase als unantastbar galten und über Jahre hinweg wie ein Mantra wiederholt wurden. Sie scheinen nichts mehr zu gelten, solange die Marginalisierten jüdisch sind.

Seither ist viel über das Pogrom gesagt worden. Manches würde ich am liebsten aus meinem Gedächtnis streichen, anderes hat mir geholfen, die Zeit bis heute irgendwie zu überstehen. Dazu gehört die Arbeit kluger und mutiger Menschen wie der großartigen Laura Cazés, Erica Zingher oder meiner lieben Freundin Katja Sigutina.

Während sie die richtigen Worte für ihren, für unseren Schmerz finden, verharre ich in Ohnmacht, hülle mich in Schweigen und zerbreche fast an meiner eigenen Verzweiflung über den Schulterschluss von Teilen der Linken mit Islamist*innen, die die menschenverachtenden Terrorakte als „Widerstand“ verharmlosen. Nichtsdestotrotz sitzt mir die Deadline für diesen Artikel – ausgerechnet über den jüdischen Widerstand im Nationalsozialismus in meiner eigenen Familie – im Nacken. Während ich ihn schreibe, frage ich mich: für wen eigentlich?

Was ursprünglich als Versuch gedacht war, den im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verdrängten jüdischen Widerstand während der Shoah anhand meiner Familiengeschichte nachzuzeichnen, hat nach dem 7. Oktober auf unvorhergesehene Weise eine ganz andere Dringlichkeit bekommen: Wie kann ich die Verfolgungsgeschichte und das transgenerationale Trauma meiner Familie in einer Zeit öffentlich machen, in der Teile meines vermeintlich progressiven Umfelds die Shoah relativieren und eben ausgerechnet das Wort „Widerstand“ für ihre Zwecke instrumentalisieren? Lange habe ich auf den Bildschirm meines Laptops gestarrt und überlegt, mit wem ich diese Geschichte nach dem 7.Oktober überhaupt noch teilen will.

Jedenfalls nicht mit jenem Teil der linken Bubble, der am 9. November eine performative Instagram-Story zum Gedenken an die Novemberpogrome postet und am nächsten Tag den einzigen jüdischen Staat der Welt dämonisiert, der gerade selbst ein Pogrom erlebt hat. Und auch nicht mit denjenigen, die jüdisches Leid und jüdische Erinnerungskultur für ihre Agenda missbrauchen, um andere Marginalisierte systematisch zu entrechten.

Stattdessen schreibe ich sie nun für diejenigen, deren Überleben in einer patriarchalen, antisemitischen, rassistischen Gesellschaft bereits Widerstand bedeutet und die durch die ständige Instrumentalisierung des Begriffs erneut Gewalt erfahren. Ich schreibe sie für die Frauen in dieser Geschichte, die mir ihre Geschichte anvertraut haben.

Jene Geschichte beginnt vor Jahren, als ich während meiner Schulzeit zum ersten Mal davon hörte, dass die Cousine meiner Oma nach 1945 verloren gegangen sei. Damals bat mich unser Geschichtslehrer als Einzige in der Klasse einen Vortrag über „die spannende Verfolgungsgeschichte“ meiner Familie zu halten. Zu Hause befragte ich meine Mutter, die mir von der verschollenen Aline und ihrem Vater erzählte, der im französischen Widerstand aktiv gewesen ist.

Eine verschollene Cousine

Mich ließ Alines Geschichte fortan nicht los. Wie durch ein Wunder hatte die damals Siebenjährige den Holocaust in Frankreich überlebt. Ihre Mutter Esther, die in den 1920er Jahren aus der Sowjetunion nach Frankreich geflohen war, starb, ihr Vater Yves wurde wegen seiner Tätigkeit in der Résistance 1944 von der Gestapo erschossen. Aline kam in die Obhut von Yves’ Schwester, die sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs adoptierte.

Gemeinsam emigrierten sie in die USA. Das war die letzte Information, die meine Familie hatte. Wo Aline lebte oder ob sie überhaupt noch lebte, wusste jahrzehntelang niemand so genau. Nicht dass sie es nicht gerne gewusst hätten, aber der Kalte Krieg und die Sowjetunion hinderten sie daran, in den USA nach ihr zu suchen. Und als der Kalte Krieg vorbei war?, fragte ich meine Oma, als wir uns einmal über Aline unterhielten. Wo hätten sie denn anfangen sollen zu suchen?, entgegnete sie. Was ihnen damals fehlte, war eine Suchmaschine, die Möglichkeiten des Internets, mit der sie Aline hätten finden können.

Obwohl mich Alines Geschichte jahrelang begleitete, kam ich nicht auf die Idee, selbst nach ihr zu suchen. Bis ich im Jahr 2020 ein Interview mit meiner Großmutter führte, die als Kind ebenfalls den Holocaust überlebt hatte. Während des Interviews fragte ich sie nach ihrer verlorengegangenen Cousine, die genau wie sie 1937 geboren wurde und demnach mittlerweile 83 Jahre alt sein musste. Meine Großmutter erzählte mir alles, was sie über Aline wusste. Ihr Vater Yves war in Jaffa als Sohn sephardischer Juden geboren worden, er kam nach Frankreich, um Medizin zu studieren. Dort lernte er Alines Mutter Esther kennen.

Eine historische Aufnahme von einem Paar

Alines Eltern Esther und Yves haben sich in Frankreich kennengelernt Foto: privat

Sie erzählte, dass sich ihr Vater ab 1941 in der Résistance engagierte. Alines Mutter starb 1940, im Alter von 29 Jahren, an einer Krankheit, die heutzutage hätte geheilt werden können. Als wir auflegten, gab ich „Yves de Boton“ in die Suchmaschine ein, die meiner Großmutter damals fehlte – und stieß auf einen Artikel, der die nächsten Jahre meines Lebens bestimmen sollte.

Drei Jahre später, im September 2023, sitze ich in einem schönen alten Backsteinhaus in einer typischen US-amerikanischen Vorstadt irgendwo in New Jersey. Ich bin zu Gast bei der 96-jährigen Lina Mitchell und ihrer Familie. Während ihr Urenkel durch das helle Wohnzimmer krabbelt, deckt Lina mit ihrer Tochter Alice den großen runden Tisch und hört den Gesprächen ihrer Gäste zu. Aufmerksam gleitet ihr warmer, sanfter Blick durch den Raum.

Anlass für das gemeinsame Essen ist der Besuch von Linas Cousine Aline. Das letzte Mal haben sich die beiden in den 1950er Jahren gesehen. Meine Suche nach Aline hat auch die beiden Cousinen wieder zusammengebracht. Und dafür gesorgt, dass sich an diesem Tag vier Generationen unter einem Dach versammeln. Alines Familie ist aus verschiedenen Teilen der USA angereist, um Linas Familie und mich, den Gast aus Deutschland, zu sehen.

Nun sitzt Aline, die verlorene Cousine, mir an diesem Septembertag nach drei Jahren E-Mail-Kontakt zum ersten Mal persönlich am Tisch gegenüber. Sie erzählt, wie sie Lina nach dem Krieg in Kalifornien wiedertraf. Aline war damals 18 Jahre alt. Es war das einzige Treffen, die beiden verloren sich aus den Augen. Aline wusste als junge Frau den Kontakt zu ihrer Familie noch nicht zu schätzen. Lina, die für ihre 96 Jahre ausgesprochen fit ist, sitzt lächelnd daneben. Sie wirkt zufrieden, dass sie jetzt wieder zusammengefunden haben.

Im September 1942 wird Linas Mutter vor ihren Augen mitten in der Nacht von Polizisten abgeholt und deportiert.

Auch Lina hat die Shoah überlebt und ist eine Cousine meiner Großmutter, von der ich bis zu meiner Suche nach Aline kaum etwas wusste. Das lag nicht zuletzt daran, dass Linas Eltern ebenfalls aus der Sowjetunion nach Paris ausgewandert sind, als sie zwei Jahre alt war. Zehn Jahre später marschieren die Nazis in Frankreich ein.

Ihr Vater wird als Sowjetbürger gleich zu Beginn des Krieges deportiert. Lina lebt zunächst in Paris, später flieht sie mit ihrer Mutter nach Südfrankreich. Auch dort sind sie nicht lange vor dem antisemitischen Verfolgungswahn der Nationalsozialisten sicher. Sie müssen einen gelben Stern an ihre Jacken anbringen und sich verstecken. Im September 1942 wird auch Linas Mutter vor ihren Augen mitten in der Nacht von Polizisten abgeholt und deportiert.

Lina überlebt nur, weil sie sich gegen Ende des Krieges an einem Ort in den französischen Alpen verstecken kann, der früher als Kinderferienlager diente und während des Krieges zum Treffpunkt französischer Widerstandskämpfer wurde, auch als Maquis bekannt. Um sich dort verstecken zu können, muss sie als Gegenleistung schwere körperliche Arbeit verrichten.

Als der Krieg vorbei ist, macht sich Lina auf die Suche nach ihren Eltern. Nach einigen Wochen findet sie heraus: Ihr Vater und ihre Mutter sind in Auschwitz ermordet worden. Ihre Großeltern, die schon vor dem Krieg nach New York ausgewandert waren, überreden sie, Frankreich zu verlassen und zu ihnen in die USA zu kommen. 1947, im Alter von 19 Jahren, wandert Lina schließlich aus. Jahrzehntelang kann sie nicht darüber sprechen, was ihr in Europa widerfahren ist. Keine Worte können den Schmerz beschreiben, den die zierliche Frau erlitten hat. Erst 30 Jahre später schreibt sie auf, welche Schrecken sie erleiden musste.

Stories I never told you“, steht auf den Memoiren, in denen Lina zum ersten Mal über ihre eigenen Erlebnisse während der Shoah spricht. „Ich habe es für meine Enkelkinder gemacht, aber es war auch eine Art Therapie für mich“, erzählt sie. Auch ihre Tochter Alice wusste lange Zeit nicht genau, was mit ihr geschehen war, bis sie die Memoiren ihrer Mutter in den Händen hielt. „Wahrscheinlich wollte sie mich schützen“, sagt Alice, als wir allein sind. „Ich glaube nicht, dass das funktio­niert hat.“ Jahrelang habe sie Albträume gehabt, dass die Deutschen eines Tages kommen und sie holen würden.

Beim Essen fragen sie mich, wie es heute mit dem Antisemitismus in Deutschland aussieht. „Schrecklich“, schießt es mir sofort durch den Kopf. Ich denke an den rechtsterroristischen Anschlag in Halle 2019, an die holocaustrelativierenden Corona-Demonstrationen, an die diversen Schlussstrichdebatten, die es seit 1945 gibt, und an die bewachten Synagogen im Land.

Als ich zu Besuch bei Lina und Alice bin, bestimmt auch gerade die Debatte über Hubert Aiwanger die Nachrichten in Deutschland. Aiwanger, Chef der Freien Wähler in Bayern und stellvertretender Ministerpräsident, haben die antisemitischen Pamphlete aus seiner Schulzeit – oder „Jugendsünden“, wie man in Bayern sagt – eher noch populärer gemacht. Ein paar Wochen später, bei der Landtagswahl im Herbst, erreichten sie ein Rekordergebnis. „Schwierig“, antworte ich stattdessen, während mich Lina und Aline erwartungsvoll anschauen.

Wobei ich versuche, meine Erfahrungen als Jüdin in Deutschland nicht herunterzuspielen – und gleichzeitig meine Worte mit Bedacht zu wählen, um niemanden im Raum zu retraumatisieren. Dass genau einen Monat später, am 7. Oktober, die antisemitische Gewalt weltweit explodieren und das Pogrom der radikalislamischen Hamas als „Befreiungskampf“ bezeichnet werden würde, ahnen wir damals noch nicht.

Lina steht auf, geht in ihr Zimmer und kommt mit einem Bild in der Hand zurück: „Das ist Suzy.“ Es ist ein Schwarzweißfoto von einem kleinen Mädchen. Lina stockt. Kein Tag sei vergangen, an dem sie nicht an sie gedacht habe. Bevor sie sich in den Alpen versteckt, soll Lina 1942 als 15-Jährige mit der fünfjährigen Suzy, deren Eltern deportiert wurden, nach Portugal fliehen, um von dort aus ein Schiff in die USA zu nehmen. Der Fluchtversuch scheitert, sie müssen nach Frankreich zurückkehren. Nach dem Krieg erfährt Lina, dass auch Suzy in Auschwitz ermordet wurde.

„Ich war damals auch fast so alt wie Suzy“, sagt Aline sichtlich bewegt, die die Geschichte ihrer Cousine Lina zum ersten Mal hört. Obwohl Aline und Lina zehn Jahre Altersunterschied trennen, haben sie den Krieg ähnlich überlebt: Aline versteckte sich gemeinsam mit der Schwester von Yves und deren Ehemann auf verschiedenen Bauern­höfen in Frankreich. Um Aline zu schützen, verschweigen die beiden ihr bis zum Kriegsende, dass sie Jüdin ist.

Es gibt kein richtiges oder falsches Traumata

Als ich drei Jahre zuvor im Internet den Artikel über Alines Vater, Yves de Boton, finde, geht alles ganz schnell. Die Autorin des Artikels, Rachel Hall, ist Alines Tochter. Rachel ist Schriftstellerin und hat einen Roman über die Geschichte ihrer Mutter geschrieben. Sie ist heute auch gekommen. Bei meinen Recherchen bin ich auch auf einen Artikel von Rachel gestoßen, in dem sie über ihre jahrelangen Albträume schreibt, die sich kaum von denen der Tochter von Lina, Alice, unterscheiden. Rachel sagt, sie habe immer gedacht, das läge daran, dass ihre Mutter so früh mit ihr darüber gesprochen habe. Alice erzählt, dass sie unter Albträumen gelitten habe, weil sie eben nicht genau wusste, was mit ihrer Mutter geschehen war.

Mir wird bewusst, dass transgenerationale Traumata weitergegeben werden, ob man darüber spricht oder nicht. Mir wird auch klar, dass die Überlebenden der Shoah alle unterschiedliche Wege haben, mit dem Trauma umzugehen. Es scheint kein „richtig oder falsch“ zu geben, weil das, was ihnen angetan wurde, an sich falsch ist.

Während Lina nie über das gesprochen hat, was ihr widerfahren ist, hat Aline schon in jungen Jahren damit begonnen, an US-amerikanischen Schulen Vorträge über ihre Geschichte und die Geschichte ihres Vaters Yves de Boton zu halten. Yves hatte sich bereits vor dem Krieg in verschiedenen antifaschistischen Bewegungen in Paris politisch engagiert, während er Medizin studierte. Ab 1941 schloss er sich der Résistance an. Als Regionalchef des Geheimdiensts war er unter anderem für die Kommunikation mit dem damaligen Präsidenten des „Freien Frankreichs“, Charles de Gaulle, zuständig. Dieser organisierte den französischen Widerstand aus dem Exil in Großbritannien.

Männer in den Uniformen der Résistance

Alines Vater, Yves de Boton (Mitte), schloss sich 1941 der Résistance an Foto: privat

Ab 1942 war Yves Mitbegründer der Befreiungsbewegung Mouvement Libération und ging nach Lyon, wo er zum Stellvertreter des Widerstandskämpfers, Dichters und Journalisten René Lay­naud wurde. Nach der Verhaftung und Ermordung von Laynaud im April 1944 übernahm de Boton die Leitung der Gruppe als Kommandant. Am 1. August 1944 wurden Yves und 28 weitere Wi­der­stands­kämp­fe­r*in­nen seiner Gruppe in Lyon von der Gestapo verhaftet. Später stellte sich heraus, dass sie von einer Französin verraten wurden, die sich der Gruppe einige Monate zuvor angeschlossen hatte.

Sie selbst hatte eine Affäre mit einem Gestapo-Offizier und wurde nach Kriegsende als Nazi-Kollaborateurin verurteilt. Yves kommt ins berüchtigte Gefängnis Montluc, wo er gefoltert wird. Am 20. August 1944 wird Yves im Morgengrauen auf Befehl von Klaus Barbie, auch der Schlächter von Lyon genannt, zusammen mit etwa 120 weiteren Gefangenen, darunter viele jüdische Widerstandskämpfer*innen, in das Gefängnis Saint-Genis-Laval verlegt.

Dort werden sie von deutschen Soldaten und französischen Helfern der Gestapo in ein leerstehendes Haus des Aufsehers gebracht und mit Maschinengewehren hingerichtet. Anschließend sprengen sie das Haus. Aline erzählt mir, dass Zeit­zeu­g*­in­nen berichteten, wie die deutschen Soldaten zur „Feier des Tages“ vor dem Schauplatz eine Flasche Champagner aufmachten. Nur fünf Tage später, am 25. August 1944, befreien die Alliierten Paris.

Yves de Boton wird in Saint-Genis-Laval beigesetzt. Für seinen Kampf gegen den Nationalsozialismus erhielt er posthum den Titel „Mort pour la France“, zu Deutsch „Für Frankreich gestorben“, sowie das Kriegskreuz, die Widerstandsmedaille und die Ehrenlegion. Diejenigen Ka­me­ra­d*in­nen des Widerstands, die überleben, schrei­ben ein Buch zu Ehren von Yves: „La vie et la mort de Yves de Boton“. Aline übersetzt es später ins Englische.

Ein Kind mit seiner Puppe auf einem Schiff

Die neunjährige Aline bei der Überfahrt in die USA 1947 Foto: privat

Aline ist sechs Jahre alt, als ihr Vater ermordet wird. Nach dem Krieg, 1946, reist sie mit der Schwester von Yves und deren Mann nach Palästina, um den Rest von Yves’ Familie kennenzulernen. Danach wandern sie in die USA aus. Der Mutter von Yves wird bis zu ihrem eigenen Tod verschwiegen, dass ihr Sohn ermordet wurde. Zu groß ist die Angst der Familie, dass die gerade zur Witwe gewordene Frau den Tod ihres einzigen Sohnes nicht verkraften würde. Auch die inzwischen neunjährige Aline muss vor ihr so tun, als sei ihr Vater noch am Leben.

Sie erzählt mir, dass sie noch Jahre später, während ihres Studiums an der Universität von Berkeley, manchmal glaubt, ihren Vater in Männern wiederzuerkennen, die ihm ähnlich sehen. Die Geschichte ihres Vaters hat ihren Lebensweg geprägt, sie ist eine Art Kompass für Alines Leben. Sie selbst engagiert sich gegen Rassismus und Antisemitismus. Als ich ihr erzähle, dass in Deutschland sehr wenig über den jüdischen Widerstand gesprochen wird, während Sophie Scholl und Claus Graf von Stauffenberg, die beide zunächst An­hän­ge­r*in­nen der NSDAP waren, Na­tio­nal­hel­d*in­nen sind, ist sie erstaunt.

Wenig bekannter jüdischer Widerstand

Dieses historische Ungleichgewicht fällt schon bei einer einfachen Google-Suche auf: Sucht man bei Google nach „jüdischem Widerstand“, so erhält man 378.000 Ergebnisse in deutscher Sprache, während das Stichwort „deutscher Widerstand“ mehr als 8,3 Millionen Ergebnisse liefert. Auf Englisch findet man unter „Jewish Resistance“ mehr als 42 Millionen Treffer.

Auch die deutsche Wikipedia ist exemplarisch dafür, wie wenig Platz jüdischer Widerstand im deutschen Erinnerungsdiskurs einnimmt: Es gibt keinen eigenen Artikel zum „jüdischen Widerstand“, stattdessen taucht er in einem kurzen Unterkapitel zum Holocaust auf. Dabei gab es überproportional mehr jüdischen Widerstand als Widerstand von nichtjüdischen Menschen, vor allem in Deutschland, auch wenn dies heute gerne anders dargestellt wird.

Laut einer Umfrage der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft glaubt jeder Fünfte in Deutschland, dass seine Vorfahren während des Zweiten Weltkriegs „potenziellen Opfern“ geholfen haben. Tatsächlich waren es weniger als 0,1 Prozent. Wenig bekannt ist dagegen die Herbert-Baum-Gruppe, eine jüdisch-kommunistische Widerstandsgruppe aus Berlin, die Flugblätter und Untergrundzeitungen herausgab, jüdische Zwangs­ar­bei­te­r*in­nen unterstützte und Jüdinnen und Juden half, unterzutauchen, um ihrer Deportation zu entgehen.

Auch dass Tausende von Jüdinnen und Juden, die sich in ganz Europa versteckt hielten, am Partisanenkrieg gegen die Deutschen teilnahmen, ist nur wenigen bekannt. Jüdische und nichtjüdische Par­ti­sa­n*in­nen planten Anschläge auf das Eisenbahnnetz in Europa, um die Züge aufzuhalten, mit denen die Menschen in die Todeslager deportiert wurden. Insgesamt wurden so im Jahr 1943 rund 11.000 Gleise gesprengt, 9.000 Züge zum Entgleisen gebracht und 40.000 Waggons zerstört. Schätzungen von His­to­ri­ke­r*in­nen zufolge waren europaweit bis zu 1,5 Millionen Jü­din­nen*­Ju­den am Partisanenkampf und am regulären militärischen Kampf gegen die NS-Herrschaft beteiligt.

Zum Abschied schenkt mir Aline das Buch „They fought back – the story of jewish resistance in Nazi Europe“, von Yuri Suhl.

Als ich nach dem 7. Oktober mit Lina und Aline per Telefon spreche, eint sie die Sorge um den wachsenden Hass gegenüber Mus­li­m*in­nen und Jü­din­nen*­Ju­den weltweit. Das kennen sie schon, sagen beide. Aber es mache ihnen trotzdem Angst. Lina äußert auch ihre Bedenken über meinen Text: Jetzt sei nicht der richtige Zeitpunkt dafür, um mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen, sagt sie. Die Vorstellung, dass die 96-Jährige, die 30 Jahre lang nicht über das sprechen konnte, was ihr während der Shoah widerfahren ist, heute wieder Angst haben muss, ihre Geschichte zu erzählen, erschüttert mich. Trotzdem schreibe ich diesen Artikel zu Ende. Für sie und Aline – damit die Geschichten, die sie uns anvertraut haben, niemals vergessen werden.

Diese Recherche ist im Rahmen des Transatlantic Media Fellowship der Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt worden.

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